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Sachbücher
Kritischer Blick auf die "Spiegel"-Bestsellerliste

Das letzte Werk von Peter Scholl-Latour, die gelungene Interview-Sammlung von Giovanni di Lorenzo und ein Buch, das auf den Nachttisch der Kanzlerin gehört: Denis Scheck kommentiert die aktuelle "Spiegel"-Bestsellerliste Sachbuch.

Von Denis Scheck | 21.11.2014
    Platz 10) Giovanni di Lorenzo: "Vom Aufstieg und anderen Niederlagen"
    Kiepenheuer & Witsch, 352 Seiten, 18,99 Euro
    Dass es mitunter eher die einfachen als die komplexen Fragen sind, die einen Menschen öffnen, lässt sich aus diesem gelungenen Interviewbuch lernen. Die meisten Interviewpartner di Lozenzos haben zum Zeitpunkt der Gespräche eine Niederlage oder gar mehrere hinter sich. Doch ob bei Boris Becker, Margot Käßmann oder Karl Theodor zu Guttenberg, nie läuft di Lorenzo Gefahr, zum aufs Herausquetschen von Emotionen spezialisierten Witwenschüttler zu werden. Eine schöne Erdung erfahren diese Gespräche mit Prominenten durch das erste Interview mit einer Auschwitz-Überlebenden, die erklärt, sie mache ihr Urteil über Menschen von dem Gedankenspiel abhängig, wie sich diese, "benommen hätten, wenn sie mit mir in einer Zelle gesessen hätten". Ein überzeugender Maßstab.
    Platz 9) Ferdinand von Schirach: "Die Würde ist antastbar"
    Piper, 144 Seiten, 16,99 Euro
    Berühmt geworden ist der Anwalt Ferdinand von Schirach durch seine fiktionalen Texte über Verbrechen in Deutschland. Stringenter und gedankenreicher erscheinen mir seine journalistischen Gelegenheitsarbeiten etwa über Frauen in Justiz und Medien und warum die Wirklichkeit dem Schwarzweißdenken widerspricht.
    Platz 8) Charlotte Link: "Sechs Jahre"
    Blanvalet, 320 Seiten, 19,99 Euro
    Ein Buch, das einem die Tränen in die Augen treibt und doch nicht von einem verlangt, sein Hirn auszuschalten: das ist etwas Neues im Werk von Charlotte Link. In "Sechs Jahre" schreibt sie von ihrer Schwester Franziska, die gerade mal 46-jährig an den Folgen einer Krebserkrankung stirbt. Indem die Autorin weder sich noch uns, ihre Leser, schont, erreicht uns sowohl die Klage um die tote Schwester als auch die Empörung angesichts der Unmenschlichkeiten in unserem sogenannten Gesundheitssystem.
    Platz 7) Christian Kracht, Helge Malchow (Hrsg): "Leitfaden für britische Soldaten in Deutschland 1944"
    Deutsch von Klaus Modick, Kiepenheuer & Witsch, 160 Seiten, 8 Euro
    1944 verfassten Deutschlandexperten im britischen Außenministerium eine Handreichung für ihre demnächst in Nazi-Deutschland einmarschierenden Soldaten mit dem Ziel, diesen ein Bild von ihrem so gefährlich ähnlichen Kriegsgegner zu vermitteln. Im Abstand von 70 Jahren gelesen, entpuppt sich die kleine Schrift als grandiose Meditation darüber, was Deutschsein ausmacht.
    Platz 6) Thomas Piketty: "Das Kapital im 21. Jahrhundert"
    Deutsch von Ilse Utz und Stefan Lorenzer, C.H. Beck, 816 Seiten, 29,95 Euro
    Warum Demokratie und Frieden durch die zunehmende Konzentration der Vermögen in den Händen weniger bedroht sind, untermauert der französische Ökonom Thomas Piketty durch eine beeindruckende Datenfülle, die bis ins 18. Jahrhundert zurückreicht.
    "Der Prozesss der Akkumulation und Verteilung der Vermögen birgt starke Kräfte, die auf Divergenz oder zumindest auf eine sehr große Ungleichheit hinwirken", schreibt Thomas Piketty, doch nicht ohne hinzuzufügen: "Man kann sich durchaus eine Politik und entsprechende Institutionen vorstellen, die dieser unerbittlichen Logik entgegenwirken – wie etwa eine weltweite progressive Kapitalsteuer." Dieses Buch gehört auf den Nachttisch der Kanzlerin.
    Platz 5) Udo Ulfkotte: "Gekaufte Journalisten"
    Kopp, 336 Seiten, 22,95 Euro
    Ganz bei sich ist diese für die übelste Version des deutschen Stammtischs
    geschriebene Tirade eines gekränkten und verängstigten Kleinbürgers in Sätzen wie:
    "Wie kann es sein, dass unsere Leitmedien die massenweise Zuwanderung aus allen möglichen Ländern auch weiterhin als 'Bereicherung' preisen, obwohl die Masse der Bevölkerung doch lieber heute als morgen die Grenzen für bestimmte Migranten schließen möchte?"
    Mitunter stimmte mich dieser Amoklauf in Buchform aber auch durchaus nachdenklich.
    "Heute kämpfen viele Journalisten und Verlagshäuser ums nackte Überleben", so Udo Ulfkotte auf Seite 214. Dumm nur, dass er auf Seite 65 ein Kapitel überschreibt mit:
    "Wie Journalisten ihre Villen in der Toskana finanzieren."
    Hallo, Deutschlandfunk! Klopf, klopf, jemand zuhause? Hört mich jemand? Wir müssen dringend reden! Wo ist meine Villa in der Toskana? Oder wenigstens ein Reihenhäuschen? Eine Eigentumswohnung? Ruft! Mich! An!
    Platz 4) Wilhelm Schmid: "Gelassenheit"
    Insel, 118 Seiten, 8 Euro
    Allen ohne Villa in der Toskana empfehle ich dieses vollkommen unaufgeregte philosophische Brevier. Einsichten wie "Jede Erfahrung jedes Einzelnen ist aus der Sicht des Ganzen von Bedeutung" machen Wilhelm Schmid zum Straßenfußballer des Geistes.
    Platz 3) Heribert Schwan und Tilman Jens: "Vermächtnis: Die Kohl-Protokolle"
    Heyne, 256 Seiten, 19,99 Euro
    Ich habe mich zwar durchaus am Klatschwert dieses Buchs ergötzt, muss aber bekennen, dass ich die Umstände dieser Veröffentlichung genauso schäbig finde wie die darin genüsslich zitierten Watschen etwa für Angela Merkel, Helmut Mehdorn oder den englischen Prinzgemahl Philipp. Wer als Journalist ein Interview führt, hat selbstverständlich die Rechte an diesem Gespräch. Wer jedoch als Biograf einen Vertrag mit einem Verlag eingeht und dafür Zugang zum Biografierten erhält, der ist in meinen Augen in einer anderen Rechtsposition. Einmal aber ist Heribert Schwan in diesem Buch durchaus auf Höhe seines Gegenstands, nämlich wenn er schreibt:
    "Ein Ghostwriter, ein Auftragsschreiber im Dienste der Macht verinnerlicht die Züge seines Alter Ego, ohne dies selbst zu bemerken."
    Platz 2) Peter Scholl-Latour: "Der Fluch der bösen Tat"
    Propyläen, 368 Seiten, 24,99 Euro
    Lügen und Widersprüche in der Nordafrika- und Orientpolitik des Westens analysiert niemand schärfer als der in diesem Jahr verstorbene Peter Scholl-Latour. Ein letztes Mal brilliert der stupend gebildete Scholl-Latour in diesem herausragenden Buch mit Exkursen in die Geistesgeschichte der islamischen Welt, verquickt mit packenden Reiseeindrücken und Zeichnungen der intellektuellen Physiognomien der Mächtigen. Peter Scholl-Latour war etwas sehr Seltenes: ein Besserwisser, der es meistens tatsächlich besser wusste.
    Platz 1) Hape Kerkeling: "Der Junge muss an die frische Luft"
    Piper, 320 Seiten, 19,99 Euro
    Hape Kerkeling im Kino, auf der Bühne oder vor der Fernsehkamera ist ein Titan. In seinen Büchern aber verzwergt er sich auf bedauerliche Weise. So anrührend die Schilderung des Suizids seiner Mutter ist, mir sind Einblicke ins eigene Seelenleben von der Sorte:
    "Der einfache Krieger versteht es, seine Kraft zu bündeln und sie vollständig auf ein Ziel auszurichten. In diesem Sinne bin ich ein astrologischer Schütze wie aus dem Bilderbuch"
    in einer Autobiografie einfach zu unterkomplex. Dieses Buch wird sich verkaufen wie geschnitten Brot. Mir aber ging es auf den Keks.