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Über den Aufstieg des IS

Die Terrormiliz Islamischer Staat kontrolliert inzwischen nicht nur große Gebiete im Irak und Syrien, sondern hat mittlerweile Ableger in weiteren Ländern. Die Journalisten Christoph Reuter und Rainer Hermann haben sich mit den Dschihadisten und ihrem Aufstieg beschäftigt - auf ganz unterschiedliche Weisen.

Von Jan Kuhlmann | 29.06.2015
    Das Foto stammt von der Gruppe Albaraka News, die den Dschihadisten nahe steht. Es zeigt mutmaßliche Kämpfer des IS, die nahe der Grenze zwischen Syrien und dem Irak Stellung beziehen.
    Das Foto stammt von der Gruppe Albaraka News, die den Dschihadisten nahe steht. Es zeigt mutmaßliche Kämpfer des IS, die nahe der Grenze zwischen Syrien und dem Irak Stellung beziehen. (picture alliance / dpa - Albaraka News)
    Wer die Grenze nach Syrien überquert, riskiert sein Leben. Die Strecke von der türkischen Stadt Gaziantep ins nordsyrische Aleppo etwa nennen die Rebellen "Todesroute" - weil Anhänger des syrischen Regimes wahllos mit Raketen auf Fahrzeuge schießen. Gar nicht zu reden von der Gefahr, Extremisten in die Hände zu fallen. Christoph Reuter, "Spiegel"-Reporter und Buchautor, hat sich trotzdem immer wieder auf den Weg nach Syrien und in die Rebellengebiete gemacht. Sein Buch über die Terrororganisation Islamischer Staat liest sich über weite Strecken so spannend wie ein Thriller. Nur dass Reuter keine Fiktion, sondern eine brutale Realität beschreibt. Er zerstört das weitverbreitete Bild, dass es sich beim IS um eine wilde Horde handelt. Vielmehr agiere die Miliz nüchtern und strategisch, warnt er.
    "Zerlegt man den kometenhaften Aufstieg des IS ab 2012 in einzelne Schritte (...) so offenbart sich das hochflexible, präzise eingesetzte Strategiearsenal einer Organisation, die Fanatismus als Methode der Mobilisierung einsetzt, wechselnde Zweckallianzen auch mit erklärten Feinden eingeht und dabei äußerst rational agiert. Scheinbar mühelos gegensätzliche Elemente vereinend, passt sich der IS stets aufs Neue an seine Umgebung an, tritt auf wie ein mutierender Virus."
    Recherche-Meisterleistung
    Reuters Buch ist eine Recherche-Meisterleistung. Er hat mit unzähligen Rebellen und anderen Akteuren gesprochen, die mit der Terrormiliz zu tun hatten. Wie keinem anderen Autor gelingt es ihm, den IS, seine Strategie und Methoden zu beschreiben. So stieß er in Syrien auf die Aufzeichnungen des IS-Anführers Haji Bakr, der bis ins Detail den Plan zur IS-Machtübernahme austüftelte.
    "Er skizzierte die Verwaltungsstruktur eines Staates bis auf Ortsebene, erstellte Listen zur schleichenden, unbemerkten Infiltration von Dörfern, entwarf Zuständigkeiten, wer wen überwachen solle. Mit Kugelschreiber zeichnete er die Befehlsketten des Sicherheitsapparates auf Briefpapier. (...) Was Haji Bakr entwarf und was in den folgenden Monaten erstaunlich akkurat umgesetzt wurde, war kein Glaubensmanifest, sondern der technisch präzis entworfene Bauplan für einen 'Islamischen Geheimdienst-Staat'. Ein Stasi-Kalifat."
    Laut Reuter ist der IS längst von alten Kadern der irakischen Baath-Partei übernommen worden - also von Anhängern des früheren Diktators Saddam Hussein, darunter viele geschasste Offiziere der Armee. So fiel es den IS-Kämpfern leicht, das nordirakische Mossul einzunehmen, eine Hochburg Saddam-loyaler Kräfte. Auch der Sturm auf die Millionenstadt sei umfänglich geplant worden, schreibt Reuter.
    "Während eine kleine Vorhut von außen angriff, schlugen die Schläferzellen im Inneren zu, strömten aus ihren konspirativen Quartieren, wo sie zuvor mit Waffen, Unterkunft, selbst Papieren versorgt worden waren, und beteiligten sich an den Kämpfen. Sie besetzten neuralgische Punkte, leiteten die Ankommenden durchs Gewirr der Stadt. (...) Als die schwarzen Banner mit dem weißen Schriftzug schließlich am Mittwoch, dem 11. Juni, von den Autobahnbrücken und höchsten Gebäuden der Stadt wehten, herrschte in Mosul Partystimmung."
    Leben im "Kalifat"
    Besonders interessant lesen sich Reuters Passagen über das Leben im selbst ernannten "Kalifat". Im Reich des IS drehe sich alles um zwei Kernbegriffe: Kontrolle und Gewalt. "Nordkorea auf Arabisch" nennt Reuter die IS-Herrschaft. Rauchen, Musik, farbige Kleidung, Jeans, Fußball im Fernsehen - all das ist bei den Dschihadisten verboten. Verstöße gegen die schikanösen Regeln würden mit Peitschenhieben oder Schlimmerem bestraft. Doch gerade in diesem Kontrollwahn sieht Reuter die Saat für den Niedergang des IS.
    "Auf lange Sicht sind es solche Symbolhandlungen der völligen Unterwerfung, wie der IS sie einfordert, die zum Untergang dschihadistischer Herrschaftsexperimente führen. Nicht als Grund, eher als Auslöser, weil solch eine Herrschaft derart unerträglich wird, dass Leute rebellieren, weil sie durchdrehen, einfach nichts mehr zu verlieren haben. Kluge Diktaturen lassen ihren Untertanen ein Privatleben."
    Zugleich versiegten die Einnahmequellen des IS, schreibt Reuter. Das mythisch aufgeladene Heilsversprechen eines islamischen Kalifats, die Dividende, die die IS-Anhänger erwarteten, könne die Miliz langfristig nicht einlösen.
    "Der IS lebt von Bedürfnissen, die er nicht dauerhaft befriedigen kann. Doch bis dieses Ungleichgewicht zu seinem Sturz führt, kann es lange dauern. Es ist wohl diese Desillusionierung, die irgendwann als kathartische Langzeitwirkung übrig bleiben wird vom 'Kalifat' (...) Sie wird von innen kommen, ebenso wie ein wirklicher Untergang des IS nur von innen kommen kann, nicht durch Angriffe von außen."
    Betrachtung der langen Entwicklungslinien der Region
    Auch der Journalist Rainer Hermann, langjähriger Nahost-Korrespondent der "FAZ", sieht kein schnelles Ende der Terrormiliz. Sein Buch über die Extremisten unterscheidet sich sehr grundsätzlich von Reuters Band. Hermanns Analyse fällt deutlich knapper und thesenhafter aus. Er betrachtet die langen Entwicklungslinien der Region, um die Ursachen für den Aufstieg des IS zu ergründen. Seine Hauptthese: Das Versagen der arabischen Staaten führte zu ihrem Zerfall.
    "Die Staaten der arabischen Welt hatten sich (...) zwar Merkmale und Institutionen von Staaten zugelegt, etwa Verfassungen, Justiz und Parlamente; sie blieben aber die Fassade für die Herrschaft einer Elite. Die Staaten dieser Eliten versagten jedoch bei den wichtigsten Aufgaben: Sie schlossen zu viele von jeglicher Teilhabe aus und waren daher keine gesellschaftliche Friedensordnung; auch boten sie kein Netz sozialer Solidarität. Die Proteste des Jahres 2011 waren ein Aufbegehren gegen dieses Staatsversagen. Und sie stießen einen Staatszerfall an."
    Alte Strukturen brachen zusammen, ohne dass sie durch neue gleichermaßen ersetzt wurden. Dieses Vakuum nutzten der Islamische Staat und andere Extremisten. Hermann sieht die Region in einem sehr, sehr langen Konflikt. Er vergleicht die Lage in der Levante sogar mit dem Dreißigjährigen Krieg in Europa:
    "Viele Elemente, die damals diesen Krieg möglich gemacht haben, finden sich heute im Nahen Osten wieder. Damals war Deutschland das Schlachtfeld für einen europäischen Krieg, jeder Dritte wurde getötet; am Ende, 1648, war Deutschland verwüstet. Krieg, Hunger und Seuchen entvölkerten ganze Landstriche. Einige Regionen benötigten mehr als ein Jahrhundert, um sich davon zu erholen. Heute ist Syrien das Schlachtfeld."
    Region stehe am Anfang eines grundsätzlichen Umbruchs
    Solche Vergleiche helfen, die komplizierte Gemengelage für einen europäischen Leser einzuordnen. Doch sie erreichen immer ihre Grenzen, weil sie trotz einiger Parallelen nur begrenzt stimmen. So trägt zwar der Konflikt im Irak mit seiner Frontstellung zwischen Sunniten und Schiiten starke konfessionelle Züge. In Syrien aber geht es weniger um Religion, als vielmehr um ein Regime, das sich mit allen Mitteln an der Macht halten will - und dafür sogar einen heimlichen Bund mit dem IS geschlossen hat. Trotzdem hat Hermann recht: Die Region steht am Anfang eines grundsätzlichen Umbruchs.
    "Bei allem Pessimismus besteht durchaus Anlass zu Hoffnung. Religionen ändern sich nicht über die Einsicht ihrer Theologen, sondern durch den Druck von außen. In Europa hatte sich die katholische Kirche der Säkularisierung erst gebeugt, als die Gesellschaften es so wollten, und nach dem Dreißigjährigen Krieg taugten die Konfessionen nicht länger als Hebel, um für einen Krieg zu mobilisieren. Beide Entwicklungen haben auch in der arabisch-islamischen Welt eingesetzt."
    Zumindest diese Aussicht macht etwas Hoffnung, wovon es ansonsten in der Region wenig gibt. Christoph Reuter und Rainer Hermann haben eindringliche Bücher mit klaren Thesen geschrieben - die bei vielen Lesern den Blick auf die Region und die IS-Terrormiliz grundsätzlich verändern dürften.
    Besprochene Bücher:

    Christoph Reuter: "Die schwarze Macht. Der 'Islamische Staat' und die Strategen des Terrors", DVA

    Rainer Hermann: "Endstation Islamischer Staat? Staatsversagen und Relgionskrieg in der arabischen Welt", dtv