Uffa Jensen: "Zornpolitik"

Wer Politik und Gefühle trennt, verliert

Auf einer Demonstration rechter Gruppen in Berlin am 30. Juli 2016 hält ein Demonstrant ein Plakat mit der Aufschrift "Mutti zerstoert Vaters Land" hoch.
Demonstration in Berlin: Ressentiments gegen Juden, Muslime und Politiker © imago
Von Bodo Morshäuser · 16.09.2017
Vorurteile genügen: Es brauche keine Fakten, um Zorn und Wut gegen Juden, Muslime oder Politiker zu wecken, analysiert Uffa Jensen in seinem Buch "Zornpolitik". Und wer gegen Hass angehen will, dürfe Emotionen nicht ignorieren, so der Historiker.
Was verbindet Judenhasser des 19. Jahrhunderts mit Islamfeinden von heute? Was verbindet Leute wie Achim von Arnim und Richard Wagner mit Thilo Sarrazin und Alexander Gauland? Neben ihrer Befürchtung, es werde das aufgeweicht, was sie für "deutsch" hielten und halten. Es eint sie die Erkenntnis, wie sehr Gefühle und Politik sich gegenseitig beeinflussen.
Auch der Historiker Uffa Jensen geht in seinem Essay "Zornpolitik" von der These aus, dass Rationalität und Emotionen sich in politischen Prozessen nicht voneinander trennen lassen. Antisemiten des 19. Jahrhunderts und Islamfeinde von heute bezögen sich, so der Einstiegsgedanke des Essays, auf ein weit verbreitetes Basisgefühl: das des Ressentiments.
"Ressentiment baut auf einer Art grollenden Grundstimmung auf, die unsere Weltsicht verdüstert, ohne dass uns das in jedem Moment klar wäre. Dieses Grollen kann uns als ausgebildetes Ressentiment bewusst werden, etwa wenn wir uns benachteiligt fühlen. Außerdem kann es sich in bestimmten Situationen zu abgrenzbaren Gefühlen wie Zorn, Ekel, Angst oder Hass auswachsen. Diese 'Befreiung' aus dem Grollen wird von uns oft als lustvoll empfunden."

Gegen Juden, Muslime, Politiker

Im 19. Jahrhundert waren Karikaturen hoch im Kurs, die vor Juden warnten, vor deren Teilnahme an der Gesellschaft. Die Karikaturen sprachen Ekel- und Hassgefühle an. Ekel empfinden wir gegenüber Dingen, die Tod und Fäulnis verkörpern. Wir sind abgestoßen und wollen den Schädling vernichten. Anders funktionieren Angst und Zorn. Angst schätzt den auslösenden Gegenstand als mächtig und stark ein und will Abstand zu ihm schaffen. Angst vor Islamisierung sei, so Jensen, Angst vor geplanter Inbesitznahme, und Zorn auf Muslime sei Zorn darüber, dass der Islam Macht ausstrahle. Dazu geselle sich Zorn auf Politiker, die diese Gefahr nicht benennen. Aber sind heutige Angst vor "Islamisierung" und damalige Angst vor "Verjudung" überhaupt vergleichbar? Der Autor sieht eine Traditionslinie deutscher Diskriminierungsgeschichte über fast 200 Jahre, aber auch die Unterschiede:
"Man empfand Angst und Ekel vor der Macht der Juden, gerade weil sie keine Fremden mehr waren und nun sozusagen von innen heraus eine Gefahr darstellten. Die Angst vor dem Islam, die gegenwärtig um sich greift, basiert hingegen darauf, dass er eine fremde Macht darstellt. Einer moralischen Zersetzung von innen steht in diesen Vorstellungswelten eine moralische Überwältigung von außen gegenüber."
Thema dieses Essays sind die visuellen und sprachlichen Mittel, mit denen damals wie heute allgemeine Ressentiments umgeleitet wurden in begründbare Angst. Das Buch ist voller Beispiele dafür. Allerdings bleibt ausgerechnet die Zeit des Nationalsozialismus ausgeklammert. Der Autor begründet es damit, dass die Neue Rechte mit ihren Verweisen auf die islamische Religion an Verunglimpfungen der jüdischen Religion anknüpfe, die im 19. Jahrhundert salonfähig wurden. Die heutige Rechte, so der Autor, verstehe sich ethnopluralistisch und nicht nazistisch; sie operiere mit einem zugespitzten Kulturbegriff und nicht mehr mit dem Begriff der Rasse; ihre historischen Vorläufer seien eher Volksgeistkonzepte des frühen 19. Jahrhunderts, nicht die Politik des Dritten Reiches.

Wütende Botschaft zwischen den Zeilen

Und tatsächlich: Dieser Blickwinkel legt die Sicht auf deutsche Diskriminierungsnormalität frei, ohne dass das Nazi-Regime sie in beide Richtungen hin überschattet.
Dieser Essay operiert nicht systematisch, sondern interpretiert ausgewählte Phänomene. Wie etwa dieses Facebook-Posting eines AfD-Politikers:
"12jähriger von Mitschüler fast tot geprügelt [sic], immer noch in Lebensgefahr. Konsequenzen: absehbar keine. Über den Täter keine Informationen. Das ist das neue Deutschland – ich mag es nicht."
Die anschließende Kommentarhistorie zeigt, wie sogenannte gelenkte Offenheit funktioniert. Es dauert keine halbe Stunde, und für die meisten Kommentatoren steht fest, dass ein deutscher Schüler von einem Schüler nichtdeutscher Herkunft fast totgeprügelt wurde und dass die Sache unter der Decke gehalten werden soll. Nichts davon steht in dem Posting, aber genau das steht zwischen den Zeilen. In der Wirklichkeit wird sich auch nichts davon bestätigen, doch viele Kommentatoren versetzt das AfD-Posting in rasende Wut.

Ein Ressentiment braucht keine Fakten

Ein Ressentiment braucht also keine Fakten, um sich konkret in Angst und Zorn und Wut zu verwandeln.
"Beim Ressentiment handelt es sich um ein ohnmächtiges Gestimmtsein, das wir als ungenügend erleben können. In unserer Erfahrungswelt drängt dieses Grollen danach, die Ohnmacht zu überwinden und sich zu vollwertigen Verneinungsgefühlen auszuwachsen. Hier liegt der Ursprung jener Lusterfahrung, die uns Hass oder Zorn bereiten können. In ihnen haben wir den Eindruck, die Machtlosigkeit des Unzufriedenen überwunden zu haben."
Wer Politik und Gefühle trennen will, so die Botschaft dieses Essays, der versteht nicht den gegenwärtigen politischen Diskurs und folglich auch nicht den Erfolg von Leuten wie Thilo Sarrazin und Alexander Gauland. Dieses schmale und empfehlenswerte Buch von Uffa Jensen erweitert sich zudem beträchtlich, wenn man beim Lesen auch an Radikale anderer Lager und jedwede Fanatiker denkt, ganz egal, ob sie religiös oder sonst wie motiviert sind.

Uffa Jensen: "Zornpolitik"
Suhrkamp Verlag, Berlin 2017
208 Seiten, 16,00 Euro

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