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Säkulare oder postsäkulare Welt?

Dass die Religion, entgegen den geläufigen Erwartungen des vorigen Jahrhunderts, nicht ausgespielt hat, ist längst schon wieder Gemeingut. In Frankfurt trafen sich jetzt Denker verschiedener Disziplinen, um über unser säkulares oder doch schon postsäkulares Zeitalter zu diskutieren, und über das Verhältnis von Religion, Ethik und Politik.

Von Kersten Knipp | 18.06.2011
    Auf seinen Verstand hat sich der westliche Mensch in den letzten zwei, drei Jahrhunderten mächtig was eingebildet. Das Denken galt ihm als Königsdisziplin, während er das Fühlen in die niederen Gefilde des psychischen Daseins verbannte. Es könnte aber sein, so der Frankfurter Philosoph Mathias Lutz-Bachmann, Organisator der Tagung, dass der Intellekt in letzter Zeit an Schwung verloren hat. Jedenfalls scheint sich herumzusprechen, dass der Verstand zwar auf vieles eine Antwort hat, aber längst nicht auf alles. Das habe die Denker den Glaubensdingen gegenüber versöhnlich gestimmt.

    "Religionen haben von Philosophien gelernt, Philosophien entnehmen viele Motive aus religiösen Weltdeutungen. Was Religionen soziologisch von Philosophien unterscheidet, ist, dass in den Religionen die gemeinschaftliche Praxis, der Kult, aber auch das soziale Engagement aus einem bestimmten religiösen Impuls heraus – Stichwort Solidarität, Nächstenliebe – dominant sind, während das bei der philosophischen Weltanschauung dabei sein kann aber nicht dabei sein muss. Da gibt es keine Vergemeinschaftung oder auf Praxis zwingend angelegte Gestalt der Konkretisierung von Religion."

    Aber darin erschöpft sich die Renaissance des Glaubens noch nicht, erklärt Lutz-Bachmann. Überlegungen, die von den letzten Dingen ausgehen, können durchaus auch helfen, die näher liegenden irdischen zu ordnen.

    "Aber die Fragen der Moral, die Fragen nach dem Leben, nach dem Politischen, nach der besten politischen Ordnung, nach der neuen Weltordnung, nach der Ära der Nationalstaaten, diese Fragen lassen sich nicht einfach durch den kartesianischen Verstand und seine mathematischen Kalkulationen beantworten. Und deshalb stehen wir in der Phase einer Suche nach erweiterten Konzeptionen von Vernunft, in denen nicht weniger, sondern eher an Rationalität gegenüber einem bloß mathematisch konzipierten Konzept von Wissenschaft dann gelten können."

    Allerdings: Die Befunde zur These der religiösen Renaissance wurden in Frankfurt unterschiedlich gedeutet. Die vorliegenden Daten legten eine solche These nicht zwingend nahe, meinten Skeptiker. Natürlich leite sich die säkulare Ordnung historisch aus der religiösen ab, diese einst von Max Weber aufgestellte gelte weiterhin. Allerdings dürfe dies religiösen Positionen in politischer Hinsicht keinen Vorrang vor zivilen Standpunkten einräumen, warnte etwa der Münsteraner Religionswissenschaftler Detlef Pollack:

    "Man muss sagen, dass sich das Rechtssystem natürlich von diesen theologischen Wurzeln weitgehend befreit hat. Dass es also heute eine Verpflichtung zur Gleichbehandlung aller gibt, zur Neutralität. Insofern kann auch die Religion das Rechtsystem nicht stark bestimmen. Umgedreht man muss sagen, inwieweit nicht auch die Religionsgemeinschaften ihre eigenen religiösen Überzeugungen, ihre Argumente, ihre Interessen so formulieren, dass sie rechtskonform sind und dass sie zur Hilfenahme des Rechtes ihre religiösen Interessen in der Öffentlichkeit artikulieren und durchsetzen können."

    Dass religiöse Positionen ihren umfassenden Erklärungsanspruch relativieren könnten, darauf wies unter Bezug auf den italienischen Philosophen Giorgio Agamben der Erziehungswissenschaftler Mich Brumlik hin. Was etwa, wenn man die religiösen Texte unter dem Vorzeichen des "als ob" lesen würde – also immer im Bewusstsein, dass man den Unglauben bewusst außer Kraft setze, sie also gewissermaßen unter den Vorzeichen der Fiktion lese.

    "Man soll so tun, als ob dieses wäre oder als ob dieses nicht der Fall wäre. Dadurch unterbricht man den Lauf der Dinge. Das ist natürlich ein außerordentlich zurückgenommener Messianismus, der eine einfache politische Vereinnahmung, so wie wir das kennen, gar nicht mehr ermöglicht."

    Eine solche Lesart, meint Brumlik, würde ideologisch sehr entlasten, und zwar nicht nur im Hinblick auf die Religion, sondern gesellschaftliche Ordnungsfragen überhaupt. Sie hätte nämlich den Vorteil, ideologische, allen Zweifel ausschließende Lesarten ihrerseits auszuschließen. Das hieße dann,

    "dass man das, was man tut, unter der Bedingung des Vorbehalts tut und sich also nicht mehr blind irgendwelchen Zeitläuften und ihren Zwängen unterwirft. Sogar, wenn man ihnen praktisch irgendwie entspricht."

    Ob nun eine Renaissance der Religionen oder eher doch nicht: Die Glaubensformen der Gegenwart, dieser Konsens ließ sich herstellen in Frankfurt, können sich dann zeitgemäß nennen, wenn sie sich dem öffnen, was viele Zeitgenossen als die vielleicht vornehmste Errungenschaft des Menschen betrachten: dem Zweifel.