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"Saint Amour" mit Gérard Depardieu
"Er ist ein Ganove mit großem Herzen"

Wie dreht man einen Film mit einem Schauspieler, der sich weigert, das Drehbuch zu lesen? Das belgische Regieduo Benoît Delépine und Gustave Kervern hat diese Erfahrung jüngst mit Gérard Depardieu gemacht. Filme mit politisch anders gesinnten Darstellen zu drehen, sei für sie eine Art große Koalition, sagen Delépine und Kervern im DLF.

Benoît Delépine und Gustave Kervern im Corso-Gespräch mit Sigrid Fischer | 13.10.2016
    Schauspieler Gérard Depardieu mit Regisseur Benoît Delépine (l).
    Der Schauspieler Gérard Depardieu sei wie ein ungezähmtes Tier, erzählt Regisseur Benoît Delépine (links) im DLF. (dpa / Kay Nietfeld)
    Sigrid Fischer: Gérard Depardieu sagt in letzter Zeit immer, dass er keine Drehbuchtexte mehr lernt, stimmt das?
    Benoît Delépine: Ja, das stimmt.
    Fischer: Aber wie arbeitet man als Regisseur denn dann mit ihm?
    Delépine: Er sagt immer, wenn er einen Knopf im Ohr hat, anstatt den Text zu lernen, dann spielt er viel unmittelbarer und denkt nicht immer schon voraus, was er als nächstes sagen muss. Und wir als Regisseure bekommen von ihm eine Darstellung, die so natürlich und realistisch wie möglich ist. Dass er mit der Technik nicht klar käme, war nie unsere Sorge. In unserem Film "Mammuth" brauchte er noch keinen Ohrstecker, dieses Mal aber doch. Er spielt einfach gerne aus dem Moment heraus. Wenn zum Beispiel plötzlich ein Telefon klingelt, dann reagiert er sofort spontan darauf. Und Benoît Poelvoorde, der seinen Sohn spielt, ist das ganze Gegenteil. Er lebt seine Figur vollkommen. Er bleibt während des gesamten Drehs in seiner Rolle. Er spielt einen alkoholisierten Landwirt, dann ist er die ganze Zeit ein alkoholisierter Landwirt. Das ist seine Technik, und sie funktioniert sehr gut. So hat jeder seine Methode.
    "Er spielt eben aus dem Moment heraus"
    Gustave Kervern: Neu war im Vergleich zu Mammuth, dass Gérard dieses Mal zugegeben hat, dass er das Drehbuch nicht gelesen hat. Das war damals nicht so.
    Delépine: Und ganz offensichtlich hat er eine Sache aus dem Drehbuch auch nicht richtig mitbekommen. Nämlich dass Vater und Sohn wissen, dass seine Frau gestorben ist, und dass er ihre Mitteilung auf der Mailbox als Erinnerung behält, und nicht um den anderen ihren Tod zu verheimlichen.
    Fischer: Aber wenn er nicht mal das Drehbuch vorher liest, wie läuft das dann? Machen Sie die Kamera an und hoffen, dass er das Richtige tut?
    Delépine: Naja, er kennt schon die groben Linien, die geben wir ihm natürlich vor. Also er macht nicht einfach irgendwas. Aber er spielt eben aus dem Moment heraus. Als wir zum Beispiel nochmal ein paar Sätze für die Nachsynchronisation von ihm brauchten, konnte er sich nicht mal daran erinnern, dass er die Szene überhaupt gedreht hatte. Er geht ja mit der jungen Kellnerin aufs Zimmer - dann schneiden wir weg in eine andere Szene, und er konnte sich nicht erinnern, was in seiner Szene weiter passiert ist und hatte Angst, dass er womöglich mit ihr geschlafen hatte und sich nicht erinnert. Aber das war ja nicht der Fall.
    "Man engagiert ja einen Schauspieler nicht wegen seiner politischen Einstellung"
    Fischer: Alle Welt ist begeistert von Gérard Depardieu als Schauspieler, aber seine Haltung zu Russland und zu Wladimir Putin versteht man ja nicht so ganz. Können Sie das trennen, wenn sie mit ihm arbeiten?
    Delépine: (lacht laut) Man engagiert ja einen Schauspieler nicht wegen seiner politischen Einstellung. Von uns weiß man ja, dass wir politisch eher links stehen und uns dazu bekennen, und in einigen unserer Filme wird das ja auch sehr deutlich. Aber wir wollen eben die besten Schauspieler der Welt. Und wir fragen die vorher nicht, wen sie wählen. Und selbst in dem Punkt ist Gérard ja unberechenbar. Außerdem kannten wir ihn schon lange VOR seiner "Putinzeit".
    Kervern: Bei uns ist das quasi wie in einer großen Koalition: wir vertreten die Linke, arbeiten aber mit rechten Schauspielern, Michel Houellebecq, Gérard Depardieu. Das beweist doch, dass so eine Links-Rechts-Regierung erfolgreich sein kann.
    Delépine: Wir wollen auch nicht zu viel kritisieren, die Dinge ändern sich ja dauernd. Durch die Anschläge des Islamischen Staates wird Putin auf einmal wieder ein Verbündeter, das ist alles sehr kompliziert. Wir sind zwar Belgier, haben aber auch eine neutrale Schweizer Seite. Klar gibt es Schauspieler, die uns politisch näher stehen, aber sie sind nicht so gut. Gérard ist vielleicht etwas verrückt, aber er spiegelt die Volksseele wieder, er ist ein Junge aus dem Volk, aus der Provinz. Im Grunde genommen ist er ein kleiner Gauner, aber mit einer unglaublichen Ausdruckskraft und Ehrlichkeit. Ein bisschen wie ein ungezähmtes Tier. Und davon gibt es nicht so viele.
    Fischer: Letztlich ist er immer noch der Streuner "Loulou" aus dem gleichnamigen Film von 1980.
    Delépine: Genau das ist er. Wenn er heute Werbung für eine russische Uhrenmarke macht, dann nimmt er Geld dafür und schert sich nicht weiter drum. Genau wie in seiner Jugend, als er einfach so geklaut hat. Und jetzt klaut er eben aus der Tasche eines Uhrenherstellers.
    Kervern: Und dann, bei unserem Film Mammuth zum Beispiel, hat er ohne Gage mitgespielt.
    Delépine: Es kommt bei ihm immer aufs Projekt an. Er ist ein Ganove mit großem Herzen.
    Kervern: Er stiehlt bei anderen, da verlangt er Höchstgagen, bei uns nicht. Er ist eben auch ein bisschen wie Robin Hood, er nimmt nur von den Reichen.
    Fischer: Machen Sie sich denn in ihren Comedy Shows im Fernsehen auch über Gérard Depardieu lustig?
    Delépine: Klar, in unserer Sendung "Grolande" machen wir uns manchmal genau in diesen Punkten über ihn lustig.
    Fischer: Und er sieht das auch?
    Delépine: Davon gehen wir aus. Aber in letzter Zeit mag er unsere Show weniger.
    "Beim Film kann man auch mal feinfühlig sein, aber in der Satire muss es hart zur Sache gehen"
    Fischer: Machen Sie in ihrer Satire Show im Fernsehen eigentlich auch Gags über die Flüchtlingssituation in Europa, über Calais und so weiter?
    Kervern: Alle unsere Themen zeichnen sich durch schwarzen und trashigen Humor aus. Sie würden sich wundern, wie weit das manchmal geht. Das ist etwas ganz anderes als bei unseren Filmen. Beim Film kann man auch mal feinfühlig und sanft sein, aber in der Satire muss es hart zur Sache gehen. Keine Sendung im französischen Fernsehen ist dabei so radikal wie unsere.
    Delépine: Wir haben zum Beispiel einen Sketch über das Thema Migration gedreht. Unsere Show spielt ja in einem fiktiven Land, Groland, mit eigenem Präsidenten und eigenem politischen System. Und dann passiert ein Nuklearunfall in Frankreich, und alle Franzosen fliehen zu uns, nach Groland, und sie benehmen sich dermaßen unerträglich und anmaßend, dass wir gar nicht wissen, wie wir sie bei uns aufnehmen sollen.
    "Filme unter den Bedingungen zu drehen, wie wir das machen, grenzt schon an Wahnsinn"
    Fischer: Benoît Delépine, Gustave Kervern, Sie sind nicht das einzige bekannte Regieduo - was ist eigentlich der Vorteil, wenn man einen Film nicht allein, sondern zu zweit dreht?
    Delépine: Der Vorteil ist, dass man vor nichts und niemandem Angst hat. Alleine fängt man schon mal an zu zweifeln. Filme unter den Bedingungen zu drehen, wie wir das machen, das grenzt schon an Wahnsinn. Man muss dauernd mit neuen Ideen kommen, beim Schreiben und beim Dreh. Das ist alles eine fragile Angelegenheit, auch dass die Schauspieler einem gewogen sind und sich wohl fühlen. Wenn sie spüren, dass man unsicher ist, hat man ein Problem. Zu zweit kann man sich immer gegenseitig stützen. Wenn der eine gerade keinen Einfall hat, hat der andere einen. Wobei uns die Ideen bis jetzt nie ausgegangen sind, aber wer weiß, vielleicht kommt das mal.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.