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Sammelband über sein Werk
Jean Améry - der aufmerksame Beobachter

Jean Améry ist in Deutschland vor allem als brillanter Essayist und Zeitzeuge der Shoah bekannt. Die Historikerin Yfaat Weiss und der Soziologe Ulrich Bielefeld haben nun einen Sammelband mit neuen Forschungsbeiträgen zum Werk von Jean Améry und seinem öffentlichen Auftreten als Intellektueller publiziert.

Von Volkmar Mühleis | 09.09.2015
    Undatiertes Porträt des Schriftstellers Jean Améry
    Zeitzeuge und Intellektueller: der Schrifsteller Jean Améry (undatierte Aufnahme) (picture-alliance / dpa/ )
    Im April 2015 begann vielleicht einer der letzten Auschwitz-Prozesse, und zwar gegen den SS-Mann Oskar Gröning, vor dem Landgericht Lüneburg. Zum Prozessauftakt bat Gröning um Vergebung. Von einem ähnlichen Fall berichtete Simon Wiesenthal in seinem Buch "Die Sonnenblume", zur Frage von Schuld und Vergebung nach Auschwitz, das 1970 erschien. Damals bat ein sterbender SS-Offizier um Vergebung. Jean Améry äußerte sich überaus kritisch dazu, mit dem Vermerk, Vergebung sei, so seine Worte, "ohne jede Relevanz". Im Rahmen des Lüneburger Prozesses wurde einmal mehr deutlich, wie sehr eine Stimme wie Améry heute fehlt. Und das macht die Aktualität des kleinen Sammelbandes aus, den die Historikerin Yfaat Weiss und der Soziologe Ulrich Bielefeld zu seinen öffentlichen Stellungnahmen und Werken herausgegeben haben. Jean Améry, der in Wien als Hans Mayer geboren wurde, vor der Judenverfolgung nach Brüssel floh, als Widerstandskämpfer von SS-Männern im belgischen Lager Breendonk gefoltert und nach Auschwitz deportiert wurde, dieser Zeitzeuge und Intellektuelle führt die Diskussion immer wieder auf die Erfahrung des Opfers zurück, und wie aus dessen Perspektive überhaupt nur das Geschehene zu beurteilen ist. Daraus entstehen entscheidende Fragen zum Verhältnis von Täter und Opfer, gesprochenem Recht und erfahrener Gerechtigkeit, Fragen, die Améry in Essays, aber auch in seinen Romanen zur Sprache brachte. Wie aber kann Sprache selbst dem Leiden gerecht werden, noch dazu die missbrauchte, eigene Muttersprache, die dem Folterer unterschiedslos diente? In all diese heiklen Fragen führt der Sammelband ein, ohne sich in spitzfindigen Debatten zu versteigen. Ulrich Bielefeld meint über das Bild von Améry, dass die Gruppe der Historiker, Soziologen, Germanisten und Philosophen hier beschäftigt hat:
    "Wir wollten ihn in der bundesrepublikanischen Debatte in die Zeit der fünfziger und sechziger Jahre, ihn als Zeitzeugen nehmen und nicht als Theoretiker, also die öffentliche Person verstehen, in den europäischen Konflikten, da er ja in der Öffentlichkeit der Bundesrepublik agiert hat, bekannt war, öffentlicher Intellektueller war – Radio, Fernsehen –, und gleichzeitig als Österreicher, Widerstandskämpfer, Jude, in Brüssel lebend, die französische Debatte auch nach Deutschland brachte, die französische Diskussion um Algerien, um die Folter, um den französischen Existenzialismus, namentlich Sartre, das war sein Lehrmeister. Wir wollten diese Zeitgenossenschaft von Améry herausarbeiten."
    Engagiert in der öffentlichen Debatte
    Diese Zeitgenossenschaft fand 1974 ihren kritischen Höhepunkt, im Internationalen Frühschoppen der ARD. Ulrike Meinhof war als RAF-Gefangene in Stammheim in den Hungerstreik eingetreten, und der Moderator Werner Höfer bat zum Schluss der Sendung um ein Statement der Gäste. Améry kam als Letzter an die Reihe, die Zeit drängte, Höfer fragte ihn, ob Meinhof aufgeben solle, und Améry sagte schließlich: "Nicht aufgeben." Der Soziologe Heinz Bude zeigt in seinem Beitrag sehr deutlich, dass Améry sich keineswegs mit der Terroristin Meinhof solidarisierte, sondern mit der isolierten, gefangenen Person, der nur ihr Körper noch bleibt, sich selbst zu verteidigen. Dieses Insistieren auf den Einzelnen machte ihn zu einem Engagierten ohne Programm. Er selbst bezeichnete sich 'als Gelegenheitsgast, ohne jedes Engagement' – eine doppeldeutige Wendung, die die Herausgeber auch als Titel des Bandes wählten. Ulrich Bielefeld über diese Doppeldeutigkeit:
    "Das ist ein Zitat, und das war seine Selbstdarstellung, das hätte er gerne gewollt. Und das hat ja aber auch nie gestimmt, das ist seine Zerrissenheit. Er ist ja doch immer engagiert eben, er ist ja in den öffentlichen Debatten. Und dann sagt er: 'Als Gelegenheitsgast, ohne jedes Engagement.' Und da kommt immer sofort Distanz und Rückzug hinein. Das macht ihn auch zu einem sehr aufmerksamen Beobachter und Teilnehmer und zu einem besonderen Teilnehmer eben auch. Was dann ja auch bei der Höfer-Rundfunkdebatte rauskommt. Also es macht ihn zu dieser interessanten Figur – der nicht dazu gehört, und genauso steht er ja im Grunde zum Judentum. Das ist diese spezifische Zugehörigkeitskonstruktion, die ja immer auf Erfahrung beruht, also 'ich bin Jude wegen der Rassengesetze', Erfahrungen, die haben ihn dazu gemacht, aber er war ja auch ein bisschen Jude väterlicherseits, er war aber katholisch erzogen. Also, das ist die Unterscheidung, er konnte nie Jude sein und doch wurde er dazu gezwungen. Und das zieht sich durch, es zieht sich durch als Erfahrung, und gleichzeitig wollten wir herausarbeiten – das kommt ja dann in Diners Beitrag und auch in meinem Beitrag – nicht nur die Gebrochenheit, sondern in dieser Gebrochenheit spiegelt sich wider die Konzeption der Debatten: die Folterdiskussion, die die Auschwitzerfahrung überlagert."
    Beeinflusst von Jean-Paul Sartre
    Die Brisanz und Brillanz seiner Essays – zu Verfolgung und Vernichtung, zum Alter, zum Freitod – überschattete zu seinen Lebzeiten sein erzählerisches Werk, das seit seinem ersten Roman, "Die Schiffbrüchigen" von 1935, vergleichbaren Themen galt. Literarisch wie philosophisch war Améry sehr von Jean-Paul Sartre beeinflusst, auch wenn seine eigene Erfahrung ihn weitaus skeptischer machte, was aus heutiger Sicht gerade den Unterschied der beiden zeigt. Die offene Anlehnung Amérys an Sartre hat diesen Unterschied anfangs verwischt, wenn er etwa ausdrücklich Bezug nahm auf Sartres Roman "Der Ekel", mit seiner Hauptfigur Antoine Roquentin, in seinem eigenen Roman "Lefeu oder Der Abbruch". Ulrich Bielefeld über seine Leseerfahrung von Amérys Romanen:
    "Also'ne Zeit war das unterschätzt. Es war sehr formalistisch, und es ist zum Teil sehr formalistisch, also in Lefeu – ist es ein Roman, ist es ein Essay? Das wird ja sehr gemischt. Das macht es manchmal anstrengend zu lesen, und dann ist es doch immer wieder auch'ne sehr eigene Leseerfahrung, die in diesem freien Umgang zwischen Roman, Essayistik, Anknüpfung – und bei Lefeu schreibt er das ja auch in seinen Konzepten und benutzt dann häufig das französische La nausée, also Der Ekel, das kommt dann, wird dann in Klammern gesagt, da ist sein Anknüpfungspunkt, und nicht zufällig eben in der Rue Roquentin – Roquentin ist der Handelnde im Ekel. Also ich halte es auf der einen Seite tatsächlich für anstrengend und auf der andern Seite für unterschätzt. Da ist doch mehr drin, und man entdeckt das ja auch mehr und mehr."
    Jean Améry ist und bleibt eine Herausforderung, ohne jede Koketterie, die der Begriff im Kulturbetrieb bisweilen haben mag. Er fordert Gehör für Erfahrungen, in denen jede Zwischenmenschlichkeit zerreißt und so auch jedes Wort für den Andern. Und er artikuliert diese Forderung in der Hoffnung auf das, was Sprache hat leisten können. Der Germanist Arno Dusini erinnert in seinem Beitrag des Sammelbandes an den Ausdruck ‚Lachwehlaut', den Améry in seinem Roman "Lefeu" oder "Der Abbruch" geprägt hat. Und wir hören darin nicht nur die Schmerzausrufe Ach, Weh und Au, sondern auch den hebräischen Gott, im Deutschen Jahwe, als Laut, bitterer Klang. Und zugleich ist dieses Wort mehr als diese Verweise zusammen. Der Lachwehlaut ist die schiere Zerrissenheit und blanke Ausweglosigkeit darin – das eigene, irre Lachen.
    Ulrich Bielefeld, Yfaat Weiss (Hg.): "Jean Améry – »... als Gelegenheitsgast, ohne jedes Engagement«"
    Wilhelm Fink Verlag, 148 Seiten, Preis: 19,90 Euro