John Irving in Berlin

Sex und Politik als zwei Seiten einer Medaille

Der amerikanische Schriftsteller John Irving im Gespräch mit dem Moderator Jörg Thadeusz.
Der amerikanische Schriftsteller John Irving im Gespräch mit dem Moderator Jörg Thadeusz. © picture alliance / dpa / Karlheinz Schindler
Von Gerd Brendel · 25.05.2016
Bestseller-Autor John Irving ist mit seinem Roman "Straße der Wunder" auf Lesereise durch Europa. Bei seinem Halt in Berlin brachte er vor allem den Moderator Jörg Thadeusz aus dem Häuschen.
Jörg Thadeusz: "Was wir jetzt beginnen, ist eine Lesung aus dem neuen Werk von John Irving. Es heißt 'Straße der Wunder'. And please, John, it's your turn."
Und da kommt er auch schon auf die Bühne, der Bestseller-Autor John Irving. Der Sendesaal im Berliner Haus des Rundfunks ist bis auf den letzten Platz besetzt. Paare zwischen 40 und 50, freundlich-gelassene Alt- 68er, die am liebsten dicke Bücher am Strand im Urlaub lesen.
Irving reckt ihnen die Arme wie ein Ringer entgegen, der siegesgewiss die Arena betritt. Als Student war er tatsächlich "Wrestler". Vielleicht rührt daher Irvings Faszination für die Welt der starken Männer, der Jahrmarktsattraktionen, der Clowns, der Artisten und der Freaks.
Auch in "Straße der Wunder" tummeln sich die merkwürdigsten Charaktere. Die Hauptfigur, Juan Diego, ein alternder Schriftsteller, erinnert sich an seine Kindheit in einem mexikanischen Zirkus:
"Die Zwergenclowns und Juan Diego konnten über der Sperrholzwand Dolores' Kopf und ihre nackten Schultern erspähen…"
Liest Ex-Tatort Kommissar Boris Aljinovic die deutsche Übersetzung und der Moderator Jörg Thadeusz bekommt vor Begeisterung einen roten Kopf.
"Wann fällt Ihnen so was ein: Die schwulen Zwerge, der Brustvergleich, das tote Pferd… When does it come to your mind? Every day?"
Irving: "Ja, vielleicht, every day. I think that tragedy works better, if you have been happy first."
Irvings Trick, seine Außenseiterhelden erst in komische Chaossituationen zu stürzen, um sie dann einem tragischen Schicksal zu überantworten, funktioniert auch in seinem neuen Roman.
Jörg Thadeusz: "This is cynical!"
Irving: "Nein, it's pervers!"

Sex und Politik

Nein, das sei nicht zynisch, sondern pervers , sagt der Schriftsteller-Star. Zwei unvermeidliche Themen hat der Moderator noch auf seiner Liste: Sex und Politik. Für Irving zwei Seiten einer Medaille:
Irving: "I always thought of writing about sex as political obligation."
Jörg Thadeusz: "Das Schreiben über Sex als politische Verpflichtung, was ich sehr interessant finde."
Irving:"It is important to keep offending the people who are offended by sex."
Der Autor als Tabubrecher. Die Zuhörer, gerade vom Talk-erfahrenen Jörg Thadeusz als "sinnenfrohe Berliner" angesprochen, applaudieren. Noch mehr Applaus gibt es für Irvings flammenden Appell, bei den nächsten Wahlen gegen Trump und für Hillary Clinton zu stimmen. Für zehn Minuten wird Berlin zum 52. Bundesstaat der USA.
"Wollen Sie vielleicht Platz einnehmen. Wo wird er sitzen? Das soll nicht verstellt werden."
Am nächsten Morgen ist von der euphorischen Stimmung des Autors nichts mehr übrig. Gruppeninterview mit einem halben Dutzend Kollegen im Luxushotel. Statt eines freundlichen Moderators werden wir von einer sauertöpfischen Verlagsangestellten in Empfang genommen, die gut als Dompteuse in Juan Diegos mexikanischen Zirkus arbeiten könnte.
Jeder und jede will wenigstens eine Frage los werden. Da bleibt für ein freundliches "Hallo, wie geht’s?" keine Zeit. Und als ein eifriger Kollege immer wieder nachhakt, wird er von der Verlagsdame streng zur Ordnung gerufen. Nächster Kollege, neue Frage: Welche Rolle würden Sie, John Irving, gerne in einem Zirkus spielen?
Irving: "Mit 15 beschloss ich, Schriftsteller zu werden statt Schauspieler, weil ich einfach in alle Rollen auf ein Mal schlüpfen wollte."

"Not a bad way to die"

Nächste Frage: Wie hat Ihnen das Schreiben über den Tod – der Romanheld Juan Diego stirbt am Ende - beim Umgang mit der eigenen Sterblichkeit geholfen?
"Gar nicht. Dafür hab ich keine Zeit", sagt Irving und dann grinst er grimmig:
"Juan Diego hat immerhin Sex mit seinen beiden weiblichen Todesengeln. Gibt es einen schöneren Tod? It’s not a bad way to die".
Alle lachen, außer der Dame vom Verlag.
"Last question! Wer möchte, kann sich sein Buch signieren lassen."
Und dann stellen sich alle brav in einer Reihe auf. Irving unterschreibt, ohne aufzuschauen. Ein müder Ringer hat uns auf die Matte gelegt. Wie hatte der Schriftsteller gesagt? Nur weil man spannende Geschichten schreibt, muss man noch lange kein spannendes Leben führen.

John Irving: "Straße der Wunder"
Aus dem Amerikanischen von Hans M. Herzog
Diogenes Verlag, Zürich 2016
777 Seiten, 26 Euro

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