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Samuel Beckett
Über den Genuss und Nutzen der Briefeschreiberei

Eine auf vier Bände angelegte Ausgabe erschließt das Briefwerk des irischen Literaturnobelpreisträgers Samuel Beckett. Der zweite Band "Beiliegend das letzte misslungene Schweigen. Becketts Briefe 1941-56" liest sich besonders spannend. Er gibt Einblicke in das Arbeitsleben des akkuraten und übergenauen Schriftstellers.

Von Marius Meller | 22.02.2015
    Schwarzweiß Fotografie von dem irischen Schriftsteller Samuel Beckett, Porträtaufnahme von Jane Bown.
    Samuel Beckett wurde 1969 mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet. ( imago/United Archives International)
    Beckett-Verehrer sind versessen auf Neuigkeiten von ihrem Helden, der vor fünfundzwanzig Jahren in einem Pariser Altersheim im Alter von 83 starb – mit nicht geringerem Recht als der Popfan, der seinem Objekt der Begierde im Internet auf der Spur zu sein glaubt. Nur hatte der Beckett-Verehrer es bisher besonders schwer, auch wenn er vielleicht nicht nur den biografischen Fetisch suchte, sondern das Lebensdetail, das eine Lesart bestätigt oder widerlegt: Samuel Beckett gab kaum ein Interview, ließ sich nur widerwillig fotografieren und abstrahierte seine Stücke und Romane so sehr, dass fast nichts an biografischem Material hängen blieb.
    Außerdem hat Beckett strenge, sehr strenge Erben, die an Kontrolleifer denen Bertolt Brechts in nichts nachstehen und über die Inszenierungen seiner Bühnenwerke wachen, aber auch standhaft die Publikation der frühen Tagebücher und deren Übersetzung unterbinden. Einige Ausschnitte aus Becketts Aufzeichnungen zu einer Reise durch Nazi-Deutschland hat die Schriftstellerin und Buchkünstlerin Roswitha Quadflieg 2001 in ihrer Raamin-Presse herausgegeben, für schwer erschwingliche 1.000 Euro. Exquisit, aber das Projekt reizte eher noch den Durst der lesenden Öffentlichkeit nach dem persönlichen Beckett.
    Genuss und Nutzen der Briefeschreiberei
    Spätestens jetzt tritt jedoch etwas Linderung ein für diesen biografischen Unterdruck. Der zweite Band der auf vier Bände angelegten Briefausgabe ist endlich erschienen und gibt die Möglichkeit, über einzelne, in den vorliegenden Biografien publizierte Briefstellen hinaus, das Material direkt in Augenschein zu nehmen. Erst mit diesem Band zeichnet sich der Genuss und der Nutzen der Beckett'schen Briefeschreiberei für den Leser insgesamt ab. Es geht nämlich um einen grundlegenden, zunächst schleichenden, dann abrupten Wechsel in Poetik wie Persönlichkeit. Der erste Band, der die Jahre 1929 bis 1940 umfasst, lässt, grob gesagt, den Beckett Nummer Eins auftreten, den angry young man, den depressiv-verbockten Jungdichter, der so viele Wortspiele wie möglich in seine äquilibristischen Satzkaskaden einbaut, so viele Fäkal- und Sexualzoten wie er kann und ausführliche Schilderungen seiner seelischen und körperlichen Furunkel. Das ist bei der beträchtlichen, ja strotzenden literarischen Begabung an sich auch kein Wunder. Nur hat der trinkfeste Joyce-Jünger- und eifrige Helfer bei abgelegenen Recherche-Orgien für Finnegans Wake in seinen raren Werken und in seinen Briefen sich selbst noch als ziemlich wankelmütig und nachahmend empfunden. Seiner Begabung war Beckett sich in den Dreißigerjahren ziemlich sicher, aber nicht seiner Poetik.
    Stolz auf die Freundschaft mit Joyce
    Bemerkenswert ist, dass der US-amerikanische Literaturpapst Harold Bloom den frühen Roman "Murphy" von 1936 zu Becketts bestem Buch kürte, nicht "Molloy", nicht "Warten auf Godot", nicht "Endspiel", nicht "Wie es ist". In der Bewunderung, die James Joyce diesem im Grunde nur für ihn geschriebenen, äußerst schrägen Elaborat zuteilwerden lässt, bewundert der Einfluss-Geber das geglückte Einfluss-Nehmen, also auch sich selbst, er sieht seine Literatur, seine Poetik im Spiegel derer von Beckett. Letzterer, einerseits stolz auf Joyce's väterliche Freundschaft, aber wie ein Hund leidend unter dem dichterischen Einfluss, befreit sich schließlich in mehreren Schritten aus dieser ernsten Sackgasse. Noch wenige Wochen vor seinem Tod fasst Samuel Beckett in einem Interview mit seinem Biografen James Knowlson sein Verhältnis zu Meister Joyce zusammen, souverän dessen Gesamtleistung um eine Nuance relativierend. Am Lebensende ist aus dem Meister-Schülerverhältnis ein kollegiales geworden:
    "Ich erkannte, dass Joyce, so weit es eben geht, vorgedrungen ist in Richtung des Mehr-Wissens, der Beherrschung seines Materials. Er fügte immer noch mehr dazu; man muss sich da nur seine Druckfahnen ansehen. Ich erkannte, dass meine Eigenart in der Verarmung lag, im Mangel an Wissen und im Wegnehmen, im Abziehen eher als im Hinzufügen."
    Mit diesem Prozess, den der alte Beckett so nüchtern und klar beschreibt, setzen die Briefe des neuen Bandes ein, die Ausgabe umfasst die Jahre 1941 bis 1956. Doch – wir sind bei Beckett auf nichts anderes gefasst – scheint das Schicksal einen Schleier des Geheimnisses über diesen Geburtsvorgang des Samuel Beckett Nummer 2 wallen zu lassen: Der erste Brief der Ausgabe stammt vom 17. Januar 1945. Die Jahre 1941 bis 1944 fehlen vollständig. Die Vorworte der Herausgeber geben Aufschluss: Aus der Zeit des Exils in Roussillon sei die Zahl der überlieferten Briefe sehr gering, ein Konvolut mit Briefen an den Maler Henri Hayden sei den Herausgebern vorenthalten worden. Außerdem mutmaßt Herausgeber Dan Gunn, wäre jede Briefsendung gefährlich gewesen, weil Beckett ja noch auf den Suchlisten der Gestapo stand. 1940 hatte sich Beckett als Kurier und Analyst einer Zelle der Résistance angeschlossen, 1942 wurde seine Zelle Gloria SMH verhaftet und Beckett und seine Frau Suzanne entkamen knapp nach Südfrankreich. Es bleibt eine gewisse Enttäuschung und Ungläubigkeit nicht aus, die Sachlage rechtfertigt notdürftig die "Lücke" von vier Jahren, die den Leser zunächst kräftig verwirrt.
    Zynische Arroganz weicht der Ironie
    Die ersten Briefe und Telegramme nach der Befreiung Frankreichs zeigen eine eigene Art Nüchternheit. Zunächst wird der Bruder Frank via irische Gesandtschaft in Paris informiert. Auch der Briefwechsel taucht wie Beckett aus dem Nichts auf, ebenso wie er 1941 untergetaucht ist. Beckett versucht, Freunde und Bekannte zu erreichen, informiert über sich und Suzanne. Aber nahtlos geht aus der besorgten, höflichen Nüchternheit nach Kriegsende, ein einfach und direkt, manchmal liebevoll schreibender Beckett hervor, der nur ab und zu noch seinen zotigen, amüsanten Jungschriftsteller-Stil aufruft. Die manchmal zynische Arroganz weicht der Ironie gegenüber sich und seiner Umwelt. Manchmal blitzt der irisch-absurde Humor auf. Als er eine Absage des Londoner Verlags Hamish Hamilton erhält, schreibt er seinem Freund und Agenten George Reavey:
    "Mein lieber George, danke für Deinen Brief. Ich wusste, dass H.H. ein totes Ei bebrütet hat, oder vielmehr, dass Watt unter einem toten Huhn lag. Danke für all die Mühe, du Du Dir gemacht hast."
    Viel öfter begegnet der neue Beckett Zwei, der aus der Kommunikation kein prätentiöses Spiel, keine Kunstform mehr macht, sondern sie auf das Nötige und Ehrliche reduziert, wie im Juni 1946 an Jacoba van Velde:
    "Liebe Tony, vielen Dank für Deine Briefe. Es tut mir leid, dass die meinen Dir so viel Ärger machen. Ich schreibe nun mal so, wie ich denke."
    Beckett Eins war exaltiert, um einen Ausdruck zu erzwingen. Beckett Zwei schreibt wie er denkt, so sieht es zumindest aus, und lässt den Ausdruck wie von selbst entstehen. Das konsequente Einsetzen von Bewusstseinsstrom, innerem Monolog, Schreiben an der Grenze zur Écriture automatique – dies alles sind die Errungenschaften jener Jahre. Errungenschaften, die Becketts Schreiben bis ins hohe Alter immer wieder aufnahm. In den Jahren nach 1945 brach sich etwas Bahn, das sich in den bei aller Gefahr beschaulichen Jahren mit Suzanne im Exil von Roussillon angestaut hatte.
    Tagsüber half er als Flüchtling gegen Naturalien den Bauern, abends spielte er Schach oder schrieb an seinem letzten Roman, den er in seiner Muttersprache verfasste, "Watt". Dieser Roman, dem Beckett durchaus "seinen Platz in der Serie" zuwies, ist sicher ein großer Wurf, aber etwas für Kenner und weniger für Liebhaber des späteren Beckett. Die vier Teile des Romans folgen nicht chronologisch, sondern erscheinen wild durcheinandergewürfelt. Die Handlung spielt in einem Haus, und der Protagonist kann sich nicht erinnern, wie er dort hingekommen ist. Der Text ist ein Spiel mit der klassischen Logik, die sich in Absurditäten und Sackgassen erschöpft wie eine unpopuläre, skurril gewordene Sportart. Selbstverständlich wird jede Erzählkonvention separat mit Füßen getreten.
    Die ersten Verlagsabsagen trudeln im Sommer 1945 ein und Beckett nimmt sie stoisch. Im Briefwechsel interessiert er sich lebhaft für die Odysseen der Typoskripte, die immer wieder abgelehnt werden, aber der Leser merkt, dass ihn schon bereits anderes intensiver beschäftigt. 1945 hatte Beckett eine Art Erleuchtung gehabt, im Dubliner Zimmer seiner Mutter und nicht auf der Mole bei Foxrock, wie er öfters klarstellte, in der ihm sein Schreiben, seine Poetik schlagartig klar wurden. Etwas geheimnisumwölkt baut er eine Reminiszenz viele Jahre später in das Theaterstück Krapp's last Tape ein:
    "Spirituell ein Jahr tiefer Schwermut und Not bis zu jener denkwürdigen Nacht im März, am Ende der Mole, im heulenden Wind, ich werde es nie vergessen, als mir plötzlich alles klar wurde. Die Erleuchtung, endlich. Das meine ich heute Abend vor allem feststellen zu müssen ... Ich sah damals plötzlich ein, (...) dass das Dunkel, mit dem ich immer gekämpft hatte, um es zu bezwingen, in Wirklichkeit mein bestes ... bis zu meinem letzten Atemzug unzerstörbare Verbindung von Sturm und Nacht mit dem Licht der Erkenntnis und dem Feuer."
    Die innere Konversion war offenbar so grundlegend, dass er das Medium seiner Kunst, die Sprache wechselte und sich fortan fast ausschließlich des Französischen bediente. Der Mitherausgeber der Briefausgabe George Craig zeichnet diesen erstaunlichen Vorgang in einem interessanten Vorwort dieses vorbildlich und benutzerfreundlich ausgeführten Briefbandes im Detail nach.
    Französische Gedichte und Erzählungen
    Beckett versuchte sich zunächst an französischen Gedichten und Erzählungen, dann mit dem kurzen Roman "Mercier et Camier", der die humoristische Konstellation von Flauberts nachgelassenen Roman "Bouvard et Pécuchet" aufnimmt und wie Watt die Aporien von Alltags- und Wissenschaftssprache in Komik und Tragi-Komik verwandelt. Becketts Briefe berichten vom geradezu emsigen Arbeitsprozess der Jahre nach Kriegsende, als er einen Roman nach dem anderen zu Papier bringt mit all den merkwürdigen Figuren wie Molloy, Moran und Malone, die, wie er einmal sagte, im Zuge der Erleuchtung ihm nach und nach "zugelaufen" sein.
    Die Briefe gleichen eher persönlichen Notizen als größer angelegten oder gar literarischen Briefen – mit einigen Ausnahmen. Mit dem Kunsthistoriker George Duthuit etwa, den Beckett 1947 als Herausgeber der Zeitschrift "transition" kennenlernte, verband ihn eine heftige intellektuelle Affäre, die sich nicht nur in Trinkgelagen, sondern auch in fieberhaften Bekenntnisbriefen äußerte. Zunächst geht es um die Kunst der gemeinsamen Malerfreunde, aber auch um die Kunst überhaupt und über die Literatur. Aus den Briefen stellten Beckett und Duthuit einige tiefsinnige wie humorvolle Interviews für transition 1949 zusammen.
    Beckett: "(...) Die einzige Sache, die die Revoluzzer Matisse und Tal Coat aufgemischt haben, ist eine gewisse Ordnung auf der Ebene des Machbaren."
    Duthuit: "Was für eine andere Ebene könnte es für den Produzierenden denn geben?"
    Beckett: "Logischerweise keine. Dennoch spreche ich von einer Kunst, die sich mit Ekel von ihr abwendet, die ihrer dürftigen Ausbeute überdrüssig ist, überdrüssig des geheuchelten Könnens, des Könnens überhaupt, überdrüssig, immer wieder die gleiche alte Sache ein bisschen besser zu machen, ein Stückchen weiterzugehen auf einer trostlosen Straße."
    Dutuit: "Um was zu bevorzugen?"
    Beckett: "Den Ausdruck davon, daß es nichts auszudrücken gibt, nichts, womit man ausdrücken kann, nichts von dem aus man etwas ausdrücken könnte, keine Kraft auszudrücken, kein Verlangen auszudrücken, gleichzeitig der Zwang auszudrücken."
    Becketts negative Poetik, die er bis zu seinen letzten Video-Arbeiten und letzten Texten aufrechterhielt und variierte oder verdichtete, lässt eine subjektive, originäre Fantasiewelt entstehen, jene inzwischen ikonische Beckett-Welt mit all den dürren Bäumchen und Mülltonnen, den Estragons, Pozzos, Krapps und Luckies. Aber sie ist auch lesbar als post-katastrophische, gleichsam endzeitlich verstrahlte Landschaft, in denen letzte Menschen auf unklare Konzepte warten. Seine elegante Technik ist es, in den nur scheinbar banalen Texten die komplette abendländische Geistesgeschichte aufzurufen und ad absurdum zu führen. Wenige, aber profunde Philosophen bieten Halt und Orientierung: Demokrit, Hume, Geullincx, Schopenhauer. Und unzählige Motive der Kunstgeschichte versteckt der Kreuzworträtselfreund Beckett in den Texturen.
    Briefband zeigt den arbeitenden Beckett
    Hinweise auf Details in den Werken und Indizien zu ihrer Enträtselung finden sich im Briefwechsel oft, später auch viel Inszenierungsanweisungen in der Theaterarbeit. Der Briefband liest sich auch deshalb spannend, weil er den konkret arbeitenden Beckett zeigt, auch den akkuraten und übergenauen Beckett, und weil er den künstlerischen Durchbruch nach 1945 umfasst und nachverfolgen lässt, sowohl was Becketts eigene Poetik angeht, als auch ersten nachhaltigen Erfolg als französischer Schriftsteller. Dann, mit der Inszenierung von En attendant Godot 1952 in Paris, ging es sogar bald in Richtung internationalem Ruhm. Beckett übersetzte seine eigenen Werke gewissermaßen "zurück" ins Englische, für die deutschen Übersetzungen sorgte bald das Ehepaar Tophoven.
    Eine skurrile Kleinigkeit fällt an den ansonsten informativen Zeittafeln auf, die jedem Jahresabschnitt vorangehen. Ab und zu werden politische Zeitereignisse aufgeführt, etwa unter dem Datum 27. Juli 1953 der Waffenstillstand zwischen der UNO und Nordkorea. Doch nirgendwo bis auf einige winzige Ausnahmen kommt Beckett auf derartiges zu sprechen. Ja man ist sich als Leser unsicher, ob diese Tatsache des politischen Quietismus sich seinen Überzeugungen als Schriftsteller, oder aber schlicht seinem Understatement als Brite und Ire verdankt. Einmal merkt er vor der Schlussformel an:
    "Hoffe, der Brief erreicht Dich, bevor wir vom Wasserstoff oder Uran oder was immer beseitigt werden. Dein Sam"
    Seine poetische Welt ist so abstrahiert, kokettiert so sehr mit der Weltverwerfung, dass seine Kunst in Fundamentalopposition umzukippen scheint. Das würde erklären, warum in dieser Nacht alle Katzen grau erscheinen, der "Yankeeismus", wie Beckett schreibt, ebenso wie der Sowjetkommunismus. Allerdings verwahrte er sich entschieden bis wütend, als Bertolt Brecht ihn für sein Ostberliner Theater gewinnen wollte. Zumindest vom Standpunkt einer beckettschen Figur, sagen wir Pozzo, sind die politischen Systeme nur spitzfindige Unterscheidungen der allgemein korrupten Weltverfassung. Einmal schreibt Beckett an Duthuit:
    "Nichts ist mir kontra genug, nicht einmal der Schmerz, und ich glaube nicht, besonderen Bedarf daran zu haben."
    Dieses "nichts ist mir kontra genug" führt tief in die Beckett'sche Poetik, aber auch in seine Persönlichkeit. Sein Psychiater Wilfred Ruprecht Bion, bei dem Beckett ab 1933 über zwei Jahre eine Psychoanalyse absolvierte, freute sich zwar über den milden, aber nachhaltigen Therapieerfolg, hielt aber viel später Becketts pessimistisches Werk für einen bloßen Ausdruck seiner früheren Erkrankung. Vielmehr ist sie ein denkerisches und poetisches Produktivmachen jener negativistischen Impulse. Peter Sloterdijk ordnet das Werk Beckett der "schwarzen Gnosis" zu. Aber ganz so schwarz ist diese Erkenntnis- oder Erlösungspoetik nun auch nicht. Wo es düster ist, scheinen die Blitze um so heller. Und dialektischer Weise erzeugen seine schonungslosen Analysen der conditio humana einen vorsichtigen und zerbrechlichen Begriff von Menschlichkeit nach dem Offenbarwerden des Grauens in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
    Auch ein bisschen Klatsch muss sein
    Es wird höchstwahrscheinlich auch nach Erscheinen der beiden letzten Bände dieser zweite der spannendste bleiben. Der am Werk Interessierte wird viel Aufschlussreiches erfahren, der mehr biografisch Interessierte durchaus auch das bisschen Klatsch, das sein muss. Etwa die Briefe an seine Geliebte Pamela Mitchell, von der er sich zugunsten seiner Lebenspartnerin Suzanne Dusmesnil trennte. Der Beckett Eins war vorwiegend höflich, aber zynisch. Beckett Zwei, der sich in diesem Briefband zeigt und etabliert, ist höflich, warmherzig und liebevoll (wenn er nicht gerade einen Wutanfall über einen Herausgeber auf's Papier hustet). Seinen Freund Barney Rosset, den seine Frau verlassen hatte, tröstete Beckett nach der Scheidung 1956:
    "Lieber Barney, bin sehr traurig, dass Du so unglücklich bist, obwohl es weiß Gott schwierig ist, länger als ein paar Minuten lang etwas anderes zu sein, mithilfe von Drogen oder Arbeit oder Musik oder des anderen. Halte durch, diesen zuliebe. Und wenn Du jemanden gefunden hast, wird es wieder gut. Das sind dumme Worte, aber nicht so dumm wie die, die durch sie verscheucht wurden."
    Samuel Beckett:
    Ein Unglück, das man bis zum Ende verteidigen muß - Briefe 1941 - 1956
    Herausgegeben von George Craig, Martha Dow Fehsenfeld, Dan Gunn und Lois More Overbeck
    Aus dem Englischen und Französischen von Chris Hirte
    Suhrkamp Verlag, 819 Seiten, 45 Euro