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Sandschneider: Gewaltfreie Strategie des Dalai Lama nicht wirklich erfolgreich

Der Forschungsdirektor der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, Eberhard Sandschneider, befürchtet eine Abkehr der Tibeter vom gewaltfreien Widerstand gegen China, wie ihn der Dalai Lama befürwortet. Die Gewaltfrage werde insbesondere unter jungen Tibetern "sehr heftig" diskutiert. Gleichwohl habe Tibet "heute wie vor 50 Jahren der militärischen Macht der chinesischen Streitkräfte wenig entgegenzusetzen", so Sandschneider.

Eberhard Sandschneider im Gespräch mit Mario Dobovisek | 10.03.2009
    Mario Dobovisek: Drohungen, Misshandlungen und Verhaftungen; auch 50 Jahre nach der Niederschlagung des Tibeter-Aufstands reagiert China mit Gewalt auf Widerstand. Der Gesandte des Dalai Lama, Kelsang Gyaltsen, sagte heute Morgen im Deutschlandfunk:

    Kelsang Gyaltsen: "Die Situation in Lhasa kommt einer militärischen Besetzung gleich und es kommt immer wieder zu Verhaftungen und in Gefängnissen werden die Tibeter schwer misshandelt, gefoltert. Und die letzte Nachricht ist, dass jetzt auch vereinzelt auf Demonstranten geschossen wird."

    Dobovisek: Am Telefon begrüße ich Eberhard Sandschneider. Er ist Forschungsdirektor der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik und Asien-Kenner. Guten Tag, Herr Sandschneider.

    Eberhard Sandschneider: Schönen guten Tag!

    Dobovisek: Wir beobachten dieser Tage in der Tat den Aufmarsch eines massiven chinesischen Militäraufgebots in und um Tibet herum. Was wissen Sie darüber?

    Sandschneider: Wir wissen das, was die offiziellen chinesischen Quellen oder tibetische Stimmen uns sagen, aber eines ist natürlich seit langem klar gewesen: Dieser 10. März ist aus der Sicht der chinesischen Führung in einer großen Wirtschaftskrise ein besonders sensitiver Tag. Die Erinnerungen an die Aufstände des vergangenen Jahres, an den großen Image-Schaden, aber auch an die schwierige Situation in Tibet, die sind noch völlig wach und lebendig - nicht nur im Westen, sondern vor allem auch in China. Insofern: Dass heute die chinesischen Sicherheitskräfte in Alarmbereitschaft sind, in Tibet, in Lhasa, das ist ein fest zu erwartender Zustand.

    Dobovisek: Was bezweckt China damit? Ist das reines Säbelrasseln und Demonstration der Stärke gegenüber den Tibetern, oder ist das tatsächlich innenpolitisches Kalkül?

    Sandschneider: Nein, das ist Politik durch maximale Kontrolle. Die chinesische Regierung verfolgt seit Jahren diese Politik, Tibet durch militärisch getragene Kontrolle weitestgehend ruhig zu halten. Ob das dauerhaft erfolgreich sein wird, ist eine offene Frage, aber im Augenblick ist das die erklärte Politik der chinesischen Regierung.

    Dobovisek: Wie reagieren die Tibeter auf diese massive militärische Präsenz? Was wissen Sie darüber?

    Sandschneider: Wir wissen in der aktuellen Situation natürlich relativ wenig. Wir wissen, wie sie im letzten Jahr reagiert haben, nämlich mit Gewalt gegen Gewalt, und wir wissen, dass es innerhalb der tibetischen Exilbewegung auch heftige Diskussionen - insbesondere unter den jungen Tibetern - gibt, ob die gewaltfreie Strategie des Dalai Lama dauerhaft wirklich erfolgreich sein kann. Also da wird auch innerhalb dieser Bewegung sehr heftig und sehr kritisch diskutiert. Aber letztendlich hat Tibet heute wie vor 50 Jahren der militärischen Macht der chinesischen Streitkräfte wenig entgegenzusetzen.

    Dobovisek: Verliert der Dalai Lama im fernen Exil die beschwichtigende Kontrolle über die Tibeter allmählich?

    Sandschneider: Das ist zumindest eine Gefahr, die immer wieder beschworen wird, und inwieweit er tatsächlich der noch allein gültige Repräsentant in diesen Fragen ist, ist eine spannende Frage, die man von außen tatsächlich nicht beantworten kann. Auf der anderen Seite, wie immer diese Antwort ausfällt: Die machtpolitischen Verhältnisse in Tibet im Augenblick sind ziemlich klar und selbst diejenigen, die auf mehr Gewalt setzen würden, müssen eigentlich sicher sein, dass das keine Garantie für eine erfolgreichere Politik oder gar eine Politik der Heimkehr nach Tibet sein würde.

    Dobovisek: Aber ist das nicht ein Ausdruck von Verzweiflung, 50 Jahre nach der Niederschlagung des Aufstands?

    Sandschneider: Ja, völlig klar. Das ist Verzweiflung und aus der Sicht des westlichen Betrachters hat man es relativ einfach, über die Situation in Tibet zu reden. Wenn man die wenigen Bilder, die wir haben, aber tatsächlich in ein Gesamtbild setzt, dann ist diese Verzweiflung verständlich. Sie lässt sich erklären, aber sie lässt sich natürlich nicht ohne weiteres beheben.

    Dobovisek: Sie sagen damit, jetzt droht im Grunde auch eine Radikalisierung der Tibeter?

    Sandschneider: Das muss man mit Sicherheit annehmen. In dem Maße, wie die Politik des Dalai Lama, einen gewaltfreien Dialog zu suchen, offensichtlich nicht von Erfolg gekrönt ist, ist das erfahrungsgemäß immer einer der möglichen Auswege, dass Teile der politisch Beteiligten dann auch den Weg eben der Gewalt suchen.

    Dobovisek: Wird Peking eine militärische Eskalation dann auch riskieren, obwohl der internationale Image-Schaden enorm sein würde?

    Sandschneider: Der internationale Image-Schaden war auch im vergangenen Jahr schon enorm und es zeigt sich eine ganz einfache Regel. Für das höchste Gut der chinesischen Politik, nationale Souveränität und Einheit, nimmt Peking jeden Image-Schaden in Kauf, hat im Übrigen allerdings auch gelernt, dass man das ohne weiteres tun kann, weil der Image-Schaden nur sehr begrenzt im Westen vorhält. Taucht ein anderes Problem auf - nehmen wir die Weltwirtschaftskrise -, verändert sich die Debattenlage relativ schnell und Tibet rutscht ganz weit nach unten auf der Agenda. Da ist man sicherlich auch im Westen gut beraten, einmal darüber nachzudenken, mit welchen Prioritäten man Tibet-Politik "betreibt" und welche Signale man auch an die tibetische Bevölkerung schickt, die glaubwürdig sind, fromme Reden über die Zukunft Tibets im Westen zu halten, ohne zu berücksichtigen, wie es den Menschen vor Ort geht.

    Dobovisek: Auch China ist von der weltweiten Wirtschaftskrise erheblich betroffen. Rechnen Sie, Herr Sandschneider, mit Aufständen in China?

    Sandschneider: Das kann man nicht wirklich prognostizieren. Die Gefahr als solche ist allerdings da. Die chinesische Regierung selbst meldet uns seit einigen Jahren jährlich den jeweils erhobenen Stand sozialer Unruhen und auch diese Entwicklung ist exponentiell gestiegen: von 30.000 auf 50.000 auf 80.000 im letzten Jahr vermutlich um die 120.000 Zwischenfälle unterschiedlicher Größe. Man muss also sagen, das Protestpotenzial ist da. Die Auswirkungen der Wirtschaftskrise werden diese Situation sicherlich nicht entspannen, sondern eher verschärfen. China ist im Augenblick schon ein wenig vergleichbar mit einem Pulverfass.

    Dobovisek: Auch 50 Jahre nach der Niederschlagung des Aufstands in Tibet reagiert China auf Proteste mit Gewalt. Eberhard Sandschneider, Forschungsdirektor der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik. Vielen Dank für das Gespräch.