Freitag, 19. April 2024

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Werner Bartens: "Emotionale Gewalt"
"Schlimmer als körperliche Gewalt"

Was körperliche Gewalt ist wissen wir – aber wie steht es um die oft unsichtbaren Schädigung der menschlichen Psyche? Ein Gespräch mit dem Wissenschaftsredakteur Werner Bartens über Kränkungen der Seele, über Ignoranz, Narzissmus und die dunklen Seiten der Empathie.

Werner Bartens im Gespräch mit Jan Drees | 23.08.2018
    Medizinjournalist Werner Bartens in der ARD-Talkshow Maischberger im WDR Studio BS 3, Köln, Autor des Buches "Emotionale Gewalt"
    Medizinjournalist Werner Bartes (imago stock&people / Rowohlt Verlag)
    Jan Drees: Herr Bartens, weshalb werden Kränkungen der Seele in ihrem Buch direkt als Gewalt bezeichnet?
    Werner Bartens: Ich möchte mit dem Begriff "Gewalt" deutlich machen, dass auch Gefühle beziehungsweise die Missachtung von Gefühlen sehr schmerzhaft und verletzend sein kann, also Kränkung, Missachtung, Erniedrigung, Ignoranz oder auch der Versuch, manipuliert zu werden. Und das Schlimme ist ja, die Spuren von emotionaler Gewalt, die sind unsichtbar. Wenn wir uns das bei Kindern angucken, wenn die geschlagen werden, wenn sie misshandelt werden, dann haben sie eine Rippenserienfraktur oder blaue Flecken. Wenn jemand ständig sozusagen unterdrückt, fertiggemacht wird, in seinem innersten Kern erniedrigt wird, das sieht keiner. Aber die Spuren, die es im Körper, in der Seele hinterlässt, die können genauso gravierend sein und eventuell sogar noch schlimmer und vor allen Dingen auch lange anhaltend. Und das ist, glaube ich, ganz entscheidend. Und wenn man nach einer Definition fragt, ist es, glaube ich, wichtig, dass es nicht darum geht, dass jede Kritik oder jedes Anschreien, jedes Aus-der-Haut-fahren von Kollegen, Freunden, Partnern, Vorgesetzten, wie auch immer, dass man sagt, oh, emotionale Gewalt, ganz schlimm. Sondern es geht darum, dass wirklich mit Vorsatz destruktiv versucht wird, den anderen fertigzumachen, also mit einer bösartigen, destruktiven Absicht, und nicht einfach mal nur so aus der Wut heraus, wo man hinterher sagt, okay, sorry, da ist mir was entglitten, alles wieder gut – das merkt man dann ja meistens auch. Das ist nicht emotionale Gewalt, nicht jeder Schrei und jedes Aufbrausen und jeder Streit.
    Der Mensch ist auf Resonanz angewiesen
    Drees: Wie ist das Thema emotionale Gewalt zu Ihnen gekommen? Wann fingen Sie an, sich damit zu beschäftigen?
    Bartens: Da gibt es verschiedene Ebenen. Das eine ist, ich bin ja jetzt auch schon Anfang 50, und ich habe in verschiedensten Zusammenhängen, zum Teil über Kollegen, Freundeskreis, Bekannte Menschen kennengelernt, von denen ich immer wieder dachte: Mensch, die haben doch irgendwie so viele Fähigkeiten, so viele Möglichkeiten, aber irgendwie stehen sie sich selbst oder steht ihnen was im Weg. Und die versuchen beispielsweise ihr Leben lang, die strengen Vorgaben des Vaters zu erfüllen oder den tadelnden Blick der Mutter spüren sie immer, auch wenn zum Teil die Eltern schon lange tot sind. Da merkt man schon, ohne da weiter noch nachgeforscht zu haben, wie sehr das oft in die Tiefe geht und wie das Menschen ein Leben lang belastet und sie davon auch nicht frei werden und immer noch das Gefühl haben, wie gesagt, der Lehrer, der strenge Vater, die Mutter oder ein Freund, der sie verletzt hat, oder ein Partner, der sie fertiggemacht hat, der ist da immer noch wirksam, obwohl er eigentlich längst aus dem Leben verschwunden ist. Und dass ich auch dachte, da muss man doch irgendwie rauskommen, da muss man sich doch draus befreien können. Der Mensch ist ein soziales Wesen. Der Mensch ist auf Beziehung, auf Bindung, auf Rückmeldung, auf Feedback angewiesen, oder wie es der Soziologe Hartmut Rosa so schön nennt, Resonanz. Also, ich will was auslösen beim anderen, deswegen, das fand ich auch eine sehr überraschende Erkenntnis, dass sozusagen totale Missachtung, totale Ignoranz, nicht auf den anderen zu reagieren, dass das fast das Schlimmste ist, was Menschen einander antun können. Das ist schlimmer, als angeschrien und fertiggemacht und erniedrigt und gedemütigt zu werden. Es gibt auch Psychologen, Psychiater, die sagen, das ist sogar schlimmer als körperliche Gewalt.
    Narzissten sind zumeist wenig empathisch
    Drees: Narzissmus ist ein Begriff, der in Ihren Betrachtungen eine Rolle spielt. In welchem Austauschverhältnis stehen Narzissmus und emotionale Gewalt?
    Bartens: Narzissten sind häufig in Machtpositionen gelangt oder können da ihren Narzissmus besonders ausüben. Also das, was sozusagen positiv – ich will etwas erreichen, ich setze mir diese Ziele –, was die positive Seite eines Narzissten sein kann, führt eben auch dazu, dass sie häufig Karriere machen. Wenn man dann so einen Narzissten und vielleicht Choleriker als Chef hat, dann achtet der halt überhaupt nicht darauf, wie seine Mitarbeiter oder Kollegen oder Untergebenen reagieren, und denkt nur an seine eigene Großartigkeit und macht dann eben andere fertig und führt sie vor und hat dabei eigene Machtbefriedigungserlebnisse und sonnt sich vielleicht noch darin, wenn er besonders eloquent, intelligent, schlau, mit Wortspielen da die Mitarbeiter fertigmacht und ahnt gar nicht, wie sehr die das erniedrigt. Es gibt ja diesen Spruch, ist im Journalismus sehr bekannt, dass eben in der Journalistenausbildung gesagt wurde, Ihr Text hat Stärken und Schwächen, und dann dachten alle, aha, ein ausgewogenes Lob, und dann kommt halt "er fing schwach an und fiel dann stark ab". Und da hat sich der entsprechende, das ist vielfach überliefert, der Dozent natürlich gefreut, was für ein scharfsinnig schlaues Kerlchen er mit dieser Kritik war. Und andere waren dann, die das abgekriegt haben, gedemütigt vor der ganzen Mannschaft. Und das bleibt dann für den Narzissten, die zumeist auch wenig empathisch sind, der kriegt das gar nicht mit und denkt nur, na, dem habe ich es aber gezeigt, mit einem lockeren Spruch mal eben gezeigt, wo hier die Grenzen sind und wer das Sagen hat.
    Drees: Wobei auch die Empathie dazu führen kann, wenn man sie richtig einsetzt, dass man als Narzisst umso besser manipulieren kann, weil man ja weiß, wie der andere sich fühlt. Vor über einem Jahr hatten wir hier im Büchermarkt ein Gespräch mit Fritz Breithaupt, wie er sich mit den dunklen Seiten der Empathie beschäftigt hat, ein Band, der bei Suhrkamp erschienen ist. Gibt es denn Faktoren, die emotionale Gewalt begünstigen?
    "Love it, change it or leave it"
    Bartens: Ja. Wer quasi von Kind auf, vielleicht durch eine unglückliche Beziehung zur Mutter oder zum Vater erleben musste oder gelernt hat sozusagen, ich bin schuld, oder ich habe das verursacht, also früh gelernt hat, ein schlechtes Gewissen zu bekommen, der fühlt sich natürlich schnell verantwortlich und zieht sich jeden Schuh an. Ein Beispiel: Wenn ich in einem Team vom Chef runtergemacht werde, dann gibt es Leute, die das sofort auf sich beziehen, auch wenn da sechs andere noch sind, die in dieser Arbeitsgruppe sind, also die sofort sagen, ja klar, okay, ich hab das auch jetzt nicht so gut gemacht oder nicht genügend mich da vorbereitet, wie auch immer.
    Es gibt ja, das schildere ich in dem Buch, diesen furchtbaren Fall eines Mädchens. Sie war im Grundschulalter, und immer, wenn die Mutter wütend auf das Kind war, dann ist sie im Wohnzimmer umgefallen und hat tot gespielt, also hat so getan, als ob sie jetzt wirklich stirbt und auf dem Teppich gelegen und sich nicht gerührt. Und das Mädchen, mit sechs, sieben Jahren, stand daneben und dachte, sie hat die Mutter umgebracht. Und erst nach einer Zeit stand die Mutter dann wieder auf, das Kind war erleichtert. Und das hat die mehrmals gemacht, bis das Kind, das Mädchen natürlich alles so gemacht hat, wie die Mutter das wollte. Und dieses Mädchen, dieses Kind wird natürlich zeitlebens anfällig sein für schlechtes Gewissen, für "Ich bin schuld, oh Gott, das liegt jetzt an mir." Und wer so eine Konstellation, so einen Hintergrund hat, der ist sehr anfällig.
    Ein weiterer Punkt ist dieses Stichwort, es sich sozusagen bequem zu machen in der Opferrolle. Und dazu gehört eben auch, ja, es kann ja sein, dass man Fehler macht, es kann ja sein, dass man zu Recht auch mal runtergeputzt wird. Aber dann muss man sagen, okay, ich kann damit aber was tun, also Stichwort Selbstwirksamkeit. Ich kann sagen, "das ist ungerechtfertigt", oder "wir machen alle mal Fehler" oder "es lag gar nicht an mir" oder der Chef, der, der das gemacht hat, der Partner, der Freund, der war einfach nur wütend und hatte einen schlechten Tag. Es gibt ja viele Mechanismen, mit denen wir das einordnen können und sagen, nein, nicht ich bin schlecht und in meinem Kern nichtswürdig und klein und mies – denn auf so eine Haltung zielt ja die emotionale Gewalt, sondern ich kann das sozusagen erklären, warum es am anderen liegt, warum es ungerechtfertigt ist oder warum es in dem Fall vielleicht zutrifft, aber ich deswegen trotzdem nicht in Gänze ein schlechter Mensch bin, der verdammungswürdig ist und runtergemacht werden soll. Und dann kann man so was eben viel einfacher oder viel besser ins Leere laufen lassen und sagen, okay, reagier dich nur ab, und ich nehme allenfalls das mit, was vielleicht hoffentlich an konstruktiver Kritik auch bei dem Ganzen ist.
    Aber dieses Geschrei und dieses Fertigmachen, das zieh ich mir nicht an, den Schuh. Und mich deswegen in meiner ganzen Person entwerten zu lassen, das erst recht nicht. Und das ist, glaube ich, auch ein wichtiges Stichwort, dieses Selbstwertgefühl. Da geht es gar nicht darum, zu sagen, ich bin toll, sondern einfach, ich bin um meiner selbst willen als Mensch wertvoll, unabhängig von meiner Leistung, so an sich, wie ich da bin. Und ich lasse mir diesen Wert nicht nehmen, weder von cholerischen Chefs noch von blöden Lehrern oder Professoren noch von irgendeiner Partnerin oder einem Partner, die mir nicht gut tun. Und dann muss man natürlich auch, da gibt es ja diesen schönen Dreischritt – "Love it, change it or leave it". Da muss man natürlich auch gucken, okay, was ist jetzt der nächste Schritt? Kann ich die Situation, auch wenn ich das Gefühl habe, ich werde da häufig fertiggemacht, doch irgendwie so anerkennen durch die eben genannten Mechanismen, dass ich damit zurechtkomme und es vielleicht sogar dann okay finde. Kann ich was verändern, indem ich sage, andere Abteilung, oder lieber Chef, wir müssen reden, oder liebe Partnerin, lieber Partner, so geht das nicht mit uns weiter. Ich verändere was. Oder, wenn es ebenso toxische Verhältnisse sind und die unverrückbar erscheinen. Manche Dinge kann man ja schlecht reformieren. Wenn ich in irgendeinem Machtgefüge bin – ich schreibe ja auch von autoritären Machtstrukturen, wie es sie beim Militär zwangsläufig regelmäßig gibt, oder auch eben in manchen Sportbeziehungen oder anderen autoritären Verhältnissen, dann muss ich einfach sagen, okay, tschüs, das war's, ich verlasse hier den Laden.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
    Werner Bartens: "Emotionale Gewalt", Rowohlt Berlin, 302 Seiten, 20 Euro