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Sankt Petersburg
Streit um die Isaakskathedrale

In Sankt Petersburg hat sich ein Streit am künftigen Schicksal des größten Kirchengebäudes entzündet. Die Isaakskathedrale soll in die Hände der Orthodoxen Kirche übergehen, so hat es der Gouverneur entschieden. Dabei galt die Kathedrale traditionell als Symbol der Staatlichkeit und der Offenheit Russlands.

Von Thielko Grieß | 24.03.2017
    Die Issakskathedrale in Sankt Petersburg
    Geht es nach dem Willen des Petersburger Gouverneurs, soll die Issakskathedrale künftig der Orthodoxen Kirche gehören. (dpa)
    Petersburger, Leningrader! – so beginnt der offene Brief, der ihre Unterschrift trägt.
    "Ich habe zu lang unter den Sowjets gelebt. Damals erschien es uns, als ob sich niemals etwas ändern würde. Aber Veränderungen müssen vernünftig sein."
    Vera Somina hat in ihrem Wohnzimmer Platz genommen, die Gardinen lassen nur wenig Licht hinein, das Mobiliar stammt aus der Sowjetzeit. Sie wohnt fußläufig von der Kathedrale entfernt, hat immer in ihrer Nähe gelebt und gearbeitet. Die Theaterwissenschaftlerin ist heute Ende 70. Mit zwei Freundinnen hat sie den Brief formuliert: Die Stadt ist wieder in Gefahr. Wieder – wie einst, als die Wehrmacht die Stadt belagerte und ihr Bruder in dieser Zeit als Verteidiger starb. Die Leningrader hatten die goldene Kuppel grau gestrichen, damit sie die Artillerie nicht auf sich lenkt. In ihren Kellergewölben versteckten sie Schätze aus anderen Museen. Die Kathedrale wurde kaum zerstört, aber jetzt wollen mächtige Beamte zum Schlag ausholen.
    "Das ist keine Kirche. Man geht dort nicht hin, um sich zu freuen, sich trösten zu lassen oder um zu weinen. Das ist ein Symbol der Stadt. Es ist mir nie in den Sinn gekommen, dort Kerzen aufzustellen für die Gesundheit der Angehörigen oder den Seelenfrieden eines Verstorbenen."
    Unverständnis bei Petersburger Bürgern
    Halb zehn Vormittag. In einem Seitenschiff der Isaakskathedrale nehmen vielleicht 20 Menschen an einer orthodoxen Messe teil. Gäbe es keinen Gesang, blieben sie fast unbemerkt. Schon jetzt wird zwei Mal täglich eine Messe gefeiert. Warum kann es so nicht bleiben, fragt Anna Tarassowa, Petersburgerin, Mitarbeiterin des Museums.
    "Viele verstehen nicht, warum die goldene Mitte zerstört wird, die es hier in den letzten Jahrzehnten gegeben hat. Hier gibt es ein ideales Beispiel der Zusammenarbeit zwischen der Kirche und dem Museum. Die Gläubigen können immer umsonst hereinkommen, während die Touristen und Führungsteilnehmer Tickets kaufen, die eh nicht so teuer sind. Und nie hat es irgendwelche Konflikte gegeben."
    Sie fürchtet: Ist erst die Orthodoxe Kirche Hausherrin, wie es der Gouverneur entschieden hat, ist es mit der Koexistenz vorbei. Dann könnten Besuchszeiten eingeschränkt werden, gelten womöglich strenge Kleidungsvorschriften.
    "Selbst die Zaren haben das Gebäude der Kirche nie übergeben. Alexander der Zweite und der Dritte haben der Bitte vonseiten der Kirche widersprochen, weil es ein Symbol der Staatlichkeit und der Offenheit Russlands ist. Am Bau waren über 40 Jahre lang eine halbe Million Menschen beteiligt, darunter der französische Architekt Montferrand und viele mehr."
    Die Kathedrale protzt mit blauem Marmor aus Afghanistan, mit Mosaiken, Dutzenden Säulen aus einem Stück und einem aufwendigen Fundament, das den Steinbau im Sankt Petersburger Sumpf erst ermöglicht hat – bezahlt vom russischen Staat, von der Kirche kam keine einzige Kopeke.
    Am Ende ihrer Führung räumt Anna Tarassowa ihr Versäumnis ein: Sie hat sich nie für Politik interessiert.
    "Jetzt schämen wir uns dafür. Es gibt so einen Spruch: Wenn man sich nicht mit Politik beschäftigt, wird sich die Politik mit einem beschäftigen."
    Misstrauen gegenüber der Orthodoxen Kirche
    Im Untergeschoss einer anderen Kirche brennen Kerzen, Gläubige kommen herein. Es ist die Feodorowski-Kathedrale in Sankt Petersburg. Priester Alexander Sorokin, kommt zügigen Schrittes heran, stellt Stühle zusammen. Er trägt ein schwarzes Gewand, hat gleich in der Messe zu tun. Er ist Geistlicher und gleichzeitig so etwas wie ein Pressesprecher der Orthodoxen Kirche in Sankt Petersburg. Er weiß um den Widerstand in der Stadt.
    "Aus meiner Sicht sollten die Schwerpunkte verschoben werden. Es geht nicht darum, das Museum abzuschaffen und eine Kirche an seine Stelle zu setzen. Es soll nicht eine Museumskirche, sondern eine Kirche mit Museum sein." Wie die genau aussehen soll, darüber will er nicht spekulieren. Unklar ist auch, wie die Kirche den Erhalt bezahlen will. "Ich nehme an, dass es Spenden geben wird. Die Russisch-Orthodoxe Kirche ist groß. Wir werden Menschen finden, die Geld haben."
    Unter den Gläubigen, die hier zur Messe kommen, finden sich manche, die keine Meinung haben. Andere sagen, Museum und Kirche müssten irgendwie zusammenfinden. Diese Frau indes ist entschieden:
    "Als die Kirche gebaut wurde, hat man über ihrem Haupteingang eine Inschrift angebracht: 'Mein Haus wird ein Bethaus genannt werden'. Damit ist alles gesagt. Ich verstehe nicht, warum es so ein Misstrauen gegen unsere Orthodoxe Kirche gibt."
    "Das ist unsere Stadt!", rufen einige tausend Demonstranten, die sich auf dem Marsfeld in der Nähe der Eremitage versammelt haben. Vor der Bühne und auf der Bühne viele ältere Menschen, wenige Junge. Es ist ein bürgerlicher Protest, in Russland ein seltenes Ereignis.
    "Die sich hier versammelnde Mehrheit ist ganz nach meinem Geschmack", sagt ein Redner. "Gerade das charakterisiert den Leningrader und den Petersburger. Intellekt und Kultur sind unsere Grundlage. Und außerdem Herzlichkeit, Menschlichkeit. Das ist das Wichtigste, das uns vereinigt."
    Es ist nicht allein das Schicksal der Isaakskathedrale, das die Leute bewegt. Sie sind auch dagegen, die Nationalbibliothek in Sankt Petersburg mit der Russischen Staatsbibliothek in Moskau zusammenzulegen, und sie sind gegen manches Bauprojekt.
    Die Menschen, die hier demonstrieren, fühlen sich übergangen und sehen provinzielle Politiker am Werk, die von der Petersburger Seele nichts verstehen. Gegen sie gilt es, zusammenzustehen, damit die Stadt nicht ausgeraubt wird, singen sie. Eine Reaktion des Gouverneurs, ein Gesprächsangebot, gibt es bislang nicht.