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Saramago ungefiltert

"Das Tagebuch" ist keines. Der Titel des portugiesischen Originals lautet "o caderno" und das heißt: das Notizbuch oder auch Notebook. In Wahrheit geht es hier um Kommentare und Glossen, die für das Internet geschrieben wurden. So was nennt man heute Blog.

Von Walter van Rossum | 15.12.2010
    José Saramago beginnt seinen Blog im September 2008. Und man staunt: Da geht eine der edelsten literarischen Federn im zarten Alter von 86 Jahren online und publiziert in unregelmäßigen Abständen seine Ansichten zu Gott und der Welt im Netz.

    "Gott ist das Schweigen des Universums. Und der Mensch ist der Schrei, der diesem Schweigen Sinn verleiht."

    Doch dieser so feinsinnige literarische Metaphysiker sorgt sich in seinen Blogs weniger um Gott, er fragt sich eher, welchen Anteil die Religionen am Leid der Menschheit haben, und fragt sich bei Gelegenheit, was Gott wohl von göttlichen Sendboten wie Papst Ratzinger und anderen Kardinälen denken mag. Der Mann ist 1922 geboren, er hat über 50 Jahre unter einer katholischen Diktatur gelebt. Er weiß, wovon er redet. Doch er weiß auch, dass die real existierenden Plagegeister heute woanders stecken und dabei auch noch gerne von Freiheit schwadronieren:

    "Ich frage mich, wieso die USA, ein in jeder Hinsicht großes Land, so oft so kleine Präsidenten haben. George Bush ist vielleicht der kleinste von allen. Mit seinem Mittelmaß an Intelligenz, seiner abgrundtiefen Ignoranz, seiner wirren Ausdrucksweise, ständig der unwiderstehlichen Versuchung erlegen, Blödsinn zu reden, präsentiert sich dieser Mann so grotesk wie ein Cowboy, der die Welt geerbt hat und diese wie eine Viehherde behandelt. Wir wissen nicht, was er wirklich denkt, wir wissen nicht, ob er überhaupt denkt (ganz wörtlich gemeint), wir wissen nicht, ob er nicht womöglich ein schlecht programmierter Roboter ist, der die in ihm gespeicherten Befehle ständig durcheinanderbringt."

    So bricht es ganz ungefiltert aus im hervor. Und Saramago lässt es öfters so krachen. Wenn es nicht um Bush geht, dann um Berlusconi, Sarkozy und tutti quanti. Ohne große intellektuelle Umstände nennt Saramago die Schweinereien, die unter dem heiteren Himmel der Demokratie geschehen.

    Und hat er nicht recht? Solange wir die Dinge nicht bei ihrem rohen Namen nennen, so lange drücken wir uns vor den Konsequenzen. Es ist leicht manchen dieser Notizen intellektuelle Grobheit vorzuwerfen, aber was sagen wir dann über uns Demokraten, Humanisten, Freidenker, die wir niemals den Mut hatten, diese schlichten Wahrheiten auszusprechen? Was ist dann mit dem Schweigen der Intellektuellen, die es nun wirklich besser wissen konnten und offenbar nicht wissen wollten?

    Wer den Romancier kennt, wer weiß, wie leidenschaftlich und tiefgründig Saramago in seinen Romanen die Welt verrätselt und die Zeichen der Orientierung erzählend überschreibt, der wird sich wundern über diesen politischen Scharfschützen. Bekanntlich hat er fast alle seine großen Romane erst nach der Nelkenrevolution von 1974 geschrieben. Man darf in einiger Vereinfachung vielleicht sogar sagen: Der große Schriftsteller verdankt seine Größe auch den Enttäuschungen über die politischen Realitäten. Seine Romane sind zwar meist hochpolitisch, doch sie sind vor allem hochliterarisch.

    Mit seinen Notizen für das Internet knüpft Saramago an seine Zeit während der Diktatur an als Kolumnist, Literaturkritiker und Kommunist. Kommunist ist er geblieben. Und offenkundig hatte der alte Mann noch nicht vor, sich im literarischen Pantheon einzuschließen und ewige Sätze in Marmor zu meißeln. Zu seinem 86. Geburtstag schreibt er in seinem Blog:

    "Es stößt mir bitter auf, die Gewissheit zu haben, dass ein paar vernünftige Dinge, die ich im Laufe meines Lebens gesagt habe, am Ende keinerlei Bedeutung haben werden. Und warum sollten sie auch? Welche Rolle spielt das Summen der Bienen innerhalb des Bienenstocks? Dient es ihnen, sich einander mitzuteilen? (...) Und wie ist das mit uns? Sprechen wir aus dem gleichen Grund, aus dem wir schwitzen? Einfach nur so? Der Schweiß verdunstet, wird abgewaschen, verschwindet, früher oder später landet er in den Wolken. Und Wörter? Wohin gehen die? Wie viele bleiben? Für wie lange? Und letztlich wofür?"

    Ist es nicht so? Er hat bedeutende Werke geschrieben. Man hat sie zur Kenntnis genommen, den Autor gar mit Ehrungen überhäuft, für den realen Lauf der Dinge hat das nie eine Rolle gespielt. Das ist nicht resigniert, das ist nicht kokett, Saramago relativiert nur das Gewicht der Literatur. Und das mag den alten weisen Mann ermutigt haben, noch mal die Knoten seiner politischen Ungeduld platzen und seinem Zorn freien Lauf zu lassen. Und vielleicht hat ihn auch dieses neue Medium herausgefordert, das Internet und das Bloggen, diese seltsame Sorte Gebrauchstext, noch einmal von den Höhen geistgeschützter Gesellschaftskritik herabzusteigen und mit einem anderen Publikum in Kontakt zu treten. Es ist nicht das Schlechteste, wenn man über einen bedeutenden Schriftsteller sagen kann: Er misstraute bis zuletzt der Kultur, die ihn hervorgebracht und gefeiert hat.

    "Die Journalisten interessierte mein Entschluss, auf der "grenzenlosen Seite" des Internets zu schreiben. Kann es ein, dass wir uns hier genau genommen alle angleichen? Kommt dies der Macht des Bürgers am nächsten? Sind wir kameradschaftlicher, wenn wir im Internet schreiben? Ich habe keine Antworten, vermerke nur die Fragen: Und es gefällt mir, jetzt hier zu schreiben. Ich weiß nicht, ob es demokratischer ist, aber ich weiß, dass ich mich dem jungen Mann mit dem strubbeligen Haar und der Intellektuellbrille ebenbürtig fühle, der mich mit seinen weniger als zwanzig Jahren befragt hat. Garantiert für einen Blog."

    Übrigens hat Saramago auch in seinem Internetblog nicht aufgehört, ein geistreicher humorvoller Schriftsteller zu sein: wenn er von diversen Reisen berichtet, zufälligen Begegnungen, vor allem aber, wenn er über die Schriftsteller schreibt, die er liebt, etwa über Fernando Pessoa, Jorge Amado oder Carlos Fuentes.

    Man schreibt für seine Zeit, hat Jean-Paul Sartre postuliert, und José Saramago hätte dem wahrscheinlich leidenschaftlich zugestimmt. Man schreibt auch für bestimmte Medien. Und so darf man sich fragen, ob man diesen Internet-Notizen gerecht wird, wenn man sie der Umgebung des Netzes entreißt, also den Bedingungen einer spezifischen Veröffentlichungsform, und wieder in ein klassisches Buch zurückübersetzt. Doch mit Sicherheit grenzt es an Betrug, wenn man diese ganz unterschiedlichen tagesaktuellen Einlassungen eines wundervollen Schriftstellers Tagebuch nennt.

    José Saramago: "Das Tagebuch". Aus dem Portugiesischen von Marianne Gareis und Karin von Schweder-Schreiner. Hoffmann und Campe. Hamburg 2010. 208 S. 16 Euro