Freitag, 29. März 2024

Corona
Die größte News-Story

Die Corona-Krise ist nicht nur die größte Nachrichtenlage des Jahrhunderts. Sie hat weitreichende Folgen für den Journalismus selbst. Verlässliche Informationen werden gebraucht und geschätzt wie lange nicht mehr. Auf der anderen Seite stehen gewaltige organisatorische Herausforderungen und große Gefahren für die Medien.

Von Marco Bertolaso | 01.07.2020
    Ein Leser studiert die Schlagzeilen während der Coronakrise am Aushangkasten der Kölnischen Rundschau. Köln, 08.04.2020 | Verwendung weltweit
    Die Corona-Krise bestimmt seit Monaten die Inhalte der Medien (picture alliance / Geisler Fotopress / Christoph Hardt)
    Dieser Artikel ist entstanden als Beitrag zur Ausgabe Juni 2020 der WZB-Mitteilungen, einer Publikation des "Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung."
    Die Corona-Pandemie ist die größte News Story, die unser Jahrhundert bisher gesehen hat. Es gibt dramatischere Ereignisse wie den Syrienkrieg, die allerdings nur einen Teil der Welt betreffen. Es gibt bedeutende globale Entwicklungen wie die digitale Transformation oder die Erderwärmung. Sie wiederum wirken langsam und über Jahre hinweg. Corona ist da ganz anders.
    Die Pandemie ist in kürzester Zeit zu einer weltumspannenden Bedrohung und damit zu einem globalen Thema geworden, mit "Breaking News" am laufenden Band: China riegelte eine Elf-Millionen-Stadt ab, etwas später verhängte Indien schon eine Ausgangssperre für mehr als eine Milliarde Menschen. Von Bergamo bis New York mussten Soldaten bei der Bestattung der Toten helfen. An den Ostertagen war das öffentliche Leben auf der ganzen Welt eingeschränkt oder gar zum Stillstand gekommen. Europa und Nordamerika waren komplett im Bann der Pandemie. Nun werden weitere Regionen zum Zentrum der Pandemie. Afrika und vor allem Lateinamerika befürchten das Schlimmste. Aber Corona ist nicht nur ein globales Thema, sondern dominiert auch regional und lokal: von Schulen über Sporteinrichtungen bis hin zu Vereinen und Familien – alle Bereiche von Gesellschaft und Leben sind betroffen.
    Informationsjournalismus – eine komplexe Organisation
    Für die Nachrichtenbranche bringt diese außergewöhnliche Nachrichtenlage Gefahren und Chancen zugleich. Wie andere gesellschaftliche Teilbereiche zeigt sich der Informationsjournalismus bei näherer Betrachtung als komplexe Organisation. Nachrichtenredaktionen sind auf externe Strukturen und Ressourcen angewiesen: Finanzierung, Korrespondentennetze, Produktionsmittel, Infrastruktur zur Verbreitung der Inhalte.
    Größere Nachrichtenredaktionen gehen arbeitsteilig vor. Themensetzung, Recherche, Produktion Präsentation, digitale Verbreitung und Nutzerdialog liegen nicht in einer Hand. Trotzdem sind Nachrichtenredaktionen zugleich in ständiger gemeinschaftlicher Kommunikation über Inhalte, Arbeitsschritte und Prioritäten. Die besten Redaktionen passen ihre Abläufe sich verändernden Lagen in Sekunden an. Dazu gehören planbare Herausforderungen wie ein Wahlabend und plötzliche Herausforderungen wie Anschläge, Rücktritte oder Flugzeugabstürze. Die Redaktionen bauen deshalb stark auf Erfahrung und eingeübte Binnenroutinen. Diese hat Corona nun auf den Kopf gestellt.
    Corona strukturiert die Redaktionen um
    Ein Webangebot und der redaktionelle Teil der gedruckten Zeitung können bei entsprechenden technischen Gegebenheiten in allseitiger Heimarbeit zusammengestellt werden. Radio- und Fernsehsendungen sind aber noch immer an eine Studio- und Sendebetriebslandschaft gebunden, selbst wenn man bei der Bild- und Tonqualität einzelner Zulieferungen zu Rabatten bereit ist. Im Redaktionsgroßraum der Deutschlandfunk-Nachrichten arbeiten üblicherweise an die zehn Kolleginnen und Kollegen, nun sind es maximal vier gleichzeitig und mit großer Distanz zueinander. Für die anderen gibt es Ausweicharbeitsplätze im Funkhaus und vor allem die Option Heimarbeit. Von heute auf morgen haben wir damit eine neue Netzwerkorganisation schaffen müssen. Wir konnten nicht sachlogisch danach vorgehen, welche arbeitsteilige Rolle eher von zu Hause ausgeübt werden kann. Denn Heimarbeit ist ein Muss für diejenigen, die zu einer der Risikogruppen zählen. Die neue Organisationsform ist revolutionär über unsere Redaktion gekommen. Es gab keine Evolution im Sinne eines Aufbaus technischer Voraussetzungen oder verschiedener Testphasen und Schulungen.
    Wer darf an den PC, wer betreut die Kinder?
    Meine Kolleginnen und Kollegen können daheim nicht auf eine vom Arbeitgeber überlassene und gewartete Infrastruktur zurückgreifen. Vielmehr stellen sie wie Millionen anderer Menschen ihre private Infrastruktur zur Verfügung, die meist nicht auf die berufliche Volllast ausgelegt ist. Bei Menschen in Partnerschaft kann es zu Ressourcenkonflikten kommen: Wer darf wann an den PC, wer bekommt das WLAN, wer betreut die Kinder?
    In der Zwischenbilanz können wir dennoch sagen: Unter schwierigsten Umständen und mit einer gewaltigen Nachrichtenlage funktioniert der Betrieb nach wie vor gut. Wir sehen, dass der Spielraum für Heimarbeit größer ist, als wir dachten. Doch wir ringen mit Zeit- und Qualitätsverlust durch naturgemäß unzureichende technische Bedingungen. Wir leiden an Reibungsverlusten in der für uns so wichtigen Kommunikation. "Skype" und Chatplattformen sind wunderbar – sie ersetzen aber das redaktionelle Dauergespräch nicht. Meine Prognose für die Nach-Corona-Zeit ist, dass wir einige Elemente der standortunabhängigen Arbeit behalten, sie aber stark professionalisieren müssen.
    Finanzierung des Journalismus und Pressefreiheit

    Für einige Medien ist die größte Nachrichtengeschichte des Jahrhunderts existenzbedrohend. Wer seinen Journalismus mit Werbung finanziert, der bangt mit jedem wankenden Unternehmen. Wer von Abonnentinnen und Abonnenten lebt, sieht deren Arbeitslosigkeit oder Kurzarbeit mit großer Sorge. Deutschland steht dank der finanziellen Interventionsmöglichkeiten einer zumindest im Ganzen wohlhabenden Gesellschaft noch gut da. In anderen Ländern, angefangen bei den USA, ist die Gefahr groß, dass Corona für manche Zeitungen, Radiostationen oder unabhängige Netzprojekte das Aus bedeutet.
    In vielen Staaten gerät zudem die Pressefreiheit weiter unter Druck. Krisen sind ein gern genutzter Vorwand, um unbequeme Stimmen verstummen zu lassen. Die Organisation "Reporter ohne Grenzen" hat im April geschildert, wie Behörden in China und im Iran, den beiden frühen Hotspots des Virus, gegen Medien vorgegangen sind, um das Ausmaß der Epidemie zu vertuschen. In Ungarn können Berichterstatter*innen, die "Falschinformationen" oder "Panik" verbreiten, zumindest einstweilen mit fünf Jahren Haft bestraft werden. Die Liste ähnlicher Fälle ist lang. Einige Regimes betreiben auch beim Thema Corona internationale Desinformations- und Propagandakampagnen. Diese "Infodemie", wie die Weltgesundheitsorganisation WHO sie nennt, gefährdet und erschwert journalistische Arbeit.
    Nachrichten dürfen nicht zu Regierungsdurchsagen werden

    Über den Widerstreit, in dem sich Pandemiebekämpfung und Freiheitsrechte befinden, wird auch in Deutschland diskutiert. Gingen und gehen die Einschränkungen zu weit, mussten sie tatsächlich im Eilverfahren beschlossen werden? Sollen wir neuen Ortungs-Apps Tür und Tor öffnen? Mit solchen Fragen beschäftigt sich der Journalismus ausführlich – und er kennt verwandte Probleme: Wenn die Krise die Stunde der Exekutive ist, müssen wir verhindern, dass Nachrichten nur aus Regierungsdurchsagen bestehen. Wenn sich fast alle einig sind, dürfen wir die Informationssendungen nicht zu patriotischen Antiseuchenbeschwörungen verkommen lassen.
    Wenn es scheinbar nur noch ein Thema gibt, müssen wir um Aufmerksamkeit für andere wichtige Themen werben, auch wenn Corona im Zweifel besser geklickt wird. Das gilt nicht zuletzt für die Aufrechterhaltung einer umfassenden Auslandsberichterstattung. Wir müssen weiter achtgeben, was in den vielen Diktaturen dieser Welt geschieht. Wir müssen nicht nur melden, sondern verständlich machen, warum viele Menschen in Italien derzeit mit der EU und insbesondere mit Deutschland hadern. Wir müssen Erschütterungen und erste Veränderungen der Globalisierung beobachten und vermitteln.
    Information ist lebenswichtig
    Nachrichten waren lange nicht so nachgefragt wie jetzt. Wenn es ernst wird, besinnen sich viele Menschen darauf, wie wichtig verlässliche Information ist. Lebenswichtig sogar, wenn es um die Infektionsgefahr und den Zustand unseres Gesundheitssystems geht, um Verhaltensregeln oder die Suche nach Impfstoffen und Medikamenten. Wir alle wollen wissen, wann wir wieder zu einer gewissen Normalität zurückkehren können. Wir wollen erfahren, wann wir Verwandte und Freunde wieder umarmen dürfen und wann die Schulen und Kitas wieder durchgängig öffnen. Wir sind besorgt, wie die Dinge für unsere Wirtschaft und den Arbeitsmarkt stehen.
    Öffentlich-rechtliche Angebote erfahren so nach Jahren der Angriffe aus neoliberaler und populistischer Richtung neue Wertschätzung. Der Lokaljournalismus ist vielerorts eine bedrohte Art. Jetzt wissen alle, wofür er gut ist. Das gilt auch für den Wissenschaftsjournalismus, obwohl die vergangenen Jahre von Kürzungen bei Fachredaktionen verschiedenster Art geprägt waren. Unsere Arbeit ist offiziell als "systemrelevant" anerkannt. Systemrelevant, das waren einst die Banken oder Automobilhersteller. Jetzt sind es Ärztinnen und Pfleger, Verkäufer und Kassiererinnen, aber eben auch ein wenig wir Journalisten und Journalistinnen.
    Was über Corona hinaus bleiben sollte
    Allenthalben besteht die Hoffnung, dass Erfahrungen aus der Corona-Phase nicht zu schnell vergessen sein werden. Mein Wunsch für den Nachrichtenbereich ist ein kritischerer Blick auf die Globalisierung und auf die überzogene Ökonomisierung vieler Gesellschaftsbereiche. Mein Wunsch ist mehr Offenheit für die Belange der Menschen, für die wir gerade abends Beifall klatschen. Das wäre auch der richtige Weg, um die neue Anerkennung für den Informationsjournalismus über Corona hinaus lebendig zu halten.