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Sartre. Der Philosoph des 20. Jahrhunderts

Ungefähr fünfzigtausend Menschen folgten am 19. April 1980 seinem Sarg durch die Pariser Straßen. Kein anderer Schriftsteller, schon gar kein anderer Philosoph hat im 20. Jahrhundert ein solches Gefolge hinter sich vereinen können wie Jean-Paul Sartre, weder als Lebender noch als Toter. Einer derjenigen, die damals im Trauerzug dabei waren, hieß Bernard-Henri Lévy. Der gehörte neben André Glucksmann und anderen zu den sogenannten "Neuen Philosophen", die einige Jahre vorher begonnen hatten, die Meisterdenker des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts zu kritisieren, zu denen aus ihrer Perspektive auch und gerade Sartre gehörte. Die retrospektiv aufgearbeiteten Gedanken, die ihn im Trauerzug bewegten, sind nicht ohne Pathos.

Jochen Schimmang | 24.11.2002
    Würde es andere Sartre geben - oder war er der einzige seiner Art, ein Einzelexemplar, oder vielleicht das letzte einer nun mit ihm ausgestorbenen Gattung? Weshalb war ich selbst hier? Wie kam es, dass auch ich das Bedürfnis empfand, diesem Mann die letzte Ehre zu erweisen, von dem ich mir weder sicher war, ihn geliebt zu haben, noch umgekehrt, ihn nicht geliebt zu haben? (...) War er ein großer Schriftsteller? Ein Schmelztiegel für Gefühle und Verstandeskräfte? Eine Zuflucht für die Zeitgenossen? Ein Kompass? Und nahmen wir, als er verschwand und wir ihm ein letztes Lebewohl sagten, zugleich Abschied von einer Epoche?

    So sieht es zunächst aus. Der Marxismus und überhaupt die Idee der Revolution, die in der zweiten Lebenshälfte auf Sartres Denken eine so große Anziehungskraft ausgeübt hatten, wurde in den Folgejahren zunehmend diskreditiert und fiel im Jahr 1989 einfach in sich zusammen. Sartre schien jetzt ein toter Hund zu sein, der Denker einer vergangenen Epoche, einer Epoche der falschen Leidenschaften und der Irrtümer, schon in seinen letzten Lebensjahrzehnten vom Denken des Strukturalismus verdrängt. Lévi-Strauss, Foucault, Althusser - alle schienen auf ihre Art nachgewiesen zu haben, wie veraltet, wie simplifizierend, wie subjektivistisch und bewusstseinsphilosophisch verengt das Sartresche Denken war. Bernard-Henri Lévys neue Biographie trägt dagegen den Untertitel "Der Philosoph des 20. Jahrhunderts", und der zentrale, nämlich mittlere ihrer drei Teile heißt "Gerechtigkeit für Jean-Paul Sartre". Die ist schon allein deshalb erforderlich, weil Sartre vermutlich der erste Denker war, dessen Diskurs populär und global sein wollte und es auch war, selbst da, wo sich das nur in der sogenannten Existenzialistenmode der späten vierziger und der fünfziger Jahre ausdrückte.

    Um es vorweg zu sagen: Es ist eine überaus gründlich gearbeitete und recherchierte Biographie, die sich dem Werk widmet und das Leben meist nur berührt, wo es exemplarisch für Sartres Denken ist. Eine Biographie, die der Gefahr der Eitelkeit souverän entkommt, obwohl Lévy, heute selber einer der führenden französischen Intellektuellen, selbstverständlich hier und da von sich selber spricht. Eine Biographie schließlich, die an Perspektiven aufs Sartresche Werk und darüber hinaus auf das Denken des 20. Jahrhunderts so reich ist, dass hier nur stelltvertretend die wichtigsten davon näher untersucht werden können.

    Lévy unterscheidet einen frühen und einen späteren, einen jungen und einen alten Sartre, und diese Unterscheidung sagt primär nicht etwas über Lebensalter und über Früh- und Spätwerk aus, sondern meint zwei ganz verschiedene Personen und ganz verschiedene Textarten. Der frühe Sartre ist eben im Blick Lévys gerade nicht der Vorläufer, der Embryo des späteren und der alte nicht seine Weiterentwicklung, sondern der Repräsentant eines fundamentalen Bruchs in seinem Denken. Was Lévy heute unverändert aufregend und aktuell findet, das gehört dem jungen Sartre an, wenigen Werken wie "Das Sein und das Nichts", "Der Ekel" den Erzählungen aus den dreißiger Jahren sowie einigen Essays. Dem jungen Sartre ist allerdings nach dieser Klassifizierung auch das große Spätwerk über Flaubert zuzurechnen. Es handelt sich nicht ums Lebensalter, es handelt sich um eine Form des Denkens. Die verteidigt Lévy gegen ihre späteren Kritiker, denn er will...

    ...die absurde Legende entkräften..., die aus jenem frühen Sartre einen völlig altmodischen, am cartesianischen Subjekt orientierten, einfältig dualistisch argumentierenden Philosophen machte, der den Errungenschaften der philosophischen Moderne gegenüber völlig taub und so sehr von seinem geliebten ‚Bewusstsein' besessen gewesen sei, dass er schließlich das Rendezvous mit den Sachen selbst verpasst habe.

    Weit entfernt davon, ein Spiritualist, Humanist und Bewusstseinsphilosoph zu sein, ist dieser Sartre vielmehr in seinem Nachdenken über die Dinge und das An-Sich ein Vorläufer des Denkens der Strukturalisten. Das Subjekt entsteht erst durch den Blick des Anderen, ein Wesen des Menschen gibt es nicht, weil es den Menschen nicht gibt.

    Hier hört man förmlich als Echo Foucaults berühmte Wendung, der Mensch sei eine junge Erfindung und werde vermutlich verschwinden "wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand". Dieser Sartre ist konsequent antihumanistisch im besten Sinne, also antitotalitär: denn die großen totalitären Sprachen des 20. Jahrhunderts waren allesamt humanistisch, weil sie den neuen Menschen wollten. Ohne das kann man sich keinen Stalinismus, keinen Maoismus, keinen Leninismus vorstellen, nicht einmal einen Nationalsozialismus, der mit seinen kruden eugenischen Rassentheorien ebenfalls auf einen neuen Menschen zielte. Gegenüber den Verführungen dieses Humanismus ist der frühe Sartre zuverlässig gefeit. Er kümmert sich nicht um den Menschen, sondern um die vielen verstreuten Einzelnen. Das trifft auf seine Erzählungen und die großartige Figur des Roquentin im "Ekel" ebenso zu wie auf "Das Sein und das Nichts". Lévy führt überzeugend und in glänzender Argumentation das Paradox vor, dass Jean-Paul Sartre philosophisch der bedeutendste Vorläufer seiner schärfsten späteren Kritiker war, ein Antihumanist und ein Strukturalist avant la lettre, und kommt zu dem fast kopfschüttelnden Resümee:

    Wenn man bedenkt, wie jene berühmten Repräsentanten des ‚Denkens von 68' - angefangen von Lévi-Strauss...bis hin zu Foucault...und zu Althusser - ihn mit äußerster Brurtalität angriffen (wobei ihre gegen Sartre gerichtete Wut die einzige Empfindung war, die sie einte, und auf die sie nicht minder brutale Antworten enthielten), und das alles, obwohl doch gerade er, zumindest auf dem Gebiet des Menschen, höchst unspektakulär ihre fruchtbarsten Einfälle zwanzig oder fünfundzwanzig Jahre zuvor vorweggenommen hat! Welch großer, uneinholbarer Vorsprung und welch geniale Antizipation! Gibt es viele vergleichbare Beispiele in der Geschichte des Denkens?

    Die letzte Frage soll uns nicht interessieren. Tatsache bleibt, dass Lévy seinen Helden zu Recht den Philosophen des 20. Jahrhunderts nennen kann, weil niemand sonst soviel Hass aus den unterschiedlichsten Richtungen auf sich gezogen hat, wovon der erste Teil der Biographie eine illustre Kette von Beispielen liefert. Soll heißen: an diesem Denken haben sich über Generationen hinweg seine Kritiker und Feinde abgearbeitet, um sich aus seinem Schatten zu befreien. Ähnlich hatte sich Sartre, wie Lévy nachvollziehbar zeigt, philosophisch aus dem Schatten von Bergson und literarisch aus dem von Gide befreien müssen, ehe er jeweils ihren Thron besteigen konnte.

    Der Philosoph des 20. Jahrhunderts bleibt Sartre aber auch, weil er immer wieder gegen sich selbst denken konnte. Das ist nicht im Sinn billiger Korrektur oder Selbstkritik zu verstehen, sondern so, dass Sartre gleichsam immer auch das Andere seines Denkens mitdachte. Der Antihumanist, der zeigt, wie das Ich, das Subjekt eigentlich erst durch den Blick des Anderen entsteht, beharrt trotzdem auf den Rechten einer wenn auch zerrütteten, winzigen Subjektivität. Und dabei agiert wieder, so Lévy, der Antitotalitarist Sartre, denn da er begriffen hat

    ...welchen Gebrauch die Lumpen von einer Welt machen können, in der delektiert wird, der Mensch solle tatsächlich tot sein, setzt er dann aufs Subjekt; auf ein Subjekt, das kein Seiendes mehr ist, das seine Kraft nur noch aus einer Idee bezieht. Aber eine Idee ist schon viel; sie ist ein Prinzip, eine moralische Regel, die mögliche Grundlage von Rechten. Somit kann ein Mensch, auch wenn es nicht mehr das Bild des Menschen gibt, Anspruch auf Menschenrechte erheben! Das Dilemma des Jahrhunderts. Das Verdienst einer Philosophie, ich wiederhole es, die auf beide Felder, Verstand und Moral, gesetzt hat. Was kann man nach dem Tod des Menschen tun, damit die Menschenrechte nicht zu toten Rechten eines toten Mannes werden?

    Hier, in diesem Beharren auf der winzigen und zerrütteten Subjektivität, die sich gegen die Übermacht des Faktischen wehrt, in diesem Blick auf die andere Seite des eigenen Denkens, ließe sich ein Anklang an Adorno erkennen, an den Adorno des aussichtlosen und dennoch notwendigen Standhaltens. Der Unterschied allerdings ist, dass der tief pessimistische Denker Sartre zugleich ein fröhlicher Denker ist, ein Abenteurer, ein Vagabund im Denken, der von sich selber sagen kann: "Meine Ideen sind Launen entsprungen."

    Das glaubt man ihm, ohne die Ideen selber damit in ihrem Wert herabsetzen zu können. Die Rede ist von jenen "Launen", jenen Augenblicken der Erkenntnis, die eine Figur wie Roquentin kennzeichnen, den Helden des "Ekels". Lévy übernimmt in seiner Biographie dankenswerterweise auch die Verteidigung des Schriftstellers Sartre. In der Tat, nimmt man den "Ekel" und die Erzählungen aus den dreißiger Jahren noch einmal zur Hand, so stellt man sehr schnell fest, dass sie keinerlei Patina angesetzt haben und noch immer sehr erregend, sehr frisch sind, dass man mitgenommen wird in ein doppeltes Abenteuer: in eins des Geistes und in eins der sinnlichen Erfahrung. Zumal Roquentin mit seinem Hass auf die Gesellschaft, seinem Haß auf die guten Leute und seiner Liebe zu einem kleinen Stück Jazzmusik, Roquentin, den man sich weder in der KPF noch in der Action française vorstellen kann, ist ein Held, mit dem man auch heute noch gern mitgeht und den man liebt. Das ist Sartre, der Philosoph der Freiheit, das ist auch der Sartre, den Lévy liebt, der für ihn unverändert aktuell ist und der seinem ersten Roman das schöne Célinesche Motto vorangestellt hat: "Das ist ein Bursche ohne kollektive Bedeutung, das ist ganz einfach nur ein Individuum."

    Nun aber der andere, der zweite Sartre! Der Sartre, der sagt, dass in der Sowjetunion völlige Meinungsfreiheit herrscht; der peinliche Portraits des großen Fidel Castro schreibt; der zu erwirken versucht, dass in Wien sein eigenes Stück "Die schmutzigen Hände" nicht gespielt wird, weil es den Kommunisten nicht gefällt; der Chruschtschow seine Enthüllungen über Stalin vorwirft, weil das Volk nicht reif sei für diese Wahrheiten; der schließlich ein scheußliches, blutrünstiges Vorwort zu Frantz Fanons "Die Verdammten dieser Erde" schreibt. Lévy nimmt sich viel Zeit zu untersuchen, warum der Intellektuelle sich irren kann und hellsichtigste Erkenntnis und finsterste Verblendung nah beieinander liegen können. Das ist glänzend gemacht, stößt aber noch nicht an den Kern vor. Erst nach diesem Gang durch die Geschichte des irrenden Denkens kommt er an seine eigentliche Fragestellung:

    Was hat sich abspielen müssen, damit dieser freie Mensch, dieser Rebell, diese schillernde Persönlichkeit, dieser Dandy, dieser resolute und definitive Antitotalitarist, jener, den ich den frühen Sartre nenne, all dem den Rücken kehrte, was seinen Charme ausmachte?

    Die Antwort findet Lévy in einem biographischen Faktum aus dem Jahr 1940, das heißt nach den Erzählungen und nach dem "Ekel", aber noch vor "Das Sein und das Nichts". Sieben Monate ist Sartre nach der drôle de guerre, dem merkwürdigen, unechten Krieg, Gefangener im Lager Stalag XII D in der Nähe von Trier. Das Lager ist gleichsam eine kleine Stadt mit 25 000 ausschließlich männlichen Einwohnern. Hier findet das Individuum ohne kollektive Bedeutung das, wonach der vereinzelte Intellektuelle so oft Sehnsucht hat: die Wärme der Gemeinschaft, und er berauscht sich

    ...an einem emotionalen Erlebnis, das er bisher noch nicht gemacht hatte und das ihn begeisterte: am Eintauchen in die Gruppe; an der Geborgenheit im feuchten und warmen Schoß der Menge; am Geruch eines Kollektivs, das einen umgibt und beschützt - wagen wir das Wort auszusprechen: am Geschmack, an der Bedeutung und an den Vorzügen der Brüderlichkeit.

    Dass Lévy von diesem Erlebnis nicht begeistert, sondern leicht angeekelt ist, zeigt schon seine Metapher vom feuchten und warmen Schoß der Gruppe. Seine Analyse der Bedeutung dieser Phase in Sartres Leben ist um so scharfsichtiger und wird von Sartres eigenen Aussagen gestützt. Sein Leben lang wird er in Gesprächen immer wieder auf diese Erfahrung zurückkommen und betonen, dass diese Situation, die für andere eher mit der Erinnerung an Leiden, Entbehrung, Hunger und Erniedrigung verbunden ist, für ihn nichts anderes war als eine glückliche Zeit. Denn hier erfüllt sich die Sehnsucht nach den Massen, die schon der kleine Poulou, das isolierte Einzelkind in Sartres "Wörtern" hatte. Hier kann er nicht nur, sondern muss die Bürde der Freiheit abwerfen. Hier wird die Sehnsucht nach dem Realen erfüllt. Hier riecht er Männerschweiß, hier kann er den typischen Selbsthass des Intellektuellen zelebrieren, der zu weiße und zu feine Hände hat. Hier wird Sartre, so Lévy in einer blendenden Detailanalyse, selber zu dem berühmten Autodidakten aus dem "Ekel", der im Roman von 1938 noch die allerlächerlichste und abstoßendste Figur ist. Hier beginnt die Wende zur Parteinahme für den Menschen und für die Massen, die zur langsamen, über Jahrzehnte sich hinziehenden Austrocknung von Sartres Denken führt, zur Parteinahme für den staatlichen Terror und für etliche Diktatoren, schließlich zur Übernahme der redaktionellen Verantwortung für die maoistische Zeitung La Cause du Peuple, in der eine Reihe aberwitziger Artikel erscheinen sind. In dem Augenblick, als Sartre die Massen und die Sache des Volkes entdeckt hat, reiht er sich in die lange Reihe ihrer tatsächlichen Verächter ein.

    Das ist das biographische Faktum, das der philosophischen Niederlage zugrunde liegt. Diese letztere besteht im verlorenen Kampf mit Hegel, einem Kampf, der nun allerdings nicht das Privatvergnügen von Jean-Paul Sartre ist. Hegel ist der geheime Herrscher des 20. Jahrhunderts, gleichgültig, ob dessen Denker gegen ihn oder mit ihm gedacht haben. Das zeigt Lévy in einem Kapitel mit der Überschrift "Sartres Scheitern" auf 38 Seiten, die die wichtigsten dieses wichtigen Buches sind. Erst am Ende des Jahrhunderts löst sich das Denken, löst sich der Blick auf die Welt und die Geschichte langsam aus dem Griff Hegels. Deshalb kann Lévy, der Sartres Versagen an keiner Stelle beschönigt, doch zu Recht Gerechtigkeit für Jean-Paul Sartre einfordern und versuchen,

    ...von einem Abenteuer und einem Scheitern Rechenschaft zu geben, die nicht nur diejenigen Sartres, sondern die des Jahrhunderts waren. Ich versuche, die Entstehung eines Wahns und einer hasserfüllten Verachtung gegenüber dem Denken darzustellen und zu begreifen, die für das ganze Jahrhundert kennzeichnend waren und denen sich nur ganz wenige große Intellektuelle völlig entziehen konnten.

    Lévy zeigt parallel dazu, dass der andere, der junge Sartre auch im späten immer noch lebendig ist. Das Flaubert-Unternehmen rechnet er diesem Sartre zu, jenes Riesenwerk über den Idioten der Familie, das das letzte große intellektuelle Abenteuer in Sartres Leben wird und das er absurderweise zur gleichen Zeit schreibt, da seine maoistischen Freunde ihn mehr und mehr in Dienst nehmen wollen. Deshalb setzt er sich nachts daran und taucht ein in ein Universum,

    ...in dem sich die Zeit abwechselnd zusammenzieht und ausdehnt; in einer Überlagerung aller Zeitebenen, in der Joyce wieder mit Freud ins Gespräch kommt, die Philosophie mit dem Roman, die unbesiegten Träume Pardaillans mit denen des Kindes Gustave - und das Ganze mit Blick auf ein Buch, in das er sein Bestes legt, das letzte seiner großen Bücher, dessen Erscheinen ihm ebensoviel Freude wie in seiner Jugend die Publikation von Der Ekel. Poulou ist noch nicht tot, Sartre auch nicht.

    Poulou, das ist der kleine Sartre aus "Die Wörter", und dieses brillante Buch aus dem Jahr 1964, für das man Sartre den Nobelpreis hat geben wollen, den er dann nicht angenommen hat - dieses gefeierte Buch also ist es, bei dem Lévy Jean-Paul Sartre keine Gerechtigkeit widerfahren lässt. Er hält es für das Werk eines besessenen Sartre, eines Sartre, "der sich selbst und all das, was ihm am teuersten zu sein schien, nicht besitzt." Er rechnet dieses Buch also dem Kanon des intellektuellen Selbsthasses zu. Das ist eine sehr eigenwillige Lesart, und wenn man "Die Wörter" noch einmal liest, was der Rezensent getan hat, so wird man feststellen, dass diese Lesart nicht zu rechtfertigen ist. Lévy argumentiert so: Sartres Buch laufe darauf hinaus, er sei durch seinen Großvater und sein Milieu dazu gezwungen worden, Schriftsteller zu werden. Die Literatur sei für ihn also in seinem Selbstverständnis aus dem Jahr 1964 die Entfremdung selbst. In Wahrheit aber zeigen "Die Wörter" nur, wie jemand zu dem wird, was er ist. Sie tun das zugegebenermaßen sehr stilisiert und vermutlich oft auch konstruiert.

    Diese Autobiographie, die ein Bekenntnis sein soll, ist ganz gewiss eine Spur zu brillant und ihre Wahrheit ist sicher hier und da erfunden, wie in allen Autobiographien. Dass die "Wörter" aber ein Grabmal für die Literatur seien, ein Dokument des Hasses auf sie und auf den Autor, das kann man diesem Text nicht abpressen. Der da einmal überdrüssig mit einem Chateaubriand-Zitat davon spricht, dass er nur eine Maschine zum Büchermachen sei, der seine kindliche Autorenkarriere ironisiert und verspottet, spricht dennoch, und sei es wider Willen, in betörend schönen Sätzen über fast zweihundert Seiten fast nur vom Glück des Lesens und Schreibens.

    Von diesem blinden Fleck abgesehen, ist Lévys großer Dialog mit Sartre ein enorm wichtiges Buch. Allein deshalb schon, weil der Dialog mit Sartre sich zu einer gründlichen Reflexion über das Denken des 20. Jahrhunderts weitet. Es gibt da am Ende des ersten Teil gleichsam en passant knapp 35 Seiten über Heidegger, die für jeden Pflichtlektüre sein sollten, der sich mit Heidegger beschäftigt. Es ist die lebendigste neuere Philosophiegeschichte seit langem. Das größte Verdienst dieser Biographie aber ist es, dass nach ihrer Lektüre für den Leser Sartre endlich kein toter Hund mehr ist und er zu Sartres Büchern selbst zurückkehrt.