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Saša Stanišić
Vom Kontinuum des Lebendigen

In seinem vielgerühmten Debüt "Wie der Soldat das Grammophon repariert" erzählte Saša Stanišić noch vom Krieg in seiner bosnischen Heimat. Mit dem zweiten Roman "Vor dem Fest" hat er nun mit dem Porträt eines beschaulichen uckermärkischen Dorfes überrascht. Holger Heimann hat "Vor dem Fest" gelesen und mit dem Autor gesprochen.

Von Holger Heimann | 14.07.2014
    Der deutsch-bosnische Autor Sasa Stanisic freut sich während der Verleihung des Preis der Leipziger Buchmesse auf der Messe in Leipzig. Er erhielt den Preis für Belletristik. Der Preis der Leipziger Buchmesse wird seit 2005 für herausragende deutschsprachige Neuerscheinungen verliehen und ist in drei verschiedenen Kategorien mit je 15.000 Euro dotiert.
    Der deutsch-bosnische Autor Sasa Stanisic freut sich während der Verleihung des Preis der Leipziger Buchmesse auf der Messe in Leipzig. (picture alliance / dpa / Arno Burgi)
    Nahezu acht Jahre liegen zwischen seinem Debüt und dem zweiten, aktuellen Roman. Saša Stanišić hat sich viel Zeit gelassen - währenddessen unter anderem für’s Theater gearbeitet und Reisereportagen verfasst. Als ein Schriftsteller auf Abruf bezeichnet er sich selbst scherzhaft. Ein Dorf wollte er erschaffen, das zärtlich von der Natur umgeben ist, so viel wusste er. Mit großer Ruhe hat der Autor nach diesem Ort gesucht. Vor vier Jahren war es soweit.
    "Dass es die Uckermark geworden ist, ist ein Zufall. Ich traf die Fiktion aus meinem Kopf in der Wirklichkeit wieder und dann traf ich auf diesen Mann, diesen Maler, der dieses Schicksal des Flüchtlings mit mir teilte. Das kam dann so gut zusammen, dass ich gar keine Wahl mehr hatte, als das zum Thema zu machen."
    Saša Stanišić, im bosnischen Višegrad geboren, floh 1992 mit seinen Eltern vor dem Krieg nach Deutschland. Erst hier lernte er die neue, bis dahin fremde Sprache. Später hat er in seinem umjubelten Debüt "Wie der Soldat das Grammofon repariert", das zu einem Weltbestseller wurde, davon erzählt, wie ein Kind den Bosnienkrieg erlebt. Sein zweiter Roman spielt nun in der friedlichen ostdeutschen Provinz heutiger Zeit. Gewalt und Vertreibung sind nicht länger beherrschend. Saša Stanišić zeichnet vielmehr kunstvoll die Anatomie eines Dorfes nach. Aus Fürstenwerder in der Nordwestuckermark, wo er lange recherchiert, mit den Menschen gesprochen, sie beobachtet und belauscht hat, ist im Roman Fürstenfelde geworden. Hier bereiten sich die Dorfbewohner wie jedes Jahr auf das große Volksfest vor. Und davon erzählt das Buch mit viel Wärme und Witz. Ein "radikaler antibiografischer Themenwechsel" wurde dem Autor vorgehalten. Dabei hat dieser sich nie allein als Spezialist für Bosnien und Migrantenbiografien verstanden. Völlig zu Recht besteht er darauf, dass jeder Schriftsteller seine Themen frei von irgendwelchen Aufträgen wählt. Erstaunlich bleibt trotzdem, dass Stanišić, der länger in Berlin gelebt hat und von dort nach Hamburg umgezogen ist, sich nicht eher von der Großstadt hat inspirieren lassen. Er erklärt es so:
    "Tatsächlich war es auch ein Experiment für mich. Ein Versuch, nicht nur das Dorf zum Leben zu erwecken, sondern Menschen, die ein bisschen auf die Seite der Gesellschaft gestellt werden, die von der Literatur nicht gern genommen werden als Sujet, weil sie vermeintlich nicht viel hergeben. Was sie aber tun. Das heißt, es war für mich wichtig, ein abgeschlossenes, kleines Universum zu haben. Mich hat das Große einer Stadt und das Lebendige einer Stadt eigentlich nie interessiert als Stoff. Vielleicht hat es aber auch mit einer anderen Sehnsucht zu tun, nämlich der, dass ich gern auf dem Land leben würde immer schon, dass ich immer das Gefühl habe, ich muss herausfinden, warum das so ist, weil ich es niemandem richtig erklären kann. Und jede Reise auf das Land ist eine Reise in die vollkommene Entspannung. Ich kann mich zurücklehnen und bin bei mir. Das kann ich in der Stadt sehr selten. Es ist kein Zufall, dass ich eine literarische Landflucht betreibe. Es ist schon auch eine Sehnsucht, die mitschwingt. Diese Liebe zum Kleinstuniversum, die steckt in mir als Person sehr stark drin."
    In ihm drin ist auch eine große Zuneigung zu seinen Geschöpfen. Voller Sympathie, aber auch augenzwinkernd blickt er auf das Treiben der Fürstenfelder. Da ist Lada, der so gerufen wird, weil er als 13-Jähriger mit dem Lada seines Großvaters nach Dänemark gefahren ist und gerade zum dritten Mal in drei Monaten mit seinem Golf die Kurve nicht gekriegt hat. Der Fahrer ist unversehrt, aber das Auto liegt nun wieder auf dem Grund des Tiefen Sees. Frau Kranz, die greise Malerin des Dorfes, hat schon alles und jeden auf die Leinwand gebracht. Diesmal will sie zum Fest ein Nachtbild beisteuern. Entschlossen macht sie sich ans Werk, als Problem erweist sich dabei indes, dass sie nachtblind ist. Sie ist es, deren neues Leben nach dem Zweiten Weltkrieg mit der Flucht aus dem Banat begann. Ihr hat der Autor Teile der realen Biografie des Malers, den er in Fürstenwerder getroffen hat, mitgegeben. Wie es überhaupt für manche Figuren Entsprechungen in der Realität gibt.
    So authentisch wie nur möglich
    "Einige werden sich erkennen, andere sind total ausgedacht. Ich habe immer nach interessanten Details gesucht und habe sie zu meinen Dorfbewohnern verändert."
    Das schillerndste und tiefenschärfste Bild zeichnet der Autor von einem ehemaligen NVA-Oberst. Wilfried Schramm steht vor der bizarren Alternative, Zigaretten zu holen oder sich eine Kugel in den Kopf zu jagen. Aber weder das eine noch das andere will so recht gelingen. Der Pensionär wird deshalb schließlich auf den defekten Zigarettenautomaten anlegen und noch ganz anderes Geschütz auffahren. Denn er ist noch immer Soldat, einer, den es nach Klarheit in allen Dingen verlangt. Virtuos verpackt Stanišić die bodenlose Verzweiflung dieses Mannes in eine verspielte Geschichte voller Komik - ein Erzählprinzip wie es beispielhaft steht für den gesamten Roman.
    "Es ist lebensechter, die Menschen nicht als Karikatur einer Eigenschaft zu zeigen, sondern sie zu zeigen als das, was sie zum größten Teil auch sind, als gebrochene Menschen. Oder, wenn sie nicht gebrochen sind, dann sind es zumindest Menschen, die einmal Schmerzen erfahren haben. Sie aber so ernst zu nehmen, dass man das Gefühl hat, dass man solche Menschen kennt. Sie sollten so authentisch sein, wie sie nur können. Das bedeutet, die Psychologie der Figur muss immer erkennbar bleiben. Ich darf niemanden zu sehr ausstellen, ich darf niemandem zu nahe treten. Und es gibt keine Nur-Optimisten. Es gibt keine nur traurigen Menschen. Ich versuche, diese Schnittmenge zu finden, was in uns ist. Was fehlt uns? Wo sind die Brüche? Wenn man die Frage gestellt hat, was kann jemand, dann hat man auch sehr bald den Humor gefunden. In dem Können steckt auch sehr viel Konzentration, Arbeit, Vergnügen."
    Nie wird dem Bedeutungsschweren in diesem Roman die alleinige Hoheit überlassen, immer stellt ihm der Autor das Leichte an die Seite - und umgekehrt. In kurzen Kapiteln und Sequenzen lässt Saša Stanišić die Dorfgemeinschaft am Leser vorbeidefilieren. Locker verwoben damit sind ältere Mythen und Sagen. Diese wabern durch das Dorf und schieben sich zwischen die eigentliche Erzählung. Denn im Haus der Heimat wurde eingebrochen, das Dorfarchiv steht offen und das längst Vergangene ist so wieder ans Tageslicht gelangt. Auf die meisten dieser Geschichten ist der Autor in Archiven gestoßen. Er hat sie allesamt umgeschrieben, dabei den Tonfall und Sprachrhythmus aus alten Zeiten imitiert und ironisiert.
    Aus einem Urwald einen lichten Wald gerodet
    "Das hat wirklich am allermeisten Spaß gemacht an dieser Arbeit, dass man das Grimm’sche Wörterbuch auf der linken Seite hatte, auf der rechten die Chronik der Stadt Prenzlau aus dem 16. Jahrhundert. Auch das Wissen, dass dieses Buch in Prenzlau von diesem Pfarrer in dieser Orthographie geschrieben worden ist, aber wenn man 20 Kilometer weiter geht zu dem nächsten, der schreibt es vollkommen anders. Es gab keine richtigen Konventionen. Es hat tierischen Spaß gemacht, zu überlegen, welches Wort kann man einschmuggeln, das es damals nicht gab, welches Wort wurde wie geschrieben. Man kann sich in diese Klischeekiste trauen, in die man sich normalerweise niemals trauern würde, weil es halt alte Texte sind."
    Dieser Genuss des Verfassers hat sich den Episoden aus vorvergangener Zeit mit skurrilen Figuren, wie dem Gutsherren Poppo von Blankenburg, eingeschrieben. Doch zuweilen stehen sie allzu schroff und seltsam unverbunden neben dem gegenwärtigen Geschehen vor dem Fest. Wohin mit all den Einfällen und Geschichten - das war im Fortgang der Arbeit ohnehin die entscheidende Frage. Die enorme Fülle zu bändigen, erwies sich als äußerst schwierig.
    "Die Dramaturgie war tatsächlich ein Wagnis. Ich hatte fast 400 Seiten mehr Text und noch viel mehr Gestalten. Daraus, aus diesem Urwald einen lichten Wald zu roden, das wäre mir ohne Hilfe nicht gelungen. Meine Lektorin hat tagelang nur damit verbracht, die Sachen in eine Ordnung zu bringen, die nicht nur für den Leser eine Ordnung wäre, der er folgen könnte, sondern auch für mich als Autor. Weil ich irgendwann selber verloren war. Ich hatte so viel Material und so viele Geschichten und so viele kleine Anekdoten und auch von diesen alten Geschichten noch so viel mehr. Und sie hat es geschafft, in einem Akt des dramaturgischen Genies, aus diesem Dickicht doch noch etwas Brauchbares zu machen. Das war der längste und intensivste Schritt, aus diesem Buch tatsächlich einen Roman zu bauen und nicht eine lose verbundene Abfolge von Geschichten."
    Seiner Lektorin, die zugleich seine Freundin ist, hat Saša Stanišić das Buch gewidmet. Katja Sämann, im Hauptjob Lektorin beim Rowohlt Verlag, hat rigoros aussortiert, hunderte von Seiten mit teils komplett ausgearbeiteten Geschichten zur Seite gelegt. Doch für Stanišić sind die Texte nicht verloren, zu dem Buch, wie er es versteht, gehören mehr als die 318 Seiten, die es auf Papier gedruckt und sorgsam gebunden im Handel zu kaufen gibt.
    "Es ist immer irgendwie gegangen"
    "Ich möchte gern eine Webseite erstellen Fuerstenfelde.de - besuchbar von den Lesern. Und diese alten Texte sollen dort die Hauptrolle spielen. Das heißt, man kann die Schauplätze anklicken, die einzelnen Häuser, den Fluss. Und dann kommen aber nicht die Textstellen aus dem Buch, sondern die alten Texte, das heißt, das ist wie so ein Zusatzmaterial."
    Diesen jahrhundertealten Mythen, die vom Teufel handeln, von Schuld und Erlösung, ist im Roman mehr zugedacht, als bloß lustige Dekoration zu sein. Denn im Verbund mit der Gegenwart erzählen sie vom Kontinuum des Lebendigen - trotz aller Niederlagen und Katastrophen. Wenn sein Roman überhaupt eine Botschaft habe, dann sei es diese, sagt Saša Stanišić.
    "Als ich festgestellt habe, was für eine Wandlung sehr viele dieser Dörfer in der Uckermark durchgemacht haben über die Jahre, vor allem im Dreißigjährigen Krieg, aber auch durch Krankheiten und Verwüstungen und Misswirtschaft. Und wie nah sie oft dem Ruin waren und wie viele zu Ruin geworden sind. Da war mir klar, dass ich es mit einer Landschaft zu tun habe, die einen fortwährenden Kampf gegen die Umstände bestehen muss. Die Geschichte wiederholt sich mit immer anderen Parametern der Störung."
    Das Erzähler-Wir, das nichts anderes ist als die chorische Stimme des Dorfes selbst, lässt Saša Stanišić einmal sagen: "Es wird gehen. Es ist immer irgendwie gegangen. Pest und Krieg, Seuche und Hungersnot, Leben und Sterben haben wir überlebt. Irgendwie wird es gehen."Wie es geht, das hat er aufgeschrieben: selten gerade, oft verschlungen, in Kurven und Windungen, Auf- und Abstiegen. Und zuweilen hält das Leben - oder die Geschichte davon, die einer aufgeschrieben hat - sogar ein Happy End bereit. Für den selbstmordgefährdeten Herrn Schramm jedenfalls könnte es ein solches ganz unverhofft geben. Und das nicht nur, weil er am Ende an Zigaretten kommt - auf beinah märchenhafte Weise.
    Saša Stanišić: "Vor dem Fest"
    Luchterhand Verlag, 318 Seiten, 19,99 Euro