John Boyne: „Mein Bruder heißt Jessica“

Von unfähigen Eltern

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Buchcover zu John Boyne: Mein Bruder heißt Jessica
Gut gemeint, aber nicht ganz gelungen: "Mein Bruder heißt Jessica" von John Boyne. © Fischer Verlage
Von Sylvia Schwab · 23.10.2020
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John Boyne hat keine Angst davor, schwierige Themen für junge Leser zu verhandeln. Sein preisgekrönter Roman „Der Junge im gestreiften Pyjama“ über das Leben im Vernichtungslager beweist das. Jetzt schreibt er über einen 17-Jährigen, der transgender ist.
Der knackige Titel macht auf den ersten Blick klar: Es geht um ein Gender-Thema. Jason, der 17-jährige Bruder des Erzählers Sam eröffnet seiner Familie eines Abends, dass er sich schon seit Jahren als Mädchen fühlt. Oder besser: dass er schon immer ein Mädchen ist.

Von schlechten Eltern

Diese Nachricht schlägt in das distanziert-durchgetaktete Familienleben ein wie eine Bombe. Jason, der Vorzeigejunge, hervorragender Fußballspieler und hilfsbereiter großer Bruder, verantwortungsbewusster Sohn und beliebter Schüler, will seine wahre Identität endlich offen leben. Sam, der den großen Bruder liebt und bewundert, kann das nicht verstehen. Und ihre Eltern – die Mutter ist Ministerin im englischen Kabinett, der Vater ihr Sekretär und engster Vertrauter – weigern sich, das Thema überhaupt ernst zu nehmen.
Es gibt inzwischen eine Reihe von Kinder- und Jugendbüchern, die sich mit dem Transgender-Thema beschäftigen. Die meisten erzählen aus der Sicht der Betroffenen selbst, von den Fragen, Nöten und Konflikten. (Interessanterweise finden sich mehr Geschichten darüber, dass ein Junge zum Mädchen wird, als umgekehrt.)

Das Umfeld ist wichtig

John Boyne aber geht es nicht um die Ängste und die Einsamkeit, die das Outing einer sexuellen Orientierung oft begleiten. Und so stellt er nicht Jason/Jessica in den Mittelpunkt, sondern Sam. Ihm geht es also vor allem um die Reaktionen in Jasons Umfeld.
Doch was nun über Jason an lieblosen, egoistischen und aggressiven Reaktionen ausgeschüttet wird, das wirkt maßlos übertrieben. Die Eltern erweisen sich als zynisch und desinteressiert, haben allein Angst um ihre Karriere und wirken wie Karikaturen.

Es fehlt der Tiefgang

Jason selbst, der mutig und reflektiert mit seinem Problem umgeht, ist dagegen ein Ausbund an Vernunft und Klugheit. Und auch die Gutmenschen um ihn herum – der kernige Fußballtrainer oder die ausgeflippte Tante – sind eindimensional gezeichnet. Gut und Böse sind zu eindeutig und berechenbar verteilt, es fehlt jede charakterliche Differenzierung. Nur Sam überzeugt in seiner Mischung aus Angst, Wut und Mitleid.
Dass John Boyne eine so ernste Geschichte in einem relativ lässigen Ton erzählt, muss nicht falsch sein. Er hat Spaß an schnellen und spritzigen, auch mal spitzen Dialogen. Schließlich sollen junge Leser und Leserinnen sich auf Jasons Geschichte einlassen.

Gut gemeint – aber nicht gut gemacht

Aber dass dann am Schluss, als die Ereignisse sich geradezu überschlagen, plötzlich alles gut sein soll, wirkt an den Haaren herbeigezogen. In einer pathetischen Szene – vor den laufenden Kameras der Paparazzi – opfert sich Jason für die Karriere seiner Eltern, aber die outen sich umgekehrt plötzlich als verständnisvoll und liberal. Sam, der ängstliche kleine Bruder, wird zum Helden und die Mutter Prime Ministerin. Hoch lebe das Klischee!
Ende gut, alles gut? Nein! Es mag sein, dass John Boynes Roman sein Ziel erreicht, das Thema einem breiten jungen Publikum zugänglich zu machen, und es rausholt aus der Nische. Aber gut gemeint ist nicht gut gemacht! Literarisch ist "Mein Bruder heißt Jessica" eher dürftig.

John Boyne: "Mein Bruder heißt Jessica"
Aus dem Englischen von Adelheid Zöfel
Fischer Verlag 2020
256 Seiten, 14 Euro
Ab 12 Jahren

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