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Friedenspreis des Deutschen Buchhandels für Amartya Sen
Ein unermüdlicher Optimist

Der indisch-stämmige Ökonomie-Philosoph Amartya Sen streitet seit Jahrzehnten für Gerechtigkeit und die globale Verbesserung von Lebenschancen. Den Nobelpreis hat er schon. Nun erhält der 86-jährige Wissenschaftler den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Ein Preis mit einer politischen Botschaft.

Von Catrin Stövesand | 16.10.2020
Der indische Wirtschaftswissenschaftler und Philosoph Amartya Sen während einer Podiumsdiskussion 2019
Amartya Sen sieht in Krisen auch immer die Chance zur Verbesserung der Welt. (imago images / Pacific Press Agency/Subhashis Basu)
Dass Wirtschaftswachstum nicht alles ist, wenn es um eine gelingende Wirtschaft geht, ist eine der Kernaussagen von Amartya Sens Werk. Wenn man angesichts der Corona-bedingten Krise darüber diskutiert, wie man ökonomische Strukturen verbessern kann, sind Sens Ideen und Theorien sehr naheliegend: Er fordert eine menschengerechte Wirtschaft, die Chancengleichheit bietet und die mehr auf Gemeinwohl als auf Profitsteigerung setzt.
Der Mensch ist kein Homo oeconomicus
Sen ist ein optimistischer Denker, er glaubt an die Fähigkeit und Bereitschaft des Menschen, im Sinne des Gemeinwohls zu handeln. Für ihn besteht das menschliche Wesen nicht im egoistischen Homo oeconomicus. Vielmehr hätten Menschen gesellschaftliche Strukturen entwickelt, die immer uneigennützige Motive inne haben.
Wirtschaft und Ethik gehören für Amartya Sen zusammen. Er hat Wirtschaftswissenschaft und Philosophie studiert, um eine menschengerechte ökonomische Theorie zu entwickeln. Sie bildet sich unter anderem ab in seinem ökonomischen Hauptwerk "Armut und Hungersnöte" von 1981. Grundlage dieses Werks ist die Hungerkatastrophe in Begalen, die er als Zehnjähriger als Sohn einer wohlhabenden Hindu-Familie zwar nicht erleiden musste, aber die er als Augenzeuge miterlebte. Sein Bestehen auf Freiheiten - Freiheit von Hunger, von Armut, Freiheit für Entwicklung - geht immer davon aus, dass für alle Menschen Bedingungen gelten müssen, unter denen sie das Beste für sich und für andere erreichen können.
Menschen haben wirtschaftliche und soziale Rechte
Das Produktive an Sens Denken ist, dass die ökonomischen Themen, die er bearbeitete (Stichwort "Wohlfahrtsökonomie" und "Sozialwahltheorie") und mit denen er berühmt wurde, immer Schnittmengen mit philosophischen Aspekten aufweisen. Stets hat er seine Studien, die dem Kant'schen Denken verpflichtet sind, mit moralischen Fragen unterfüttert. Amartya Sens Forderung nach Chancengleichheit aller Menschen beruht auf ethischen Ansprüchen und geht davon aus, dass Menschen natürliche Rechte haben. Eine Theorie der Menschenrechte war zum Beispiel immer Teil seiner Argumentation für eine menschengerechte Ökonomie, wie man an seinem Essay "Elemente einer Theorie der Menschenrechte" ablesen kann. Der Text aus dem Jahr 2004 liegt jetzt, neben weiteren Publikationen, anlässlich der Auszeichnung mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels auch auf Deutsch vor.
Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2020 - Schult (Börsenverein): Die "Bürgerkrone" für Amartya Sen
Der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ehre "Widerredner und Widerrednerinnen", sagte Martin Schult vom Börsenverein im Dlf. In diesem Jahr wird der Wirtschaftsphilosoph Amartya Sen ausgezeichnet. Er setzt sich seit Jahrzehnten für globale Gerechtigkeit und gegen soziale Ungleichheit ein.
Zu diesen Rechten gehören für ihn nicht nur die Rechte der "ersten Generation" - also das Recht auf Leben, auf körperliche Unversehrtheit, auf persönliche und politische Freiheit – , sondern auch wirtschaftliche und soziale Rechte, wie das Recht auf Zugang zu ausreichend Lebensmitteln und auf medizinische Versorgung, auf Bildung.
Ganz wichtig ist ihm ein anhaltendender Diskurs, ein kritischer Austausch über Menschenrechte als sozialethische Behauptungen. Nur so könne man sie stützen und weiterentwickeln.
Am Sonntag erhält der indische Wirtschaftsphilosoph im Rahmen einer Feierstunde im Frankfurter Römer den mit 25.000 Euro dotierten Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Der Preisträger wird live zugeschaltet. Die Laudatio hält Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier.
Eine Auswahl der neu aufgelegten oder übersetzten Titel:
Amartya Sen: "Elemente einer Theorie der Menschenrechte"
aus dem Englischen von Ute Kruse-Ebeling
Reclam Verlag, Dietzingen. 122 Seiten, 12 Euro.
Amartya Sen: "Die Welt teilen. Sechs Lektionen über Gerechtigkeit"
aus dem Englischen von Jens Hagestedt, Sabine Reinhardus und Heike Schlatterer
C.H. Beck Verlag, München. 128 Seiten, 12 Euro.
Amartya Sen: "Rationale Dummköpfe. Eine Kritik der Verhaltensgrundlagen
der Ökonomischen Theorie"
Neuübersetzung von Valerie Gföhler
Reclam Verlag, Dietzingen. 72 Seiten, 6 Euro.
Amartya Sen: "Ökonomie für den Menschen. Wege zu Gerechtigkeit und Solidarität in der Marktwirtschaft"
aus dem Englischen von Christiana Goldmann
Hanser Verlag, München. 423 Seiten, 26 Euro.