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Schadlos von einem System in das Andere

Die Wehrmachtrichter verhängten während der NS-Zeit 30.000 Todesurteile. Wie nach 1945 mit ihnen in der Bundesrepublik umgegangen worden ist, beschreibt ein Band, den der Politikwissenschaftler Joachim Perels und der Historiker Wolfram Wette herausgegeben haben.

Von Otto Langels | 09.01.2012
    Wir hängen die Leute auf, und zwar nicht an irgendeinem abgelegenen Ort, wo sie niemand sieht, sondern vor den Frontleitstellen, vor den Urlauberheimen, an Bahnhöfen.

    Erklärte Generalfeldmarschall Ferdinand Schörner einem Armeerichter kurz vor Kriegsende an der Ostfront. Und weiter:

    Drei Tage bleiben sie da hängen, bis sie stinken. Das stärkt die Manneszucht. Merken Sie sich, meine Richter müssen lernen, Unrecht zu tun.

    Ferdinand Schörner wurde 1957 wegen Totschlags zu viereinhalb Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Die Wehrmachtrichter hingegen, die die Todesurteile verhängt und die Gesetze ignoriert hatten, kamen ungeschoren davon, so der Freiburger Militärhistoriker Wolfram Wette, Herausgeber des informativen Sammelbandes "Mit reinem Gewissen":

    "Kein einziger Wehrmachtrichter ist bestraft worden für seine Todesstrafen-Praxis. Es gab einzelne Fälle, in denen Vorermittlungen und Ermittlungen angestellt worden sind, aber das alles ist niedergeschlagen worden. Zu einer Verurteilung kam es in keinem einzigen Fall."

    Im Westen konnten die meisten Richter nach 1945 ihre berufliche Laufbahn fortsetzen, in Westdeutschland wurde nur ein Drittel aus dem Justizdienst entlassen. In der späteren DDR waren es dagegen 80 Prozent. Da es in Deutschland nach 1945 keine Militärjustiz mehr gab, wurden die ehemaligen Wehrmachtrichter in andere Justizbereiche übernommen. Zum Beispiel kamen in der britischen Besatzungszone rund zehn Prozent der Richter an den Oberlandesgerichten aus der Militärjustiz. Der Politikwissenschaftler Joachim Perels, Mitherausgeber des Sammelbandes, über die Rechtsvorstellungen ehemaliger Wehrmachtrichter:

    "Das Bemerkenswerte, was durch unser Buch jetzt ein bisschen mehr herauskommt ist, dass ihre Denkweise fast gleich geblieben ist, dass sie nämlich das NS-System als ein positives System angesehen haben, dass man zu Recht mit allen möglichen Repressionsmaßnahmen verteidigt, und dass Widerstandskämpfer wie zum Beispiel Dietrich Bonhoeffer oder Admiral Canaris mit ihren Handlungen gegen das Regime gegen das Recht verstoßen hätten."

    Die Autoren des materialreichen Sammelbandes beschreiben an vielen Beispielen die personelle Kontinuität zwischen nationalsozialistischer und bundesdeutscher Justiz. Stellvertretend sei hier Ernst Mantel genannt. Er war im Dritten Reich Richter am Volksgerichtshof, setzte seine Karriere im Heeresjustizdienst fort und wurde schließlich zum Generalrichter befördert. 1950 kam Mantel an den neu gegründeten Bundesgerichtshof. Von den 40 berufenen Richtern waren 27 zuvor im NS-Justizsystem aktiv gewesen. Ernst Mantel gehörte dem BGH-Senat an, vor dem Otto Thorbeck sich 1956 verantworten musste, ehemaliger Chefrichter des Standgerichts im KZ Flossenbürg. Er hatte unter anderem die Widerstandskämpfer Canaris und Bonhoeffer zum Tode verurteilt. Der BGH sprach den SS-Richter mit der bemerkenswerten Begründung frei:

    Einem Richter, der damals einen Widerstandskämpfer abzuurteilen hatte und ihn in einem einwandfreien Verfahren für überführt erachtete, kann heute in strafrechtlicher Hinsicht kein Vorwurf gemacht werden.

    Die Argumentation erinnert an die Rechtfertigungsversuche des baden-württembergischen Ministerpräsidenten Hans Karl Filbinger in den 1970er-Jahren. Als NS-Marinerichter hatte er noch kurz vor Kriegsende die Todesstrafe für einen jungen Wehrmachtsdeserteur gefordert und später seine verhängnisvolle Tätigkeit mit dem Satz verteidigt:

    Was damals Recht war, kann heute nicht Unrecht sein!

    1956 sprach der BGH, wie gesagt, den SS-Richter Thorbeck frei, verurteilte aber den Ankläger des Standgerichts Flossenbürg wegen Beihilfe zum Mord zu sechs Jahren Haft, weil diesem zwei Formfehler unterlaufen waren: Er hatte keine Bestätigung der Schuldsprüche gegen Canaris und Bonhoeffer eingeholt und verbotenerweise bei den Hinrichtungen zugeschaut. Joachim Perels nennt das Urteil des Bundesgerichtshofs eine furchtbare Entscheidung:

    "Mantel war Berichterstatter, und in dem Urteil, das er im Wesentlichen wohl geschrieben hat, ist der Schlüsselsatz: Auch dem nationalsozialistischen Staat darf man das Recht auf Selbstbehauptung nicht absprechen. Und er kriegte zur Verabschiedung das Bundesverdienstkreuz von Theodor Heuss verliehen."

    Wie konnte es kommen, dass die Wehrmachtrichter, die während des Zweiten Weltkriegs bedenken- und rücksichtslos 30.000 Todesurteile verhängt hatten, nach 1945 problemlos in den westdeutschen Justizdienst wieder aufgenommen wurden - und dies "mit reinem Gewissen", wie es im Titel des vorliegenden Buches heißt? Der Historiker Wolfram Wette:

    "Wir müssen uns vorstellen, dass die große, politisch sehr wirksame Legende die von der sauberen Wehrmacht war, und dass die Wehrmachtrichter sich als Teil der Wehrmacht gefühlt haben, und deswegen gleichsam unter dem Dach der großen Wehrmachtlegende abgetaucht sind.

    Die Beiträge des vorliegenden Sammelbandes gehen auf eine Tagung im vergangenen Jahr zurück. Einigen Artikeln ist anzumerken, dass sie für ein wissenschaftliches Forum konzipiert wurden. An manchen Stellen wäre eine Überarbeitung wünschenswert gewesen, und der Verzicht auf einige Wiederholungen zum Beispiel zur Selbstentlastung früherer Kriegsrichter hätte der Lesbarkeit gut getan. Dennoch ist "Mit reinem Gewissen" ein wichtiges Buch, weil es bereits vorliegende Studien von Manfred Messerschmidt, Wolfram Wette und anderen Wissenschaftlern ergänzt und weil sich die Autoren auch mit den Opfern der Wehrmachtjustiz beschäftigen. Jahrzehntelang galten Deserteure sowie sogenannte "Wehrkraftzersetzer" und "Kriegsverräter" als vorbestraft, entsprechend wurden sie diskriminiert. Erst 1995 konstatierte der BGH selbstkritisch, dass die strafrechtliche Aufarbeitung der NS-Justiz in der Bundesrepublik fehlgeschlagen sei und die Wehrmachtrichter eigentlich wegen Rechtsbeugung hätten verurteilt werden müssen. Und erst vor wenigen Jahren rehabilitierte der Deutsche Bundestag nach erbitterten Auseinandersetzungen die letzten Opfer der NS-Militärjustiz. Wer bezweifelt, ob die Beschlüsse von Richtern und Politikern sachlich fundiert sind, dem sei "Mit reinem Gewissen" als Lektüre empfohlen.

    Joachim Perels/Wolfram Wette
    Mit reinem Gewissen": Wehrmachtrichter in der Bundesrepublik und ihre Opfer. Aufbau Verlag, 474 Seiten, 29,99 Euro
    ISBN: 978-3-351-02740-7