Donnerstag, 18. April 2024

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Schätze im Museumskeller
"Vergessen gehört zur Kehrseite des Deponierens"

"Wir haben einfach viele tolle Sorgenkinder, um die muss man sich kümmern." Das sagte Rainer Stamm, Direktor des Landesmuseums für Kunst und Kulturgeschichte Oldenburg im DLF. Dank der Initiative "Kunst auf Lager" sei es möglich, vieles wieder aus den Depots zu holen und vergessene Schätze der Öffentlichkeit zugänglich zu machen.

Rainer Stamm im Gespräch mit Rainer Berthold Schossig | 01.01.2015
    Die Sonderausstellung "Neue Baukunst! Architektur der Moderne in Bild und Buch" des Landesmuseums für Kunst und Kulturgeschichte in Oldenburg
    Manche Schätze sind in Sonder- und Dauerausstellungen ständig zu sehen, andre geraten in Vergessenheit. (picture alliance / dpa / Ingo Wagner)
    Rainer Berthold Schossig: Was sind die Hausaufgaben jedes Museums? - Nicht nur Ausstellen, sondern auch Sammeln, Erforschen, Publizieren und – nicht zuletzt - Aufbewahren. Natürlich weiß jeder einigermaßen aufgeklärte Museumsbesucher, dass die Exponate, die er da gerade sieht, nur die Spitze des musealen Eisbergs sind.
    Ungleich mehr liegt in den Magazinen der Häuser. "Kunst auf Lager" - so heißt eine Initiative der Kulturstiftung der Länder zum Erschließen bedrohter Bestände in deutschen Museumsdepots, der wir uns zum Jahreswechsel anhand ausgewählter Beispiele widmen.
    Heute geht es um Kunstwerke, deren Schicksal es war, zum Teil viele Jahrzehnte lang im Depot zu lagern, und zwar im Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte Oldenburg. Seit vier Jahren ist Rainer Stamm Direktor der weit verzweigten Museen in der ehemals herzoglichen Residenz, und inzwischen ist er daran gegangen, lange verborgene Stücke in Kellern und Schränken neu zu sichten.
    Ich habe ihn zunächst gefragt: Herr Stamm, gehört denn solches Graben und Forschen im Bauch des Museums mehr zur Last oder zu den Vergnügen eines Museumsleiters?
    Rainer Stamm: Ja ich musste und ich durfte. Das gehört eigentlich auch zu den inspirierendsten Teilen so eines Amtes. Man sieht einfach, was über die vielen Jahrzehnte des Sammelns und auch des Aufhäufens sich in den Depots abgelagert hat.
    Natürlich sind die schönsten Stücke, die bekanntesten Stücke in den Dauerausstellungen gelandet und fast allen zugänglich, aber die Qualität gerade bei so einem alten traditionsreichen Haus der Depotbestände, die ist eigentlich umwerfend, und es war eine Tätigkeit von meinen ersten Diensttagen und Wochen an, immer wieder zu gucken, immer wieder Kreise zu ziehen, zu entdecken und die vergessenen Schätze möglichst sichtbar zu machen und hervorzuholen.
    "Sehr spannend zu sehen, wie sich der Blick auf die Stücke wandelt"
    Schossig: Nach dem Ersten Weltkrieg wurden die Großherzöge von Oldenburg nicht davongejagt, aber zumindest kam alles in öffentlichen Besitz.
    Nun fragt man sich ja als Beobachter der Museumsszene: Wie kann es sein, dass dort in den Depots des Landesmuseums einfach Kunstwerke verloren gehen, vergessen werden, weg sind aus dem Bewusstsein und dann plötzlich wieder auftauchen?
    Stamm: Verloren gehen sie nicht, aber das Vergessen gehört fast zu dem Schicksal oder zu der Kehrseite des Deponierens. Man muss sich vorstellen oder auch kurz zurückblicken, wie sind diese Museen entstanden: Teilweise schon als Sammlungen um 1900, zum Beispiel die Kunstgewerbe-Museen und auch die großherzogliche Altertümersammlung - so hieß unser Vorläufer -, mit der Aufgabe, die Schätze, die in den Kirchen nicht mehr geschätzt wurden, zu sichern, zu bewahren und quasi als kulturelles Gedächtnis einer Region zu sichern und aufzuheben. Insofern haben diese Museen die Altertümer einer Region zusammengetragen, aufgehäuft, versammelt, und das ist gut, weil dadurch vieles vor dem Verkauf, vor dem Vernichten, vor der zweckentfremdeten Nutzung geschützt war.
    Aber in der Menge geht natürlich manches Stück unter und es ist auch sehr, sehr spannend zu sehen, wie sich der Blick auf die Stücke wandelt. Dinge, die mal geschätzt wurden, sind jetzt eher in der zweiten Reihe, andere Dinge entdeckten wir in den Sammlungen und sind erstaunt, was da für Qualität auch drinsteckt.
    Schossig: Sie haben mir eine Abbildung geschickt, die zeigt die sogenannte Vareler Prieche. Das ist ein, wie es aussieht - in dieser Schwarz-Weiß-Aufnahme relativ undeutlich, aber immerhin sieht man sehr viel -, eine prächtig geschnitzte, bemalte Art Empore, auf der wohl früher jemand Wichtiges gesessen haben mag. Nun ist die im Depot seit 1924 oder so. Wie kam es, dass die vergessen wurde, dass die plötzlich jetzt in Ihrer Ära wieder auftauchen konnte und wiedergefunden werden konnte?
    Stamm: Ja, das sind Ausstattungsstücke, die zu der Geschichte einer Kirche dazugehören. Aber die Kirchen sind natürlich im Unterschied zu den Museen in lebendiger Benutzung und der Geschmack wandelt sich. Durch die Reformation sind manche Dinge anders oder nicht mehr gewertschätzt. Und bei dieser sogenannten Prieche - auch ich musste dieses Wort erst lernen - handelt es sich um eine Emporenbrüstung, vielleicht für die herzogliche Familie, auf jeden Fall für die Honoratioren, die sehr reich und aufwendig ausgestattet war, mit Vergoldungen, mit Schnitzwerk, mit Malerei.
    Man muss dazu sagen: Die Malerei, das ist eine sehr einfache, fast bäuerlich anmutende grobe Malerei. Aber diese Stücke sind natürlich ganz typisch und exemplarisch für eine Zeit in einer Region, hier für den Barock im Nordwesten. Da gibt es nicht mehr viel von, denn mit den Moden wurde so etwas nach und nach immer wieder ausrangiert.
    Dieses Stück ist schon seit den 20er-Jahren im Landesmuseum, damals gesichert worden, hereingeholt worden in die Museumssammlungen und damals auch schon wertgeschätzt worden, und das Ernüchternde ist, dass eigentlich der Befund des Stückes, so wie es in das Museum gekommen ist 1924, sich nicht verändert hat.
    "Toll und heruntergekommen sah es aus"
    Schossig: Wie sieht es denn aus, Herr Stamm?
    Stamm: In einfachen Worten: Toll und heruntergekommen sah es aus. Es ist eine tolle Substanz. Da hat es auch den Vorteil, dass daran nicht herumgewerkelt worden ist. Es ist nicht überstrichen und tausendmal verändert worden, sondern dieser Zustand, der wohl aus der Zeit um 1615 stammt, ist im Wesentlichen erhalten. Natürlich: Inzwischen haben sich Farbpartikel gelöst, die Vergoldung ist stumpf geworden, teilweise abgefallen, Konsolfiguren, die von dem berühmten Bildschnitzer Münstermann aus Hamburg stammen, sind zwischendurch abgenommen worden und als Einzelstücke im Museum ausgestellt worden.
    Schossig: Die kannten Sie also, diese Einzel-Konsolfiguren? Die wurden gezeigt?
    Stamm: Ja, das ist auch merkwürdig. Die einzelnen Konsolfiguren sind sogar in einem Werkkatalog zu Ludwig Münstermann schon aufgenommen gewesen. Aber der Kontext war eigentlich zerstört.
    Offenbar war diese Prieche, diese Emporenbrüstung den Amtsvorgängern zu sperrig, zu aufwendig zu sanieren, der Zustand zu schlecht, als dass man es in die Dauerausstellung aufnehmen konnte, und das ist eigentlich der Klassiker für dieses Programm "Kunst auf Lager". Wir haben einfach viele tolle Sorgenkinder, um die muss man sich kümmern. Es ist nicht alles aus eigener Kraft zu schaffen. Es ist auch nicht einfach mit einer schnellen Reinigung getan, sondern das sind teilweise aufwendigere Projekte, und gemeinsam mit diesem Verbund kann man so etwas angehen, was wirklich in diesem Fall 90 Jahre lang vor sich hergeschoben wurde.
    Schossig: Was haben Sie konkret jetzt mit dem Stück vor? Das soll zurückgeholt werden ins öffentliche Gedächtnis?
    Stamm: Ja. Wir sind systematisch in den letzten Jahren durch die Depots gegangen. Im ersten Durchgang der Sichtung haben wir natürlich mit den Kollegen, mit den Sammlungsleitern und auch externen Fachleuten versucht, gemeinsam besonders qualitätvolle Stücke aufzuspüren.
    Dazu gehörte dieses Stück und das bekommt nun ab nächstem Jahr eine doppelte Verwendung. Zum einen planen wir eine Ausstellung zur Geschichte der Reformation hier in der Region, wie hat sich das Bildprogramm, wie hat sich die Darstellung von sakralen Themen durch die Reformation geändert in der Region. Da wird die Vareler Prieche - so nenne ich sie jetzt mal - als eines der Hauptexponate temporär zu sehen sein. Und dann geht es mir natürlich darum, so ein Stück, das wir wieder wertschätzen, das wir wieder in einen tollen Zustand zurückversetzt haben, dann nicht wieder ins Depot zurückzuräumen, sondern in die Dauerausstellung zu integrieren.
    "Das Stück ist schlichtweg in Vergessenheit geraten"
    Schossig: Sie haben von Sorgenkindern gesprochen. Ein anderes, was Ihnen auch Bauchdrücken bereitet, ist ein mittelalterlicher Passionsaltar, der Krapendorfer Altar heißt, ein Fragment oder zwei Fragmente. Auch völlig merkwürdig: Eines der beiden Fragmente steht schon in der Schau, das andere wurde jetzt im Keller gefunden. Wie kann das gehen?
    Stamm: Ja das ist schon kein Sorgenkind mehr, denn das Tolle ist eigentlich, dass wir es wiedergefunden haben. I
    ch habe in der Literatur gefunden, dass der Krapendorfer Alter, der wirklich ein bedeutendes Monument der gotischen Bildhauerei hier in der Region ist - und da gibt es nicht so viel von -, früher immer mit zwei Abbildungen abgebildet war. Das größere Stück kenne ich gut, das steht in der Dauerausstellung in der Landesgeschichte im Oldenburger Schloss, und das zweite Stück hatte von den Kollegen nie jemand gesehen und wir haben uns auf die Suche gemacht. Es war da.
    Die letzte Spur, dass es gezeigt, rezipiert worden ist, stammt aus den 50er-, 60er-Jahren, das ist lange her. Das Stück ist schlichtweg einfach in Vergessenheit geraten, aber in eigentlich einem ganz tollen Zustand. Dieser Krapendorfer Altar aus der Zeit um 1440 war, nachdem dieser Altar in der Kirche von Cloppenburg-Krapendorf nicht mehr geschätzt wurde, als Steinplatte im Boden eingelassen, aber mit der Bildseite nach unten. Das klingt schlimm, ist aber konservatorisch eigentlich ein Glücksfall gewesen, denn hier in der Region gibt es einen weichen, sandigen Boden. Das Relief ist toll erhalten und hier geht es darum, einfach das Stück wieder zu präsentieren, und da wird es sicherlich eine ganz wunderbare Überleitung von der plastischen Kunst zur Tafelmalerei oder zur Tafelretabel dann darstellen können.
    "Die Depots sind gewaltig, nicht alles kann man zeigen"
    Schossig: Das klingt alles relativ einfach, macht aber viel Mühe, denke ich, und ist auch mit Kosten verbunden. Was hilft Ihnen die Initiative "Kunst auf Lager" konkret, Herr Stamm?
    Stamm: Wir haben natürlich unser tägliches Geschäft, sage ich mal, aber es gibt natürlich Wunschlisten. Die Depots sind gewaltig, nicht alles kann man zeigen, und man braucht auch Sparringspartner, wenn man wirklich die Wünsche umsetzen will.
    Gemeinsam mit Vertretern der Hermann Reemtsma Stiftung sind wir durch die Depots gegangen. Ich habe meine Wunschstücke gezeigt und das Schöne ist, dass man da gar nicht mehr drüber nachdenken muss, ob das sich lohnt, ob das Sinn macht, die Stücke zu sichern, wiederherzustellen, sondern man hat einfach sofort den Impuls, man möchte die Dinge ans Licht holen, und zusammen mit der Reemtsma Stiftung konnten wir jetzt drei aufwendige Restaurierungsprojekte angehen und werden die sicherlich bis ungefähr Mitte 2015 auch umsetzen können.
    Schossig: Soweit Rainer Stamm, der Direktor des Landesmuseums für Kunst und Kulturgeschichte Oldenburg, über aktuelle Sorgenkinder seiner Sammlung, die jetzt im Rahmen der Initiative "Kunst auf Lager" instandgesetzt werden, um auch gezeigt zu werden.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.