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"Scham" von Jennifer Jacquet
Beschämung als öffentlicher Akt

Von Tamara Tischendorf | 01.06.2015
    Kräftig rosarot sind sie, die beiden Buchdeckel. Fast, als wäre ihnen die Schamesröte ins Gesicht gestiegen. Eine ganz bewusste Wahl des Verlags - passend zum Thema, das Jennifer Jacquet in ihrem Buch entfaltet. Die kanadische Umweltwissenschaftlerin und Biologin untersucht darin das Schamgefühl und lotet dessen politisches Potenzial aus. Politische Wirkung könne die Scham nur entfalten, wenn sie über das rein Private hinausgehe, meint die Autorin. Es geht ihr nicht um das unangenehme Gefühl, wenn man öffentlich bloßgestellt wird, sondern um Beschämung als öffentlicher Akt:
    "Beschämung ist ein Instrument, ein empfindliches und manchmal gefährliches Werkzeug, das wir bei der Lösung gravierender Probleme zum Einsatz bringen können. Die Beschämung ist eine Form des gewaltlosen Widerstands, die jeder nutzen kann und mit der sich - anders als mit der Schuld - das Verhalten ganzer Gruppen beeinflussen lässt."
    Eines dieser "gravierenden Probleme", das die Wissenschaftlerin gerne lösen würde, ist die Frage, wie das Überleben der Arten auf der Erde gesichert werden kann. Im "Anthropozän", dem vom Menschen geprägten Industrie-Zeitalter, schädigt der Mensch sogar das Klima. Wo auch immer das Verhalten menschlicher schwarzer Schafe das Gemeinwohl gefährdet, will Jacquet möglichst "klug" die Beschämung in Anschlag bringen. Um dafür den Boden zu bereiten, greift sie auf anthropologisches Wissen zurück und arbeitet in kurzen Kapiteln zunächst heraus, wie sich Scham, Schuld und Normen zueinander verhalten. Das schlechte Gewissen sei kein guter Ratgeber für politischen Aktivismus, wird sie nicht müde zu betonen:
    "Verbraucher sind damit beschäftigt, wiederverwertbare Einkaufstüten und Kaffeebecher zu verwenden und das Licht auszuschalten. Aber das ist so, als wollte man einen Schädelbasisbruch mit Vitamin-C-Tabletten behandeln - es schadet zwar nicht, aber es ist meilenweit von einer effektiven Behandlung entfernt. Um umfassende kollektive Probleme zu lösen, reicht es nicht aus, wenn eine kleine Gruppe von Menschen ein schlechtes Gewissen hat und ihre Schuld im Bioladen abträgt."
    Selbst Umweltsiegel und Zertifikate taugen aus Jennifer Jacquets Sicht nicht dazu, die Welt zu retten. Der grüne Konsument, so das schlüssige Argument, falle auf die plumpen Beschwichtigungsversuche der Unternehmen herein:
    "Solange es Zertifikate gibt, muss sich nur der Teil der Branche ändern, der schuldbewusste Verbraucher bedienen will. Der Rest verwendet weiter Insektenvernichtungsmittel, unfaire Geschäftspraktiken oder bedenkliche Fangmethoden und verkauft seine Produkte zu günstigeren Preisen."
    Auch Jennifer Jacquet gesteht zu, dass letztlich nur gesetzliche Regelungen und internationale Vereinbarungen eine wirkliche Wende bringen. Ein Beispiel: Weil Fluorchlorkohlenwasserstoffe erwiesenermaßen die Ozonschicht schädigen, wurden sie erst in einigen Ländern verboten, dann weltweit geächtet. Heute ist der FCKW-freie Kühlschrank die Norm. Die Stunde der Beschämung schlage immer dann, wenn noch keine Sanktionen in Kraft sind:
    "Solange keine formelle Bestrafung vorgesehen ist, bleibt der Gemeinschaft oft kein anderes Durchsetzungsmittel als die Beschämung. Und da es in der internationalen Politik kaum Möglichkeiten der formellen Bestrafung gibt, bleibt die Beschämung eines der wirkungsvollsten Zwangsmittel."
    Rot werden in der Grauzone: Sicher ließe sich das, was Jennifer Jacquet "Beschämung" nennt, auch treffend als "negative Campaigning" oder "Negativ-Werbung" beschreiben. Greenpeace zum Beispiel ist sehr geübt darin, negative PR als Mittel der politischen Kommunikation gegenüber Großkonzernen einzusetzen. Die Biologin Jennifer Jacquet setzt hier aber grundsätzlicher an. Immer wieder unterfüttert sie ihre Argumentation mit empirischen Ergebnissen aus "Gemeinwohl-Experimenten", mit deren Hilfe sie und ihre Kollegen menschliches Kooperationsverhalten testen.
    Oft berichtet sie anekdotisch und in der Ich-Form, was den Text leicht zugänglich macht. Beim menschlichen Verhalten anzusetzen, ist durchaus originell. Dieser Ansatz erklärt die Mechanismen der Negativ-Werbung aber nicht besser als es Kommunikationswissenschaftler tun würden. Manchmal sogar schlechter - zumal, wenn Kampagnen über menschliche Kleingruppen hinaus auf Groß-Konzerne zielen. Dennoch: Die sieben Punkte, die Jacquet herausarbeitet, damit eine öffentliche Bloßstellung auch zur gewünschten Verhaltensänderung führt, sind plausibel:
    "Ein Regelverstoß sollte deshalb 1. die angesprochene Öffentlichkeit betreffen, 2. deutlich vom erwünschten Verhalten abweichen und 3. absehbar nicht juristisch belangt werden. Der Täter sollte 4. der Gruppe angehören, die ihn bloßstellt. Und die Beschämung selbst sollte 5. durch eine anerkannte Instanz erfolgen, 6. sich auf etwas richten, das maximalen Nutzen verspricht, und 7. gewissenhaft umgesetzt werden."
    Jennifer Jacquet nennt zahlreiche Beispiele für erfolgreiche Scham-Kampagnen mit Augenmaß: So veröffentlicht der Staat Kalifornien im Internet regelmäßig eine Liste der 500 größten Steuersünder, die im vorangegangen Jahr mehr als 100.000 Dollar schuldig geblieben sind. Bevor die Liste veröffentlicht wird, werden die Steuersünder gewarnt. Die bloße Androhung der Veröffentlichung bewirkt oft, dass die säumigen Unternehmen oder Privatleute doch noch zahlen.
    Dem virtuellen Pranger widmet sie ein eigenes Kapitel: Shit-Storms, Cyber-Mobbing, rufschädigender Diebstahl von digitalen Identitäten und Ähnliches mehr klassifiziert Jennifer Jacquet allerdings mehrheitlich als "grausame Formen" der Beschämung. Um die menschliche Würde nicht zu verletzen, müsse man darauf achten, dass die Beschämung "angemessen und berechtigt" sei:
    "Scham wirkt dann optimal, wenn sie das Leben der Betroffenen nicht zerstört, wenn sie Korrektur und Reintegration bewirkt statt Kampf und Flucht, und besser noch, wenn sie vor Fehlverhalten abschreckt."
    Mit der Scham über die Scham hinauswachsen: Jennifer Jacquet hat ein lesenswertes Buch geschrieben. Allerdings: So interessant die Evolution der Scham auch ist: Mit dem politischen Auftrag hat die Wissenschaftlerin sie überfrachtet. Die Scham selbst als ein "Werkzeug" der politischen Agitation zu deuten, führt zu weit. Die Wirkungsweise von Kampagnen lässt sich präziser anders als verhaltensbiologisch beschreiben. Politisch wird es da, wo die Scham aufhört. Aber ohne rot zu werden, lässt sich festhalten: Das Schamgefühl mag manchmal die Voraussetzung dafür sein, dass solche Kampagnen wirken.
    Jennifer Jacquet: Scham. Die politische Kraft eines unterschätzten Gefühls. Aus dem Amerikanischen von Jürgen Neubauer. S. Fischer Verlag, 224 Seiten, 18,99 Euro, ISBN 978-3-10-035902-5