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Indien und COVID-19
Polizei setzt Ausgangssperre mit Gewalt und Folter durch

In Indien gilt seit zehn Tagen zur Eindämmung der Coronapandemie eine strikte Ausgangssperre. Eine Maßnahme, unter der vor allem Millionen Slumbewohner und Wanderarbeiter leiden. Doch auch gegen sie gehen Militär und Polizei mit aller Härte vor.

Von Silke Diettrich | 04.04.2020
27.03.2020, Indien, Neu Delhi: Tausende Wanderarbeiter und Tagelöhner warten auf Busse, die sie von der Hauptstadt aus in ihre Heimatdörfer bringen sollen.
Da der öffentliche Verkehr stillsteht, versuchen viele Wanderarbeiter zu Fuß in ihre Heimatdörfer zurückzukehren - trotz Ausgangssperre (AP/dpa)
Seit mehr als zehn Tagen steht das ganze Land still, der indische Premierminister hatte seine Landsleute am Abend vor der kompletten Ausgangssperre auf die nächsten 21 Tage eingeschworen:
"Wenn ihr eure Türschwellen überschreitet, dann ladet ihr die gefürchtete Pandemie zu euch nach Hause ein."
Hunderte Kilometer zu Fuß
Aber bei vielen ist der Virus noch gar nicht angekommen, laut offiziellen Angaben haben sich bislang nicht einmal 3.000 Menschen infiziert, in einem Land, in dem mehr als 1,3 Milliarden Menschen leben. Was viele Menschen allerdings sofort zu spüren bekamen: Sie hatten von einem Tag auf den anderen kein Geld mehr. Besonders betroffen: Tagelöhner und Arbeitsmigranten. Hunderttausende haben sich in den letzten Tagen auf den Weg gemacht, zu Fuß. Denn in Indien fahren weder Busse, noch Züge oder Rikschas. Einige Menschen sind hunderte Kilometer weit gelaufen, um zu ihren Familien auf die Dörfer zu gelangen. Manche von ihnen sind dabei vor Erschöpfung gestorben. In einem großen Tross sind Männer und Frauen losgezogen, darunter ist auch Anil, ein Bauarbeiter, der sich mit seinen Kollegen auf den Weg macht:
"Ich will auf keine Menschen mehr treffen, die im Ausland waren. Die Reichen, die haben diese Corona-Krankheit hierhergebracht. Ich will einfach nur zurück in mein Dorf. Da fühle ich mich sicher."
Viele haben es bereits geschafft, andere sollen in Auffanglagern an den Bundesstaats-Grenzen in Quarantäne gehen. Damit sich nicht noch mehr Menschen während der Ausganssperre auf den Weg machen, hat sich der indische Premierminister in seiner monatlichen Radiosendung bei seinen Landsleuten entschuldigt:
"Meine Seele sagt mir, dass Sie mir verzeihen werden. Wir mussten Entscheidungen treffen, die Sie in unangenehme Situationen gebracht haben. Ich bitte vor allem meine armen Brüder und Schwestern um Verzeihung."
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Die Ausganssperre hatte Narendra Modi quasi über Nacht angekündigt. Und auch wenn er zugleich Hilfspakete für die Armen zugesagt hatte, hat die indische Regierung wohl kaum damit gerechnet, dass die Wanderarbeiter die Ausgangssperre brechen würden, weil sie um ihr Leben bangen. Genau wie die Millionen Menschen in den Slums. Die Nachrichtenagentur Reuters hat im Zentrum von Neu-Delhi mit Slum-Bewohnern gesprochen, darunter auch mit Bharpai. Die Großmutter steht vor ihrer Wohnungstür und schaut abfällig auf ihre Nachbarinnen und Nachbarn:
"Die Polizei sagt uns, dass wir drinnen bleiben sollen. Ich versuche das, mit meinen Kindern und Enkelkindern, aber die anderen hier halten sich nicht daran. Ich sage ihnen, sie sollen sich schützen und zu Hause bleiben, aber was kann ich tun? Sie hören ja nicht auf mich."
Slumbewohner leiden besonders unter der Ausgangssperre
Die kleinen Hütten im Slum stehen dicht an dicht. Bharpais vier Enkelkinder sitzen drinnen auf dem Fußboden. Die Wohnung: ein kleiner Raum, die Hälfte ist von einem großen Bett belegt. Die Kinder haben Hefte auf ihrem Schoß, Bharpai diktiert einen Text, seit Wochen sind die Schulen in Neu-Delhi geschlossen. Also gibt es auch keine Schulmahlzeiten mehr, Hilfsorganisationen sagen, mehr als 100 Millionen Kinder in Indien seien davon betroffen:
"Was soll ich machen?" fragt Bharpai. "Ich hatte noch Vorräte für drei Tage, aber die sind jetzt aufgebraucht. Erst hieß es, wir werden an dem Corona-Virus sterben, aber jetzt denke ich, wir werden eher verhungern. Wie und wo soll ich denn gerade Geld verdienen?"

Im größten Slum von Indien, in Dharavi in Mumbai, leben rund eine Million Menschen. Dort ist nun der erste Einwohner positiv getestet worden und gestorben. Nun werden so genannte Hotspots in Indien komplett abgeriegelt, obwohl ohnehin schon fast alle Stadteile verbarrikadiert sind. In den indischen Slums haben viele Einwohner weder eine Toilette noch fließendes Wasser daheim. Mehrfach am Tag die Hände mit Seife waschen und großen Abstand zu den Nachbarn zu halten, ist kaum zu schaffen.
Ausgangssperre wird mit Gewalt durchgesetzt
Um die Menschen zu zwingen, zu Hause zu bleiben, scheuen Sicherheitskräfte auch nicht davor zurück, Gewalt aus zu üben. Unzählige Videos machen seit Tagen in den sozialen Netzwerken die Runde, zum Teil haben die Polizisten sie selbst gefilmt und dann online gestellt. Wie bei diesem Film aus dem Norden von Indien:
Männer mit Tüchern vor den Gesichtern machen Kniebeugen in einem Innenhof und werden gezwungen zu sagen: "Wir sind die Feinde unserer Gesellschaft, weil wir nicht zu Hause sitzen." Denn, wer "ohne Grund" auf der Straße erwischt wird, kann mit Haftstrafen bis zu zwei Jahren verurteilt werden. Derzeit scheinen einige Polizisten in Indien die Menschen im Land abschrecken zu wollen, Kniebeugen sind dabei noch harmlos. Auf einigen Videos schlagen Polizisten Männer mit Schlagstöcken oder zwingen Anwohner, sich gegenseitig Ohrfeigen zu verteilen.
Indiens "Nationale Kampagne gegen Folter" hat mehr als 170 solcher Fälle dokumentiert, mindestens ein Mensch sei von Polizisten zu Tode geprügelt worden. Außerdem hätten Polizisten auf Menschenmengen geschossen oder Männer dazu gezwungen, wie Frösche zu springen. Im Norden von Indien, in der Stadt Chandigarh, sind Stadien quasi zu vorübergehenden Gefängnissen umfunktioniert worden. Medien berichten, dass so genannte Regelbrecher dort untergebracht werden, die dann über Hygiene und die aktuell herrschenden Regeln aufgeklärt würden.
"Es wäre besser, einfach alle umzubringen"
Mehr als 600 Menschen seien schon zeitweise in den Sportstätten untergebracht worden. Aber gerade die armen Menschen müssen raus, um sich zum Beispiel etwas zu Essen zu organisieren. Auch wenn nun an vielen Orten neue Suppenküchen entstehen, staatlich organisiert oder von Privatleuten, kommen die noch nicht bei allen an:
"Alle sind hier total beunruhigt", erzählt Zahid Ali aus einem Slum in Delhi. "Viele haben kranke Kinder, die können sie aber nicht ins Krankenhaus bringen, weil es zu weit weg ist und keine Rikschas mehr fahren dürfen. Wenn sie zu Hause bleiben, haben sie dort kein Essen mehr. Das ist alles hoffnungslos hier, es wäre besser, einfach alle umzubringen."
Die indische Regierung hatte angekündigt, umgerechnet mehr als 20 Milliarden Euro für die Armen bereit zu stellen. Diese Hilfen haben viele Menschen aber noch nicht erreicht.