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Schauspiel Stuttgart
Psychogramm der Mutterliebe

Mit "Herbstsonate" inszeniert Jan Bosse am Schulspiel Stuttgart elegant und einfallsreich einen Ingmar Bergmann-Film. Es geht um ein Duell zwischen Mutter und Tochter, beide Pianistinnen, das sich zu einem wahren Psychothriller auswächst.

Von Cornelie Ueding | 21.12.2014
    Ein Klavier.
    Der Wettstreit der Chopin-Interpretinnen wird zum alles andere als harmlosen Hausmusik-Duell. (imago/imagebroker)
    "Liebste Mama, sag, dass Du kommst. Wie werden Dich hegen und pflegen und auf jede erdenkliche Weise verwöhnen. Wir haben uns so schrecklich lange nicht gesehen. Im Oktober sind es sieben Jahre."
    Doch kaum kommt die Mutter, Charlotte, tatsächlich angereist - eine betörende Melange aus weltläufig hingeworfener Dominanz und kunstvoll gespielter Zuneigung - stehen sich Mutter und Tochter wie erstarrt gegenüber und bleiben auf größtmöglicher Distanz. Was als Geste spontaner Wiederannäherung gedacht, jedenfalls ersehnt war, wird zum Endspiel, zur Endabrechnung. Nicht zuletzt dadurch, dass der von Corinna Harfouch verkörperten mondänen und zugleich schuldbewussten Mutter in Fritzi Haberlandts gekonnt ungelenk maliziöser Eva ein gleichwertiges Gegenüber erwächst. Nichts mehr von pfarrhäuslicher Biederkeit und provinzieller Geducktheit. Viel eher wirkt sie wie ein sprungbereites Raubtier, das die Gegnerin hinterhältig ins eigene Revier gelockt hat.
    Anfangs lässt die karrierebewusste Übermutter zwar keine Zweifel aufkommen, wer hier das Sagen hat. Und der Wettstreit beider als Chopin-Interpretinnen wird zum alles andere als harmlosen Hausmusik-Duell. Charlotte, ins Riesenhafte vergrößert auf einen transparenten Zwischenvorhang projiziert, sitzt als Pianistin ihrer Tochter buchstäblich im Nacken. So geht die Mutter ein letztes Mal als Siegerin aus diesem Kampf hervor. Doch gleichzeitig mit ihrem Triumph beginnt Evas Attacke auf das Prinzip Mutter, auf die Person ihrer Mutter, und überhaupt: auf die zerstörerische Kraft jeder Mutter-Tochter-Beziehung.
    Die präzise austarierte Wort-Schlacht mündet in ein erbarmungsloses Verhör der Mutter durch ihre Tochter. Während Charlotte immer mehr in die Defensive geht, immer hilfloser um Zuwendung, und sei es nur eine einzige Umarmung fleht, beschimpft Eva sie als gnadenlos egoistisch, bis ins Innerste kalt, als Zerstörerin aller Möglichkeiten anderer, ja als Vernichterin ihrer eigenen Töchter. Eva fasst damit - für jeden nachvollziehbar - die Wirkung in Worte, die Charlottes Auftritt vom ersten Moment an hatte: eine versierte, oft unvermutet die Tonlage wechselnde Schauspielerin von Gefühlen.
    Das Alter Ego als Todfeindin
    Doch in dem Maße, wie die Tochter immer mehr zu einer machtvollen Rachegöttin anschwillt, erscheint sie ihrerseits genauso ich-versessen, paranoide und unerreichbar wie die von ihr Angeklagte. Diese Doppelspitze gegenseitiger, sich steigernder Demütigung ist perfekt und variationsreich austariert.
    Auf einer Art kunstreich verschachtelten "Drehbühne der Dominanz" hat Bühnenbildner Moritz Müller mehrere voneinander isolierte Wohncontainer in ein verwirrendes Gestrebe von Aufbauten und zwischen Treppen gehängt, die im Nirgendwo enden. Und Regisseur Jan Bosse hat die Such- und Fluchtbewegungen in seiner Albtraum-artig dichten Inszenierung bis ins feinste Detail durchchoreografiert. Kaum kommt die eine, schließt sich die Tür der anderen. Kaum ist die Tür aber zu, ruft, pocht, kommt die andere.
    "Geh nicht weg bitte, Eva!"
    Dieses Duell auf der Durchreise bringt all die ambivalenten Gefühle zur Kenntlichkeit, denen weder Mutter noch Tochter gewachsen sind. Das rabiate Voreinander-Fliehen ist die Kehrseite eines nicht minder rabiaten Aneinander-Klebens. Und kaum ist die Mutter nach langer Rede-Schlacht erfolgreich in die Flucht geschlagen – zieht sich Eva wieder, wie zu Beginn, an ihr mit Spitzendeckchen ausgestattetes Tischchen zurück, um ihr einen lieben Brief zu schreiben.
    Jan Bosses Stuttgarter Play-Bergman-Variationen sind alles andere als bloßes Face-Lifting des mittlerweile in die Jahre gekommenen schwerblütigen Psychogramms über eine ebenso unheilbare wie unauflösbare Mutter-Tochter-Beziehung. Ihm geht es nicht um aktualisierende Kosmetik, sondern um packende Re-Animation. Statt langer, bedeutungsschwerer Blicke in Großaufnahme – Menschen, die sich in engen Innenräumen abschotten und sich versteigen, sobald sie die Zimmertüren öffnen. Statt symbolischer Totaleinstellungen in Zeitlupe – rasche Tempowechsel und jähe Abstürze. Statt melodramatischer Gesten – verunsichertes, verstörtes Anrennen, Anreden gegeneinander; anrührende Sehnsucht geliebt zu werden, Selbstzweifel, Selbstbefragung und brüllend komische Selbstgerechtigkeit. Rituale der Selbstzerfleischung eines ungleich-gleichen Paares, zynisch, unglücklich, unrettbar. Das Alter Ego als Todfeindin. Mütter wie diese müsste man wegsperren, meint Eva. Nur die Mütter? Es gehört zu dem bösen Vergnügen an dieser Aufführung zu beobachten, wie alle Mittler, sei's Evas bemüht unglücklicher und zudem ungeliebter Gatte, sei's die angeblich so bemitleidenswerte schwerkranke Schwester im Spiel dieser beiden abgebrühten Königinnen der Macht zwangsläufig Randfiguren bleiben, stumm und gespenstisch im Hintergrund herumgeistern und sich allenfalls in selbstgesponnenen haltlosen Fäden verheddern.