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Schelmenroman über den Tod

Heiner Müller sagte einst, dass der Umgang mit dem Tod und mit den Toten das Niveau einer Kultur bestimme. Der nordböhmische Autor Jaroslav Rudiš hat sich da in seinem Schelmenroman über Tote, Untote, Lebende und Rocksänger seine Gedanken gemacht.

Von Alexander Kissler | 25.03.2005
    Von Heiner Müller stammt der Satz, dass der Umgang mit dem Tod und mit den Toten das Niveau einer Kultur bestimme. Legt man diesen Maßstab zugrunde, muss man sich um das Niveau der tschechischen Kultur keine Sorgen machen. Einen Gutteil der rühmenswerten tschechischen Daseinsvorsorge darf sich sogar unsere Hauptstadt auf die Fahnen schreiben, denn in Berlin spielt das Erstlingswerk des nordböhmischen Autors Jaroslav Rudiš - ein Schelmenroman über Tote, Untote, Lebende und Rocksänger.

    Die geheime Hauptfigur heißt Bertram. Seinen ersten Auftritt hat Bertram am Eingang zum U-Bahnhof Potsdamer Platz. Dort bittet er Petr Bem, für ihn "Le it be" zu singen, ausgerechnet das schmachtende "Let it be" der maßlos überschätzten "Beatles". Petr Bem ist ein junger Tscheche aus Prag mit klaren musikalischen Überzeugungen, ein ehemaliger Grundschullehrer, der durch Berlin zieht, Gitarre spielt und anschließend den Hut oder den Pappbecher kreisen lässt. Abends trifft sich Petr mit seinen Freunden von der Punk-Rock-Band "U-Bahn". Petrs und Bertrams Wege kreuzen sich nun regelmäßig. Beim ersten Konzert von "U-Bahn" steht Bertram regungslos im Publikum. Er trägt "einen knielangen braunen Ledermantel", seine Augen sind "so merkwürdig klar und durchdringend". Als Petr den Mann, dessen Namen er nicht kennt, wieder sieht, denkt er zurück an die erste Begegnung, heute Morgen am Potsdamer Platz.

    Weil Petr der Ich-Erzähler des Romans ist, erfahren wir seine Gedanken über den Mann im Ledermantel: "Er summte das Lied mit und drehte sich dabei im Kreis. Ich dachte, ein Verrückter, [...] aber die Leute schienen ihn gar nicht zu bemerken, sie liefen ganz normal weiter [...]. Der graue Typ tanzte unsicher wie ein Schuljunge, der zum ersten Mal auf Schlittschuhen steht und auf dem zugefrorenen Teich keinen Halt findet. Und genau so, wie ab und zu ein Schlittschuhläufer unter dem Januareis verschwindet, ohne dass es jemand aufgefallen wäre, um erst im Mai aufzutauchen, war auch er plötzlich weg, bloß in meinem Becher blieben zweiundachtzig Cent von ihm übrig. Und in mir blitzte die Frage auf, ob es sich nicht um eine dieser Gestalten handeln könnte, von denen Günther neulich erzählt hatte. Einer dieser Gestalten, die [...] durch die U-Bahn ums Leben gebracht wurden und die nach ihrem Tod auf ewig im U-Bahn-Reich blieben, anstatt in den Himmel aufzufahren."

    Der 32-jährige Jaroslav Rudiš hält sich von der Schauerromantik ebenso weit entfernt wie vom modisch gewordenen Jenseitsschmock, weder E.T.A. Hoffmann noch Wolfgang Hohlbein haben dem jungen Tschechen über die Schulter geschaut, von Harry Potter und Artemis Fowl findet sich kaum eine Spur. Der immer sehr spielerisch, geradezu en passant verhandelte Tod ist bei Rudiš Metapher für jenen urdeutschen Zustand, auf den auch das "Januareis" und der zugefrorene Teich deuten und den er wenig später so benennt: "Seit ich hier bin, fließt die Zeit langsam, sie stockt und modert wie die Spree an der Museumsinsel. Die Tage werden nicht weniger, sie rasen nicht wie verrückt, sie verwischen nicht, sie existieren lediglich."

    Die stockende Zeit ist die Schlüsselmetapher. So schwer die Formel auch klingen mag, so sehr sie an die melancholischen Gedanken eines Andreij Tarkowskij erinnern mag - so leichtfüßig nähert sich Rudiš der morbiden Stimmung. In einem entspannten, direkten Ton, nicht platt und nicht pathetisch, nicht roh und nicht gekünstelt, schickt Rudiš Petr Bem in den Hades. Petr mit seiner Vorliebe für Underground-Music im Stile der Dead Kennedys, Petr, der seinen Lebensunterhalt meist im Untergrund verdient, in den Zügen zwischen Bahnhof Weberwiese und Bahnhof Zoo, und dabei Bertram nicht los wird, den untoten Selbstmörder - dieser Petr Bem ist ein neuer Orpheus. Er will den Tod durch Gesang überlisten. Läppisch klingen die Texte seiner Punk-Rock-Band, konventionell sind die Akkorde dieser, so heißt es selbstironisch, "Musik für Lebende und Tote"; dennoch handelt es sich bei der Musik und bei den Menschen, die Petr durch die Musik kennen lernt, um Todesboten. Sie künden vom Tod der anderen, und diese fremden Tode bringen den unreifen Petr Bem endlich sich selbst näher. Er erinnert sich an die Tschechoslowakei und an die Meereskrokodile, die er unter seinem Kinderbett vermutete. Petr Bem wird erwachsen.

    Dass die U-Bahn hier als Purgatorium dient, als putzmunteres Zwischenreich, dass Berlin also errichtet ist auf einer Vergangenheit, die nicht vergehen will und die nicht vergehen darf, weil nur aus dem Vergangenen Berlin seine Vitalität bezieht: diese bitterböse Deutung lässt Rudiš zu, ohne sie den Lesern aufzudrängen. Auch dank dieser Nonchalance ist "Der Himmel unter Berlin" ein rundum erstaunliches Debüt.

    Jaroslav Rudis: "Der Himmel unter Berlin"
    Rowohlt Verlag, Reinbek