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Schicksalswahl in Amerika

Egal ob Barack Obama oder Mitt Romney: Der nächste Präsident wird ein Land führen müssen, das tief in einer Krise steckt. Nach der Wahl beginnt Amerikas letzte Chance, sich neu zu erfinden, glauben die beiden USA-Korrespondenten der Süddeutschen Zeitung, Christian Wernicke und Reymar Klüver.

Von Gregor Peter Schmitz | 04.06.2012
    Amerikaner schätzen den Begriff der "Schicksalswahl". Vor beinahe jeder anstehenden Abstimmung betonen Kandidaten wie Experten mit Inbrunst, wie viel von gerade dieser Wahl abhänge. Reymer Klüver und Christian Wernicke, langjährige Washington-Korrespondenten der Süddeutschen Zeitung, haben sich von dieser amerikanischen Neigung anstecken lassen und ihr aktuelles Buch "Amerikas letzte Chance" genannt. Glaubt man den Autoren, ist die diesjährige US-Präsidentschaftswahl tatsächlich eine Schicksalswahl - die letzte Gelegenheit für die Weltmacht, sich neu zu erfinden. Denn deren Lage sei ausgesprochen ernst, schreiben die Autoren, die viele Ursachen für die Krise sehen:

    Natürlich ist die Rezession ein entscheidender Faktor...tief wurzelnde Spannungen wie der Rassenkonflikt zwischen Schwarz und Weiß belasten weiterhin die Gesellschaft, und Auseinandersetzungen um neue Minderheiten - die Hispanics, die Asiaten, die Muslime - machen das Zusammenleben nicht einfacher.( ... ) Auch sind die Folgen der Anschläge vom 11. September 2001 und des darauf folgenden Jahrzehnts des Kriegs gegen den Terror längst nicht ausgestanden. Die eigentlichen Triebkräfte, die das Land zerreißen, liegen jedoch tiefer. Eine wirtschaftliche Polarisierung treibt die Schere zwischen Arm und Reich seit drei Jahrzehnten so weit auseinander, dass ein gesellschaftlicher Ausgleich kaum mehr möglich zu sein scheint.

    Handelt es sich bei solchen Zeilen um die übliche Amerikaskepsis europäischer Liberaler? Keineswegs - das Buch von Klüver und Wernicke überzeugt gerade, weil die Autoren aus ihrer Liebe für Amerika ebenso wenig einen Hehl machen wie aus ihrer aktuellen Enttäuschung über das Land. Christian Wernicke erklärt diesen Zwiespalt so:

    "Als wir 1986 in Amerika studiert habe, hatten wir in der Tat noch den Eindruck, dass dieses Land das Land der unbegrenzten Möglichkeiten ist. Und vor allem war ein Urvertrauen zu spüren, in die eigene Kraft, in die eigenen Fähigkeiten, das Leben in die Hand zu nehmen. Und es gab immer so einen Konsens, für das Land das Richtige zu tun."

    Wie dieses Urvertrauen verloren gehen konnte, versucht das Buch in zwei Hauptteilen zu analysieren. Der erste behandelt die Altlasten Amerikas, etwa Armut, die Immobilienkrise, die Zerrüttung der Mitte, die Last der Kriege. Der zweite kreist um die zerfallende Zukunft der Weltmacht, allen voran den Modernisierungsstau und das auf einmal fehlende nationale Selbstvertrauen - auch weil die Zockereien der Wall Street-Banker das Vertrauen vieler Amerikaner in die Fairness ihrer Gesellschaft gründlich zerstört haben. Die Autoren verdeutlichen an anschaulichen Beispielen den steten Niedergang der amerikanischen Mittelklasse, die einst das riesige Land zusammen hielt - während heute vor allem Globalisierungsgewinner an der Spitze der Gesellschaft immer reicher werden:

    Vor fünfzig Jahren verdiente der typische US-Boss ungefähr dreißig Mal so viel wie einer seiner Arbeiter oder Angestellten. Inzwischen streicht er das Dreihundertfache ein. Soziologen warnen bereits vor "sozialer Segregation". Nirgendwo in Europa herrschen solch gravierende Einkommensunterschiede: Der Geheimdienst CIA sortiert die eigene Nation, was die Verteilungsgerechtigkeit angeht, neben Bananenrepubliken wie Kamerun und Elfenbeinküste, Uganda und Jamaika ein.

    Geschickt belegen Klüver und Wernicke, dass der rasante Aufstieg von US-Vorzeigemarken wie Facebook, Google oder Apple diesen Trend kaum aufhalten kann - denn derlei Glitzer-Firmen schaffen die meisten ihrer Jobs im fernen Ausland, wie Christian Wernicke erläutert:

    "Apple als Flaggschiff amerikanischen Unternehmertums, als Beispiel amerikanischer Innovationskraft ist natürlich eine beeindruckende Firma, gleichzeitig muss man sagen, die Job-Effekte sind für die Vereinigten Staaten von geringerer Bedeutung. Es gibt die hoch bezahlten Superjobs, die Manager, die Produktentwickler, die sitzen in Kalifornien, aber die Masse der Arbeitsplätze ist ja in China.....Es gibt dieses schöne Zitat von einem Ökonomen der New America Foundation, der sagt: Das Silicon Valley ist ein Monster, das überwiegend Jobs exportiert und nicht einen Job schafft."

    Die Autoren arbeiten auch heraus, was vielleicht die größte Blockade für dringend notwendige Reformen in Amerika darstellt - die mantrahafte Beschwörung, dass Amerika die großartigste Nation der Welt sei und Kritik daran unerhört. Dieses sakrosankte Credo macht es politischen Kandidaten in den USA so schwer, Kritik am Zustand ihres Landes zu äußern, wie Präsident Barack Obama gerade im Duell mit Republikaner-Bewerbern wie Mitt Romney erfahren muss:

    "Der Streit um die Einmaligkeit, den exceptionalism von Amerika, ist ja Teil des Wahlkampfes. Romney – wie alle Republikaner - wirft Obama vor, wie alle anderen Republikaner auch, die Einmaligkeit, die Besonderheit Amerikas, die shining city on a hill, nicht wirklich verinnerlicht zu haben, nicht daran zu glauben. Dahinter steht die republikanische Überzeugung, dass Amerika gut ist, weil es Amerika ist."

    Nicht alle Analysen des Buches sind derart gelungen. Die Zerrissenheit der US-Mediengesellschaft oder des amerikanischen Parlaments schildern Klüver und Wernicke eher routiniert als lebendig. Die Occupy-Wall-Street-Bewegung hätten sie aufmerksamer würdigen müssen - schließlich mögen die Zeltdörfer der Anti-Kapitalismus-Aktivisten verschwunden sein, doch ihre Fragen nach sozialer Gerechtigkeit werden den Wahlkampf prägen. Es befremdet zudem ein wenig, mit welcher Eindeutigkeit das Korrespondenten-Duo Obama als einzig denkbaren Retter Amerikas zeichnet, allen Enttäuschungen über seine Amtsführung zum Trotz. Sie sprechen gar eine Art Wahlempfehlung für den Demokraten aus:

    Der Unterschied dürfte indes sein, dass die Wahl eines republikanischen Präsidenten am Ende tatsächlich die sozialen und gesellschaftlichen Spannungen in den Vereinigten Staaten weiter verschärfen würde. (...) Amerika, die zerrissene Nation, stünde noch mehr unter Stress. (...) Wenn irgendjemand dazu imstande wäre, diese Gräben am Ende zu überwinden, dann wäre es wohl Barack Obama.

    Klüver und Wernicke mögen mit dieser Einschätzung sogar Recht haben. Doch sie unterschätzen, dass auch im besonneneren Flügel des rechten Lagers die Einsicht wiederkehren könnte, Amerika um jeden Preis reformieren zu müssen - allen törichten Auftritten der republikanischen Präsidentschaftsbewerber zum Trotz. Dennoch ist den Autoren von "Amerikas letzte Chance" ein nuanciertes, kenntnisreiches, ja liebevolles Porträt der Vereinigten Staaten gelungen - weit überzeugender, als der allzu markige Buchtitel nahelegt.

    Reymer Klüver/Christian Wernicke: Amerikas letzte Chance: Warum die Weltmacht sich neu erfinden muss.
    Berlin Verlag, 288 Seiten, 19,90 Euro
    ISBN: 978-3-827-01059-9

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