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Schiffbruch mit Tiger

Ich bin jetzt 39. Seit meinem 27., 28. Lebensjahr habe ich vom Schreiben gelebt. Ich lebe sehr einfach, besitze kein Auto, rauche nicht, trinke nicht, wohne normalerweise mit anderen zusammen, kaufe mir nicht gerne Dinge, trage second hand Sachen. Ich lebe von sehr wenig Geld und meine ersten Bücher verkauften sich nicht besonders gut, aber sie wurden in viele Länder verkauft. So gab mir jeder Verleger einen Vorschuss. Ich habe meinen Lebensstil gewissermaßen meinem Einkommen angepasst, war damit ziemlich zufrieden, das war eine ganz natürliche Angelegenheit. Und davor hatte ich eine Menge merkwürdiger Jobs, war Tellerwäscher, Baumpflanzer, Wachschutzmann, Angestellter in der Universitätsbibliothek. Ich machte komische Jobs, während ich nebenher schrieb.

Johannes Kaiser | 12.03.2003
    Der Kanadier Yann Martel gehört zwar nicht zu denjenigen Autoren, die schon von Kindesbeinen an wussten, sie werden einmal Schriftsteller, aber als er dann auf der Universität entdeckte, wie viel Spaß ihm das Schreiben machte, war es um seine Hochschulkarriere geschehen. Fortan interessierte ihn nur noch das Geschichtenerfinden. Entsprechend organisierte er sein Leben. Die Schriftstellerei erlaubte ihm zudem, seiner zweiten großen Leidenschaft zu frönen: dem Reisen. Die verdankt er seinen Eltern, die Diplomaten sind und mit ihrem Sohn in seiner Jugend um die halbe Welt zogen. Den 1963 in Spanien geborenen Schriftsteller hat seitdem die Reiselust gepackt und nicht mehr losgelassen.

    Ich liebe es zu reisen. Es ist ein großer Planet, ich möchte von ihm so viel wie möglich sehen, bevor ich sterbe, und es hat mich bereichert, hat mich die Fehler der Menschheit ebenso sehen lassen wie ihren unglaublichen Reichtum, die Gutherzigkeit von Menschen, und das ist außerordentlich bereichernd. Das mag sehr gegensätzlich sein, sehr oberflächlich, aber es hat mich als Person ganz bestimmt geöffnet, und ich vermute, das spiegelt sich in meiner Literatur wieder. Die kanadische Literatur ist, denke ich, charakterisiert durch ihre große Offenheit gegenüber der Welt. Das Reisen hat sich ganz bestimmt darauf ausgewirkt.

    Allerdings zieht Yann Martel nicht mehr einfach nur so aus Spaß in die Ferne, sondern inzwischen führen ihn seine Recherchen in die Fremde. So kam er 1997 nach Indien, um Material für einen geplanten Roman zu sammeln. Doch die Geschichte erwies sich als so spröde, dass er sie fallen ließ und sich nach einem Ersatz umschaute. Da kam ihm eine Rezension wieder in den Sinn, die er vor Jahren in einer amerikanischen Zeitung über einen Roman des Brasilianers Moacyr Scliar gelesen hatte. Der hieß ‚Max and the cats' und erzählte die Geschichte eines jüdischen Jungen, der sich nach einem Schiffbruch mit einem Panther in einem Rettungsboot wiederfindet. Das war, wie Martel im Vorwort seines Romans ‚Schiffbruch mit Tiger' schreibt, der Lebensfunken für seine eigene Geschichte, die sich von Scliars bis auf die Ausgangsidee grundlegend unterscheidet. Insofern ist denn auch der Plagiatsvorwurf, den einige Journalisten kurz nach der Verleihung des Booker-Preises erhoben, völlig unbegründet. Der brasilianische Schriftsteller jedenfalls fühlt sich keineswegs kopiert, eher geschmeichelt, dass ein Kollege aus seiner Idee solche Funken schlägt. Martells Roman ist in der Tat ein brillantes Feuerwerk absurder Einfälle und amüsanter Einsichten, die ihm, wie er behauptet, sofort durch den Kopf schossen, nachdem er beschlossen hatte, einen indischen Jungen nach einem Schiffbruch zusammen mit einem Tiger monatelang durch den Pazifik treiben zu lassen:

    Plötzlich fügte sich alles zusammen. Der Roman schrieb sich dann sehr einfach, weil alles zusammenpasste und der Rest war nicht mehr als Recherche und Schreiben. Ich war ja in Indien und verbrachte die nächsten sechs Monate mit praktischen Nachforschungen, besuchte Zoos, Moscheen, Tempel, Kirchen, interviewte den Direktor des Zoos von Trivandrum, hielt mich einige Zeit in Pondicherry und Munnar auf, versuchte Inder in mich aufzusaugen und kehrte dann nach Kanada zurück und befasste mich noch mal eineinhalb Jahre mit den Grundlagentexten des Hinduismus, des Christentums und des Islamismus, las darüber auch noch Sekundärliteratur. Dann las ich mich in Zoologie, Zoobiologie, Tierpsychologie ein, las eine Menge Geschichten über Schiffbrüchige und Überlebende. Nach eineinhalb Jahren hörte ich damit auf, denn man kann ewig weiterforschen und verbrachte zwei Jahre damit, das Buch zu schreiben. So viele Recherchen und doch machte es mir Spaß, denn Zoos sind interessant, Religionen faszinierend, Geschichten von Schiffbrüchigen wunderbar zu lesen.

    Damit ist denn auch schon das Spektrum des Romans umrissen: er setzt sich intensiv mit Tieren auseinander, mit Religion und mit den Erfahrungen eines Schiffsbrüchigen. Das sind die Hauptthemen. Als erstes nimmt sich Yann Martel der Religion an. Das kam für ihn der Erkundung einer fremden Welt gleich, denn aufgewachsen ist er in einem Elternhaus, in dem Religion keinerlei Rolle spielte. Beide Eltern waren Atheisten, zwar ziemlich antiklerikal eingestellt, aber fair genug, den Sohn eine Kinderbibel lesen zu lassen und ihm Respekt vor dem Glauben anderer einzuimpfen. Insofern war Religion für ihn schon immer etwas Fremdes, das ihn faszinierte und das spiegelt sich in seiner Hauptfigur, dem jungen Inder Pi wieder, der mit seinen Eltern in der südindischen Hafenstadt Pondicherry lebt. Umgeben von den drei großen Religionen Hinduismus, Christentum und Islam beschließt der Knabe, dass ihm eine Religion nicht ausreicht. Warum sollte er auf das, was ihm die anderen Religionen anbieten, freiwillig verzichten?

    Pi bringt jede Religion auf einen Begriff. Christentum verkörpert für ihn das Wort Liebe. Der Islam lässt sich auf den Begriff der Brüderlichkeit oder Gleichheit bringen, eher Brüderlichkeit und dieses Gefühl von Brüderlichkeit spürt man überall im Islam. In der christlichen Kirche ist es so: je reicher die Leute sind, desto weiter vorne sitzen sie. Sie haben sogar ihr eigenes Gestühl. In einer Moschee ist es dagegen egal, wo man sitzt. Es gibt keinen wichtigen oder unwichtigen Platz. Es ist auch egal, ob man reich oder arm ist. Man kann also deutlich dieses Gefühl der Gleichheit spüren. Und Hinduismus ist mythologisch sehr reich. Wenn man ihn auf ein Wort brächte, wäre das vielleicht rätselhaft.

    Der junge Inder hat aber noch eine zweite Leidenschaft, die sich unmittelbar aus dem Beruf seines Vaters ableitet. Der ist Direktor eines kleinen Zoos in Pondicherry, ein wissbegieriger und kluger Mann, der seinen Kindern Respekt vor den Tieren beibringt, ihnen deren Verhaltensmuster erklärt. Von klein auf lernt Pi, Tiere als das zu sehen, was sie sind: wunderschöne Lebewesen, die jedoch ausnahmslos ihren Instinkten gehorchen. Man sollte sich ihnen mit Bedacht nähern. Die meisten Tiere sind keine Kuschelwesen, sondern schwer bewaffnete Verteidiger ihres Territoriums. Zähne, Krallen, Schnäbel, Hufe, Hörner können sich als tödliche Waffen erweisen. Dieses Wissen wird überlebenswichtig, als die Familie beschließt, Indien mitsamt ihres Zoos auf einem großen Frachtschiff zu verlassen und nach Kanada auszuwandern. Mitten im Pazifik gerät das Schiff in einen verheerenden Sturm. Es sinkt mit Mann und Maus, d.h. das Meer verschlingt alle bis auf Pi und einige Zootiere. Sie finden sich gemeinsam auf einem großen Rettungsboot wieder: Pi, der Tiger Richard Parker, ein Zebra, ein Orang-Utan, eine Hyäne und eine Ratte. Man braucht nicht viel Phantasie, um sich vorzustellen, dass diese merkwürdige Notgemeinschaft rasch dezimiert wird. Erst wird das Zebra gefressen, dann kommt der Orang-Utan an die Reihe, schließlich die Hyäne und die Ratte. Übrigbleiben Pi und der Tiger, den sich der Junge dank seiner Kenntnisse über das Verhalten von Großkatzen vom Leib halten kann. Furchtlos wie ein Zirkusdompteur, wenn auch innerlich höchst nervös, tritt er dem Tiger gegenüber. Da der Tiger auf den Fisch, den Pi angelt, angewiesen ist, akzeptiert er den Knaben als das überlegene Alpha-Tier, dem er sich unterordnet. Pi weist Parker einen Teil des Rettungsbootes als sein Territorium zu. Der Tiger fügt sich. Beide überleben noch eine Reihe weiterer Abenteuer wie z.B. den Ausflug auf eine mitten im Ozean treibende fleischfressende Insel, bevor sie schließlich nach monatelanger Irrfahrt an der Küste Mexikos landen. Während der Tiger im Uferurwald verschwindet, wird Pi von Fischern entdeckt, in ein Krankenhaus gebracht und dort wieder hochgepäppelt. Hier beginnt das kurze letzte Kapitel. Vertreter der japanischen Firma, der das untergegangene Schiff gehört, suchen Pi auf, um von ihm zu hören, was mit dem Schiff damals geschah. Als er ihnen seine abenteuerliche Geschichte erzählt, weigern sie sich, ihm zu glauben. Daraufhin bietet ihnen Pi an, seine Tiere in Menschen zu verwandeln: jetzt fallen vier Schiffsbrüchige übereinander her, um sich gegenseitig aufzufressen. Diese Version gefällt den Japanern noch weniger. Es ist schier unglaublich, was der junge Pi alles auf dem Meer erlebt. Yann Martel hat seiner Phantasie freien Lauf gelassen, allerdings sie so weit an die lange Leine genommen, als einzelne Details für sich genommen immer wieder völlig korrekt sind, auf nachprüfbaren Fakten beruhen. Ein geschickter Schachzug, der den Leser dazu verführen soll, weit mehr zu glauben, als glaubwürdig ist. Womit wir schon wieder beim Glauben sind. Doch das scheint bei diesem Roman unvermeidbar.

    Ich wollte eine Geschichte schreiben, die unwahrscheinlich ist. Ich wollte also diese unwahrscheinliche Prämisse eines Jungen und eines Tigers zusammen in einem Rettungsboot nehmen und sie, indem ich realistische Details einfügte, glaubwürdig machen. Ich denke, die meisten Leser lesen das und sagen: Whow, das ist zwar unglaublich, aber ich will es mal so annehmen. Wenn sie das dann glauben, gehe ich noch einen Schritt weiter. Glaubst du mir auch, dass der Tiger erblindet, dass Pi erblindet? Und wenn die beiden dann auf einen anderen Blinden in einem weiteren Rettungsboot treffen, für wie wahrscheinlich hältst du das? Es ist völlig unglaubwürdig. Dennoch hoffe ich, dass die Leute auch das glauben und sagen: okay, das ist nicht sehr wahrscheinlich, aber sei's drum, es ist wenigstens eine gute Geschichte. Und dann lesen sie die zweite Version, die richtig schreckenerregend ist und dann kommt es beim Leser hoffentlich zu einem Sinneswandel. Es soll ihm so gehen wie den Japanern, als Pi sie fragt, welche der beiden Geschichten ihnen besser gefällt. Die Japaner sagen die Geschichte mit den Tieren. Ich hoffe beim Leser auf denselben Sinneswandel, dass auch er sagt die Geschichte mit den Tieren. Das gilt doch auch im Leben: eine Geschichte mit einer phantasievolleren Oberfläche, ob die sich nun aus dem religiösen oder politischen speist, ist interessanter. Ein Leben, in dem die Phantasie eine größere Rolle spielt, ist besser als eines ohne.

    Die Glaubwürdigkeit der unwahrscheinlichen Erlebnisse wird durch den unaufgeregten, fast sachlich-knappen Tonfall noch unterstrichen. Er erzeugt einen Sog, dem man sich schwer entziehen kann. Auch wenn der Leser seit Beginn des Buches weiß, dass Pi das Abenteuer überlebt hat, inzwischen in Kanada lebt, dort hat er dem Autor angeblich seine Geschichte erzählt, so bangt der Leser doch mit dem Knaben mit, bewundert seine geistige Stärke, seinen Einfallsreichtum, seine Tricks. Und damit kehrt Yann Martel an den Ausgangspunkt seines phantastischen Romans zurück, denn die Kraft, die Pi entwickelt, entspringt seinem Glauben an sich und der wiederum wird gespeist aus seinem religiösen Glauben. Yann Martel ist nach all seinen Religionsstudien davon überzeugt, daß derjenige, der glaubt, sein Leben bewusster gestaltet, weil er es selbst in die Hand nimmt. Glauben heißt optimistisch in die Zukunft schauen. ‚Schiffbruch mit Tiger' ist zweifelsohne eine optimistische Geschichte:

    Wie man an die Dinge herangeht, bestimmt letztlich, was geschieht. Es klingt befremdlich, wenn ich sage, dass ich positiv denke, ein Optimist bin, aber ich habe begriffen, dass in der Religion ein Stück Willen steckt, auch im Glauben. Wenn man jemandem vertraut, jemanden liebt, sitzt man nicht rum und wartet darauf, dass was passiert. Nein, man setzt sich dafür ein. Das gilt auch für denjenigen, der auf Ökologie setzt oder an ein politisches System glaubt. Man setzt sich dafür ein. Pessimismus ist eine Form des sich nicht Einmischens. Optimismus verlangt mehr Beteiligung. So gehe ich daran. Das Leben ist eine kurze, wunderbare Sache. Ich möchte daraus soviel wie möglich machen und ich habe begriffen, dass Optimismus das eher ermöglicht.