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Schillers Sprache, Schillers Welt?

Selbst ein so lebhafter Vortragender wie Marcel Reich-Ranicki kann es nicht ganz überspielen: Schillers Sprache und Welt sind uns fremd geworden. Friedrich Schillers Sprache und Welt sind uns fremd geworden. Scheinbar funktioniert Schiller nur noch als Zitat in unserer schnellebigen, von Werbung und E-Commerce ausgedünnten Sprachkultur.

Von Wilhelm Hindemith | 05.03.2005
    Hand aufs Herz: das Schillerjahr überfordert uns, das können die rauschenden Events und Nonstop-Lesungen nicht vertuschen. Natürlich tun wir unsere Pflicht und ehren unseren Klassiker. Aber seine klassische deutsche Sprache ist uns fremd geworden.

    Wir sind ihr schon lange nicht mehr gewachsen. Sie mag groß und gewaltig sein, doch sie langweilt uns insgeheim. Kommt uns zu hoch, zu pathetisch vor. Denn unser eigenes Pathos erkennen wir nicht, um historische Nachsicht zu üben.

    Und so sehr wir uns Mühe geben, wir haben an Friedrich Schillers Werk kein wirkliches Vergnügen. Wer möchte das offen eingestehen? Peter Handke immerhin bekannte, als er den Schillerpreis überreicht bekam, dass er den Dichter nicht gut kenne, auch nicht besonders schätze. Das ist Jahre her und es stand kein Jubeljahr an, wie jetzt. Doch auch die Theatermacher, auch unsere Lehrer tun sich schwer. Sie übersetzen die schwere Last ins Gefällige, Coole und locker Zeitgemäße, Schillers Räuber treten als RAF-Terroristen auf, die Lehrer unterlegen die Vers-Sprache mit Beat- Rhythmen, damit es den Schülern wenigstens ein bißchen Spaß mache.

    Doch auf Dauer überzeugt das niemand, bleibt alles Gutgemeinte Notbehelf, Alibiveranstaltung- um das gestörte Sprachgefühl, die gerissene Sprachtradition zu leugnen, vor uns selbst zu verbergen.

    Zum Vergleich: Auch die Engländer sprechen nicht mehr die Sprache Shakespeares, doch sie genießen sie heute noch, sie sind stolz auf ihren großen Dichter wie die Franzosen auf ihren Racine, der ihnen immer noch das Ideal ihrer geliebten Sprache vorstellt. Bei uns aber ist es anders, wir haben unseren Klassiker so verbraucht, so schlimm zugerichtet und ideologisiert in der Vergangenheit, dass es jetzt eigentlich an der Zeit wäre, ihn neu zu entdecken. Gemäß der Sentenz von Karl Kraus: "Über Schiller ist erst wieder zu reden, wenn der letzte Schützenverein vor seinem Grabe abgezogen ist."

    Dieser Zeitpunkt ist da. Aber es wird nicht ohne Anstrengung abgehen, die wir rein sprachlich freilich nicht mehr gewöhnt sind. Wir reden sehr einfach und direkt, unser
    Sprachideal entspricht unseren Geschäften. Metaphern, indirekte Rede, Wortschmuck - alles eher verpönt als beliebt.

    Doch ohne Schillersprache entgeht uns Gedankliches, das ohne seine Sprache nicht zu denken ist. Manches wird in der Schillerschen Sprache in einer Differenziertheit und Genauigkeit offenbar und erkennbar, wie sonst nirgends, auch nicht bei Goethe, auch nicht bei Shakespeare. Manches. Nicht alles, einiges hat sich überlebt, aber manches von Friedrich Schiller erstmals Gedachte ist so modern wie nichts vor und nichts nach ihm. Zum Beispiel die Problematik der modernen Frau, die er in der rastlos und ratlos zwischen ihren Beratern hin und her strauchelnden Elisabeth in dem Trauerspiel Maria Stuart dargestellt hat. Sie hört ihre innere Stimme nicht mehr, sie will keine Frau sein, keine Gebärerin und Mutter, als Königin aber fühlt sie sich auch nicht.

    Und natürlich kann sie das niemandem sagen, nichts davon offen aussprechen, so dass der Vers genau die richtige sprachliche Form ist, in welcher das Verborgene zu enthüllen und das Enthüllte wieder zu verbergen ist. Dazu muß man ihn beim Wort nehmen und darf ihn eben nicht einplanieren oder zerstören in didaktisch-aktueller Absicht. Denn Friedrich Schiller hat nie unser simples Maß. Das hat ein Sigmund Freud erkannt, auch Egon Friedell, der Mitleid mit den Deutschen verspürte, weil sie ihren großen Klassiker wohl nie begreifen könnten. Es sei, sie änderten sich, meinte Friedell, dann wäre eine echte redliche Rezeption möglich. Vielleicht.

    Wir haben uns nicht geändert, aber unsere Verhältnisse wurden gründlich umgepflügt und verändert. Ob in diesem Umstand auch die Möglichkeit liegt, Schiller heute besser zu verstehen denn je zuvor? Vorausgesetzt: wir fingen wirklich neu an mit ihm, auch ohne die postmodernen Zurichtungen von heute? Diese Frage bleibt offen. Sie wurde im Schillerjahr bisher nicht annähernd beantwortet, ja nicht einmal richtig gestellt.