Donnerstag, 25. April 2024

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Schily: Herr Koch will von Versäumnissen in Hessen ablenken

Der frühere Bundesinnenminister Otto Schily (SPD) hat den hessischen Ministerpräsidenten Roland Koch scharf angegriffen. Der CDU-Politiker fordere Dinge, die es schon lange gebe. Dabei habe er selbst in Hessen die Polizeipräsenz deutlich verringert. Schily forderte eine bessere Überwachung des öffentlichen Personennahverkehrs und mehr Präsenz von Schutzpersonal.

10.01.2008
    Engels: Das Thema Jugendkriminalität ist seit Jahresbeginn in aller Munde. Ein brutaler Überfall zweier Jugendlicher auf einen Rentner in München kurz vor Weihnachten war der Auslöser. Dann machte der hessische Ministerpräsident Roland Koch das Thema zum Schwerpunkt seines Landtagswahlkampfes. Er fordert gemeinsam mit der Union ein schärferes Jugendstrafrecht. Die SPD lehnt das ab und mittlerweile streitet sich die Große Koalition in Berlin über dieses Thema nach Kräften.

    Gestern Abend hat Roland Koch Defizite bei der Eindämmung der Jugendgewalt in Hessen eingeräumt. Heute treffen sich in Wiesbaden die Unionsinnenminister, um über Maßnahmen gegen Jugendkriminalität zu beraten. - Am Telefon ist nun der frühere Bundesinnenminister von der SPD. Guten Morgen Otto Schily!

    Schily: Guten Morgen!

    Engels: Der hessische Ministerpräsident Koch legt ja heute seinen Innenministerkollegen der Union einen Katalog vor. Verlängerung der Jugendhaftstrafe von 10 auf 15 Jahre sieht der vor, außerdem Fahrverbote, Erziehungscamps, ein sogenannter Warnschussarrest. Was sagen Sie zu dem Katalog?

    Schily: Ich habe zunächst einmal die Anmoderation gehört. Das Thema Jugendkriminalität ist ein Thema, was nicht seit diesem schrecklichen Vorfall in München debattiert wird. Das müssen wir uns erst mal vergegenwärtigen.

    Engels: Aber es ist etwas mehr im Vordergrund.

    Schily: Nein. Man muss nicht denken, dass sich jemand so ein Thema auf diese Weise aneignen kann, sondern das ist ein Thema, was uns lange beschäftigt - leider. Wir haben darüber in vielen Konferenzen auch geredet. Wir haben auch darüber in der Öffentlichkeit gesprochen, allerdings in einer Form, die das Thema auch erfordert.

    Dieser Katalog von Herrn Koch ist weiße Salbe. Das muss man einfach mal sagen. Damit wird nicht ein Millimeter verbessert in der Situation. Er fordert Dinge, die es schon gibt. Einen Warnschussarrest kann man längst verhängen. Er wird auch verhängt. Allerdings kommt es dann darauf an, dass die Justiz entsprechend ausgerüstet ist, dass die entsprechenden Arrestanstalten zur Verfügung stehen, dass genügend Richter und Staatsanwälte da sind, dass schnell verhandelt wird. Es kommt nämlich bei Jugendkriminalität darauf an, dass hart und rasch reagiert wird, also nicht lange gewartet und nicht lange gefackelt wird. Einem jungen Gewalttäter muss mit aller gebotenen Härte begegnet werden und da dürfen die Verfahren nicht verzögert werden.

    Hessen ist das Schlusslicht in diesen Verfahren. Es dauert dort viel zu lange, bis ein Jugendlicher, der Gewalt ausübt, zur Rechenschaft gezogen wird. Man darf die Polizei nicht kürzen. Wir müssen doch über die richtigen Maßnahmen reden. In Hessen sind über rund 1200 Stellen gestrichen worden in der Polizei. Das sind die Versäumnisse der hessischen Landesregierung, von denen Herr Koch ablenken will. Das ist schon ziemlich dreist, was der Herr Koch da unternimmt.

    Ich will Ihnen gerade sagen: Die Bürgerinnen und Bürger haben einen Anspruch darauf, dass der Staat seiner Kernverpflichtung nachkommt. Das ist seine vornehmste und wichtigste Verpflichtung, die Kriminalität zu bekämpfen und für die Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger zu sorgen. Das ist seine allererste Aufgabe. Deshalb darf er natürlich auch an der Stelle nicht sparen. Ich habe in meiner Zeit dafür gesorgt, dass die Polizei mehr Geld bekommt, mehr Personal bekommt, mehr Ausrüstung bekommt. Darüber sprechen die Polizisten heute noch sehr, sehr freundlich in dieser Frage. Man darf an der Stelle eben nicht das Falsche tun. Wir brauchen auch Polizeipräsenz in den Verkehrseinrichtungen. Was habe ich denn damals gemacht mit der Bundespolizei?

    Engels: Herr Schily, jetzt will ich auch mal! - Als Sie im Juni 2005 zum letzten Mal als Innenminister die Kriminalitätsstatistik vorstellten, da hatten wir schon gerade, obwohl die Kriminalitätsrate rückläufig war, im Bereich der Kinder- und Jugendkriminalität ansteigende Zahlen. Damals sagten Sie, die Kinder- und Jugendkriminalität sei mit polizeilichen Maßnahmen allein nur begrenzt zu beeinflussen. Welche Maßnahmen hätten Sie angestoßen, wenn Sie noch gekonnt hätten?

    Schily: Wir müssen immer unterscheiden, wer da welche Zuständigkeiten hatte. Was der Bund tun konnte, das hat er getan. Es ist gut, dass Sie mich darauf ansprechen. Wir haben ja diesen periodischen Sicherheitsbericht ausgearbeitet. Das heißt wir haben uns nicht auf die reine Statistik der Polizei verlassen, die ja nur die ermittelten Verfahren aufzählt, sondern wir haben auch eine qualitative Beurteilung vorgenommen. Gerade was die Frage der Jugendkriminalität angeht haben wir dieses Thema besonders angesprochen. Da haben Sie vollkommen Recht: Mit Polizei allein geht es nicht. Die Polizei ist aber eine der wichtigsten Träger dieser Aufgabe und man muss sich die Möglichkeiten und die Kompetenz der Polizei dabei auch zu Nutze machen. Wo funktioniert denn Prävention am erfolgreichsten? - Da wo Polizei mit den Eltern, mit der Schule, mit den Sozialeinrichtungen vernünftig zusammenarbeitet. Dort funktioniert sie am besten.

    Man darf natürlich auch bei dem ganzen Thema nie aus dem Auge verlieren. Es geht um Kriminalitätsbekämpfung auf der einen Seite, hart gegen die Kriminalität - und da gibt es auch kein Fackeln -, auf der anderen Seite darum, mit der gebotenen Härte und mit dem gebotenen Nachdruck gegen die Ursachen der Kriminalität vorzugehen. Man braucht nicht große Brillen, um die Statistiken richtig zu lesen. Da wo die Erziehung und die Ausbildung gut funktioniert, wo die sozialen Verhältnisse sich so entwickeln, dass den Jugendlichen angemessene Angebote gemacht werden, da ist die Kriminalitätsrate relativ gering.

    Engels: Auch über Erziehungscamps zum Beispiel?

    Schily: Erziehungscamps sind heute auch schon möglich. Nur wo sind sie denn? Wo sind sie denn? Da muss ich Herrn Koch fragen. Er ist neun Jahre in der Regierung. Wo sind denn die Erziehungscamps in Hessen, von denen er jetzt schwafelt? - Nein, so kommen wir nicht weiter. Mit Rhetorik kommen wir an der Stelle nicht weiter, sondern mit einer unaufgeregten und sachkundigen Politik, bei der man wie gesagt zu allererst mal den Sachverstand der Polizei auch in Anspruch nimmt, der Erzieher, derjenigen Sozialarbeiter, die sich tagaus tagein darum bemühen, die Dinge zurückzudrängen. Deshalb darf man nie vergessen: Das ist nicht nur eine individuelle Aufgabe; es ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Es geht nicht nur um die Erziehung und Ausbildung, sondern es geht auch darum, dass wir dafür sorgen, dass dort wo Kriminalität tagtäglich auftritt die Menschen das Gefühl haben, der Staat nimmt seine Schutzaufgabe wahr.

    Darf ich das gerade noch mal ansprechen. Gerade die Verkehrseinrichtungen sind ja mitunter so ein Tummelplatz von Gewaltkriminalität. Deshalb haben wir das bei der Bahn gemacht: eine Zusammenarbeit zwischen der Bundespolizei und dem privaten Sicherheitsdienst der Deutschen Bahn. Das ist ein sehr erfolgreiches Modell. Ich kann nur empfehlen, dass wir gerade auch im öffentlichen Personennahverkehr dafür sorgen, dass dort mehr Präsenz ist von Schutzpersonal. Ich bin sehr für Videoeinrichtungen. Dafür habe ich immer plädiert, dass wir die Brennpunkte mit Video auch beobachten können. Alles was da so von Datenschützern dahergeredet worden ist halte ich für falsch. Wir müssen aber auch dafür sorgen, dass physische Präsenz in den Verkehrseinrichtungen vorhanden ist. Wenn wir das alles nur den Apparaten anvertrauen, dann können wir nur hinterher die Scherben zusammenkehren. Das reicht nicht, sondern auch da muss physische Präsenz von Schutzpersonal vorhanden sein.

    Engels: Herr Schily, die Täter von München waren ein türkischer und ein griechischer Jugendlicher. Seitdem ist die Forderung nach schnellerer Ausweisung wieder ein Thema. Was sagen Sie?

    Schily: Wir haben ja die ganzen Bestimmungen im Ausländerrecht verschärft, wobei wir uns die Dinge nicht so einfach machen können, dass wir Menschen, die hier aufgewachsen sind, die hier geboren sind, auch wenn sie noch einen ausländischen Pass haben, einfach in ein anderes Land verfrachten. Da ist das Problem dann nur verschoben. Was ist denn geholfen, wenn ein türkischer Jugendlicher, der hier aufgewachsen, der hier geboren ist, dort dann Gewalt ausübt? Was ist damit geholfen? Das ist doch auch wieder so eine typische Verschiebungsmaßnahme, die gar nichts hilft.

    Was den Griechen angeht? Griechenland ist Teil der Europäischen Union. Da gelten natürlich besondere Bestimmungen. Die gelten für deutsche Jugendliche auch. Nein, das ist nicht das Problem. Das Problem ist ganz ein anderes und das haben wir nun angegangen in der rot-grünen Regierung. Das ist über Jahrzehnte vernachlässigt worden von den Vorgängerregierungen, nämlich die Frage der Integration. Da kann ich nur allen Recht geben, die darauf hinweisen, dass wir heute so viele Jugendliche haben mit Migrationshintergrund. In Frankfurt am Main sind das meines Wissens über 60 Prozent. Ja, natürlich muss man sich darum kümmern. Aber dann darf man das nicht drei Wochen vor irgendeinem Wahltermin entdecken, sondern dann muss man eine mühselige kontinuierliche Arbeit ins Werk setzen und sich auch das zu Nutze machen, was jetzt an gesetzlichen Möglichkeiten, auch an finanziellen Möglichkeiten durch das Migrationsgesetz gekommen ist.

    Engels: Herr Schily, ich fasse zusammen. Sie plädieren überhaupt für keine Gesetzesverschärfung im Jugendstrafrecht, sondern einfach um die kontinuierliche bessere Umsetzung. Wird es darauf hinauslaufen, wenn die Wahlkämpfe einmal herum sind?

    Schily: Meine Überzeugung ist, dass wir die Möglichkeiten, die das Gesetz heute bietet, konsequenter nutzen müssen, viel konsequenter nutzen müssen, dass wir die Polizei verstärken müssen, dass wir die Polizei auch in ihrer Personalstärke erhöhen müssen, dass wir die Präsenz auch von privaten Sicherheitsdiensten mit der Polizei in den jeweiligen Brennpunkten erhöhen müssen, alles das tun müssen. Und wir müssen unsere Maßnahmen in der Prävention verstärken. Prävention ist das Stichwort überhaupt. Wenn Herr Koch in Hessen sämtliche Gelder für Präventionsmaßnahmen gestrichen hat, dann muss er sich nicht wundern, was dann am Ende dabei heraus kommt.

    Engels: Der bayerische Ministerpräsident Günther Beckstein hat gesagt, "ohne Schily werde die SPD zu einer Partei, die nichts mehr von innerer Sicherheit verstehe". Hat er Recht und freuen Sie sich über das Lob?

    Schily: Das Lob nehme ich gerne an. Ich habe mich mit Günther Beckstein immer gut verstanden. Wir haben auch unsere Streitpunkte gehabt. Aber die SPD ist immer eine Partei, die gesagt hat, wir treten für Recht und Ordnung ein. Wir treten für ein Bürgerrecht auf Sicherheit ein. Ich bin ja nicht irgendein Außenseiter in der SPD in dieser Frage gewesen, sondern ich habe den Kern der SPD-Überzeugung dort vertreten. Das ist eine alte Tradition gerade der Sozialdemokratie. Ein Privater kann sich vielleicht die private Sicherheit leisten. Der einzelne Bürger kann sich das nicht leisten. Der ist auf den Staat angewiesen. Das ist die Urüberzeugung der Sozialdemokratie, dass der Mensch, dass die Bürgerinnen und Bürger ein klares Recht haben, dass der Staat seinen Sicherheitsverpflichtungen, seiner Verantwortung für die Sicherheit nachkommt. Daran gibt es überhaupt nichts zu deuteln!

    Engels: Der frühere Bundesinnenminister von der SPD Otto Schily. Ich bedanke mich für das Gespräch.

    Schily: Danke schön!