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Schimpansenkinder als Puppenmütter

Beim Spiel imitieren Kinder ihre Eltern und proben soziale Rollen, in die sie später hineinwachsen, etwa die Mutterrolle. Britische Forscher haben an Schimpansen im Kibale-Nationalpark von Uganda ähnliche Verhaltensweisen beobachtet: Auch Schimpansenkinder spielen mit Puppen, weibliche häufiger als der männliche Nachwuchs.

Von Michael Stang | 22.12.2010
    An einem Tag im Sommer 1993 beobachtete Richard Wrangham während der Freilandsaison in Uganda eine Gruppe von Schimpansen. Das Augenmerk des britischen Biologen von der Harvard Universität fiel plötzlich auf ein junges Männchen, das einen handlichen Stock mit sich herumtrug. Das Erstaunliche war: Der Schimpanse ließ den Stock nicht mehr los, sondern behielt ihn den ganzen Tag am Körper. In den folgenden Jahren sahen Wrangham und seine Kollegen vom Kibale-Schimpansen-Projekt in unregelmäßigen Abständen immer mal wieder ein Tier, das sich ähnlich verhielt.

    "Wir glauben, dass die Männchen und Weibchen mit den Stöcken so spielen als wären es Puppen. Bei unseren Beobachtungen sahen wir auch, dass die Weibchen das viel häufiger machen als die Männchen, die die Stöcke in späteren Jahren auch als Waffen benutzen."

    Die Idee von "äffischen Puppenmüttern" schien Richard Wrangham anfangs sehr weit hergeholt. Aber im Laufe der Jahre mehrten sich die Hinweise, dass diese Stöcke nicht nur zufällig herumgetragen wurden, sondern womöglich doch eine wichtige Funktion für die heranwachsenden Schimpansen haben könnten. Die Stöcke waren allesamt handlich: im Schnitt 36 Zentimeter lang, 112 Gramm schwer und alle frei von Blättern. Die Schimpansenkinder nahmen sie überall mit hin, auch zum Ausruhen in die Tagesnester - im Gegensatz zu den Stöcken, die sie zum Werfen oder Schlagen benutzt hatten, diese wurden nie mit ins Nest genommen. Das deutet darauf hin, dass es sich dabei um eine Art biologische Vorliebe für bestimmte Spiele oder Spielzeuge handeln könnte.

    "Wie haben nie gesehen, dass erwachsene Tiere derart mit Stöcken spielen. Alle Weibchen haben mit diesem Puppenspiel aufgehört, sobald sie ihr erstes Baby bekommen haben. Vorher kümmerten sie sich um ihren Stock. Manchmal hielten sie ihn mit beiden Händen, trugen ihn am Bauch oder auf dem Rücken oder legten ihn mal von der einen Seite auf die andere, also im Prinzip so, wie sich eine Mutter um ihr Kind kümmert."

    In keiner anderen Schimpansengruppe auf der Welt wurde bislang ein ähnliches Verhalten dokumentiert. Da Richard Wrangham und seine Kollegen dieses Stock-Spiel bei ihren Schimpansen in Uganda aber über Generationen hinweg beobachteten, scheint es sich um eine soziale Tradition innerhalb dieser Schimpansengruppe zu handeln. Welchen Zweck sie erfüllt, ist jedoch noch unklar.

    "Wir wissen es nicht. Einerseits könnte dieses Stockspiel eine Art Training sein. Wenn junge Schimpansen die Stöcke stundenlang herumtragen, üben sie für ihr späteres Leben als Eltern, denn dann müssen sie multitaskingfähig sein, also Nahrung suchen und sich gleichzeitig um den Nachwuchs kümmern. Dagegen spricht jedoch, dass sie diese Übung nur sehr selten praktizieren. Von daher kann der tatsächliche Nutzen nicht sehr groß sein."

    Auch wenn ein Schimpanse über die Jahre hinweg mehrfach beim Puppen-Stock-Spiel beobachtet wurde, benutzte er jedes Mal einen neuen Stock. Von daher könnte es sich Richard Wrangham zufolge bei den Puppenspielen theoretisch auch um etwas ganz anderes als um eine Übung für das spätere Leben handeln.

    "Die alternative Erklärung zielt auf die geistigen Fähigkeiten der Schimpansen ab. Die Tiere können sich Dinge oder Situationen vorstellen, weil sie Fantasie besitzen. Wofür sie diese nutzen oder benötigen, wissen wir leider nicht. In dieser Hinsicht wäre das Puppenspiel also keine Übung, sondern nur ein bedeutungsloses Spiel."

    Dies könnte ein weiterer Beleg für die immer noch unterschätzten geistigen Fähigkeiten unseres nächsten lebenden Verwandten sein, so Richard Wrangham. Denn Schimpansen seien vermutlich tatsächlich in der Lage, soziale Traditionen zu entwickeln, die sie an ihre Kinder weitergeben, ähnlich wie Kinderreime bei uns Menschen.