Freitag, 29. März 2024

Archiv


Schizophrenie, zart

Männerwelt. Frauenleid. Die Psychiatrie. Die Normalwelt. Die Unterwelt. Obsessionen. Zärtlichkeit und Gewalt. Alkohol in XXL-Gebinden. Sehnsüchte. Und die lautlose Stille nach dem Sturm. Das sind die Zutaten für ein Erstlingswerk aus Dänemark, bei dessen Lektüre man sich anschnallen sollte.

Vorgestellt von Imogen Reisner | 19.03.2009
    In seinem furiosen Debüt erzählt uns der junge dänische Autor Jonas T. Bengtsson eine kurze Zeitspanne aus dem Leben seines 24-jährigen Protagonisten. Janus hat die vergangenen vier Jahre in einer psychiatrischen Klinik verbracht. Diagnose: Schizophrenie. Wenn der Roman einsetzt, steht Janus kurz vor seiner Entlassung, die er inständig herbeisehnt, gleichzeitig aber instinktiv auch fürchtet. Denn was ihn draußen, in Freiheit, erwartet, davon hat er nur eine vage Vorstellung. Drei Jahre lang haben ihm die Briefe Aminas, seiner ehemaligen kurdischen Mitschülerin, die Zeit der totalen Abgeschlossenheit und der geistigen Einöde hinter den Klinikmauern erträglich gemacht. Doch von heute auf morgen war diese dünne Brücke zur Außenwelt eingebrochen: Aminas Briefe blieben ohne erkennbaren Grund aus. Janus' einziger und dringlichster Wunsch ist es, herauszufinden, was geschehen ist.

    So macht sich Janus unmittelbar nach seiner Entlassung auf die Suche nach Amina, durchstreift Welten, die ihm von früher vertraut und solche, die ihm so fremd sind, dass er beinahe daran zerbricht.

    Er blickt zurück auf die Zeit vor seiner Klinikeinweisung, als er beginnt, die Schule zu schwänzen und ziellos durch Kopenhagen zu streifen:

    Ich war ziemlich glücklich. Fühlte mich in meiner Gesellschaft wohl ( ... ).
    Niemals zuvor hatte ich mich so frei gefühlt. Ich begann auch, mit mir selbst zu sprechen ( ... ), diskutierte mit mir über die Klamotten der Mädchen oder wohin all die Autos fuhren. Es war noch immer Sommer, und ich hatte mir vom Rest der Welt freigenommen.


    Mit seismographischem Blick leuchtet Bengtsson die innere Welt seines schizophrenen Helden aus, die geprägt ist von verqueren Wahrnehmungen, von Ratlosigkeiten und Fehleinschätzungen, aber auch von großer Zärtlichkeit und Hingabe. "Ich bin es nicht mehr gewohnt zu denken", erkennt Janus kurz nach seiner Entlassung.

    Gleichzeitig aber lässt Bengtsson seinen Ich-Erzähler die äußere Welt, auf die Janus nach mehr als vier Jahren Anstaltsbehütung trifft, mit sehr kritischen Augen betrachten. Da ist zum Beispiel der Hauptbahnhof in Kopenhagen, wo es wie ehedem nach Schnaps, Pisse und kaltem Rauch stinkt, aber wo auch die Zahl der Obdachlosen und Junkies auffallend gewachsen ist. Oder, als Kontrastprogramm, die leere Schöner-Wohnen-Idylle seines erfolgreichen Bruders, der geschäftlich verreist ist.
    Janus betritt sie das erste Mal, und was er dort sieht, macht ihn zornig.

    Das da vor mir ist die Kopie der Seite 76 irgendeines Lifestylemagazins (...).
    Hier kann man doch nicht leben. Auf diesem Sofa kann man keine Kekse essen.
    Pizza und Dosenbier sind für diesen Sofatisch totale Fremdkörper ( ... ).
    Ich hole tief Luft. Zünde mir eine Zigarette an. Dann gehe ich nach unten in den Salon, Schritt für Schritt die Treppe herunter. Jedes Mal, wenn ich einen Fuß vor den anderen stelle, nehme ich einen tiefen Zug von der Zigarette, so tief, dass meine Lungen brennen, und atme den Rauch nach allen Seiten aus, um einen möglichst großen Bereich auszufüllen.


    In der Mythologie steht der doppelköpfige Gott Janus für Zwiespältigkeit, für Anfang und Ende in einem. Auch Bengtssons Protagonist zeigt diese Widersprüchlichkeiten. Sie sind Symptome seiner Erkrankung, von der es heißt, dass sie eine Krankheit des Geistes und der Seele sei.

    So wird Amina für Janus nicht nur zur idealen Projektionsfläche seiner Sehnsüchte, sondern zur Gestalt einer nahezu magischen Obsession. Sie zu finden – und am Ende gar zu retten – wird zu einer Aufgabe, der Janus alles andere, sogar sein eigenes Leben, unterordnet. Die absolute Unbeirrbarkeit, mit der Bengtssons tragischer Held dieses Ziel verfolgt, macht ihn trotz seiner grenzenlosen Naivität und seiner Fehlurteile, die ihn immer mehr in ausweglose Situationen reißen, zu einer Figur, die den Leser tief berührt. Denn Bengtsson schildert sie mit einer so unvergleichlichen Einfühlung und Zartheit, wie sie in der modernen jungen Literatur ihresgleichen suchen.

    Es gibt viele verschiedene Welten in unserer einen großen, die wir zu kennen meinen, und von der wir doch nur einen Hauch der Oberfläche gesehen haben. Der 29-jährige Autor gibt uns mit seinem fulminanten road movie durch die Ober-, Unter- und Nebenwelten Kopenhagens tiefe und plastische Einblicke in die Welt der sogenannten Verrückten, in die anachronistischen, gewaltgeprägten Lebensmuster kurdischer Immigranten und in das trostlose Dasein gesellschaftlicher underdogs.

    Wenn Bengtsson uns zum Auftakt des Romans in die Psychiatrie mitnimmt, benötigt er nur ein paar wenige Zeilen, um uns Leser mitten ins Herz des Geschehens zu katapultieren: Wir riechen die abgestandene Luft des grün gekachelten Klinikflurs, in dem die Monet-Bilder in die Wand betoniert sind, damit niemand an ihnen Schaden nehmen kann. Wir treffen Klinikinsassen, die Bengtsson uns in ihrer Andersartigkeit so nahe bringt, dass wir meinen, es seien alte Bekannte.

    Bengtssons Sprache ist lebendig, sorgfältig, präzise und von großer Eleganz. Seine Sätze vibrieren nahezu von der Dynamik starker Verben, dabei geht es selten um spektakuläre Aktionen, eher um alltägliche Dinge und um das Gefühlsleben seiner Figuren. Und gewiss ist die starke Authentizität der Dialoge auch der hervorragenden Arbeit des Übersetzers Günther Frauenlob zu danken.

    Jonas T. Bengtsson: Aminas Briefe.
    Tropen bei Klett-Cotta, Stuttgart 2008.
    Aus dem Dänischen von Günther Frauenlob. 239 Seiten, 22,90 Euro