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"Schlaf, du Ruhe der Welt"

Obwohl wir ein Drittel unseres Lebens schlafend verbringen, ranken sich um den Schlaf viele Rätsel und Geheimnisse. Im Laufe des Zivilisationsprozesses wurde er ebenso verehrt wie verfemt. Heute werden unter dem gesteigerten Zeitdruck der Arbeitswelt Müdigkeit und Schlafbedürfnis häufig als lästig empfunden. Doch der Körper lässt sich nicht überlisten, auch nicht mit Koffein oder Drogen.

Von Marleen Stoessel | 24.06.2012
    Für Liebhaber der schlafenden Muse gibt es nur wenig, was schöner ist: mitten am Tag es Nacht werden lassen, eine kleine Pause einlegen, dösend, schlummernd, träumend. Sich aufs Ohr legen, nach innen lauschen und die Welt für eine kurze lange Weile Welt sein lassen. Sie hinter sich lassen, ihren Lärm, aber auch den eigenen der taghellen Betriebsamkeit und Pflichteifrigkeit. Loslassen, sein lassen, auch die Gedanken, die Ziele - sich selber sein lassen. Sich abwenden von seinem geschäftigen Tages-Ich, abtauchen in ein kurzes Vergessen, in wohlige Selbstvergessenheit. Siesta-Zeit. Innehalten. Atempause. Die Decke über den Kopf, ich bin nicht da. Auch nicht die Welt - was heißt: Die Welt ist nur da, wenn auch ich da bin, zumindest wach.

    Während für Italiener und andere Mittelmeerbewohner die Siesta natürlicher Stillstand in der heißen Mittagszeit ist, sind es paradoxerweise heute die Deutschen, die besonders dem Nickerchen bei Tage zugetan sind. Doch aus welchem Grund? Ist es wirklich das saumselige Nichtstun, das keinerlei messbaren Nutzen hat, das keinerlei Legitimation bedarf - jene zweckfreie Muße und traumhafte Muse, die sie sich da herbeiwinken? Und im Wiedererwachen die intentionslose Neuschöpfung des Selbst und der Welt, ohne äußeren Zweck, ohne ehrgeiziges Ziel?

    Oder ist es, mehr als alle sich selbst genügende Erquickung, doch nur wieder der kalkulierte Mehrwert, der ihnen auflauert und sich in die Fitness-Center fortsetzt: als Antiaging-Power-Training, als verbissenes workout und zeitaufwendiges Auszeit-Programm? Allzu schnell kann diese Aus-Zeit zum Räuber jenes ganz anderen Zeit-Schatzes werden, der mit Schlaf, Traum und Selbstvergessenheit unser kreatürliches Menschsein vollendet.

    "Wir sind aus solchem Stoff wie das zu Träumen, und unser kleines Leben umfängt, rundet ab ein Schlaf..."

    So Shakespeare, der mit dieser Einsicht auch den endgültigen Schlaf, den Tod im Auge hat.

    Wo Schlaflosigkeit als Schlafentzug durch ökonomische Zwänge induziert oder gar als Folter angewandt wird, wo Schlafstörungen zu ernsthafter Krankheit führen - angesichts all dieser Gefährdungen, die zunehmend unsere westlichen Gesellschaften prägen, werden die modischen, von fremden Zwecken gesteuerten Auszeit-Programme nicht nur als Symptom, sondern auch als zynischer Luxus offenbar.

    Jener kreatürliche Schlaf aber, den wir mit allen Lebewesen und Organismen teilen, profiliert sich zu einem grundlegenden Menschenrecht. Zu jenem Recht des rhythmischen Abschaltens, Sein-Lassens, der Hingabe an ein anderes Sein, dessen nur wir Menschen, in unserem wachen Tagesbewusstsein, innezuwerden vermögen. Und dieses taghelle Bewusstsein und Selbst-Bewusstsein, ist immer auch unser Bewusstsein vom Tod. Kein Tier vermag ihn zu denken - nur der Mensch, der in Schlaf und Vergessen sich auf den endgültigen Schlaf vorbereiten mag, der ihm kein Erwachen und kein Bewusstsein mehr davon schenken wird. So sagt der griechische Philosoph Heraklit:

    "Die Wachenden haben eine gemeinsame Welt, die Schlafenden aber wenden sich jeder seiner eigenen Welt zu."

    Diese andere, eigene Welt der Schlafenden aber, die ihnen selber ein Geheimnis ist, ruft all die Ängste und Fragen auf, die seit je den Menschen bewegen. Denn verletzlicher, schutzloser als im Schlaf, bar eigener Kontrolle und Wehrhaftigkeit, vermögen wir nicht zu sein. Schlafen heißt hingegeben, preisgegeben sein dem Unbekannten in und um uns, und es bedarf all unseres Vertrauens in die äußeren wie inneren Mächte und Kräfte unseres Daseins. Anwesend und zugleich abwesend, rühren wir im Schlaf an ein Sein, das wie eine Brücke zum Jenseits ist, zum Sitz der Seele vielleicht, wie Aristoteles meinte, vielleicht gar zu Gott, doch immer unerkennbar bleibt.

    Was indessen Philosophen, Künstler, Dichter und seit dem 19. Jahrhundert auch die Psychologen beschäftigt, bis hin zur modernen Erforschung des Schlafs, die im Gehirn nach seinen Mechanismen fahndet - das hatte bereits in den Mythen und Kosmogonien seine sinnfällige Gestalt. Anders als in der nachtfernen Moderne, gelten in ihnen Wachen und Schlaf, wie Tag und Nacht, wie Leben und Tod gleich viel.

    So ist in antiker Mythologie Hypnos, der Schlaf, ein Sohn von Nyx, der Nacht. Als "friedlich und freundlich zu den Menschen" hat ihn der griechische Dichter Hesiod in seiner Theogonie apostrophiert. Doch gebar Mutter Nyx mit Hypnos zugleich auch Thanatos, den Zwillingsbruder Tod. Weitere Kinder der Nacht sind unter anderen die Oneiroi, die Träume; Jahrhunderte später werden sie bei Ovid zu den Traum-Kindern des Hypnos selbst: nämlich Morpheus, der jedermanns Gestalt und Stimme anzunehmen vermag. Photebor, der sich für den Träumer in jedes Tier verwandeln kann. Und Phántasos als Darsteller aller anderen Dinge im Traum.

    Im 11. Buch seiner Metamorphosen schildert der römische Dichter den sonnenlosen, "wolkenumhangenen" Ort, an dem Hypnos, der römisch Somnus heißt, seine Behausung hat:

    "Still ist alles und stumm; nur tief am Grunde des Felsens
    Quillt das Bächlein 'Vergessen', und murmelnd gleiten der Lethe
    Wellen: sie plätschern am Kieselgrunde und laden zum Schlafe.
    Vorn blüht Mohn, der an Samen so reiche, am Eingang zur Grotte,
    Und unzählige Kräuter: den Saft aus den milchigen Pflanzen
    Sammelt die tauige Nacht und besprengt die umschatteten Lande (…)"


    In einer römischen Skulptur aus dem 2. Jahrhundert nach Chr. wird, anders als bei Ovid, der Schlafgott als wendiger, Hermes-ähnlicher Jüngling mit Flügeln an den Schläfen gezeigt, der herbei eilt und aus einem Horn seine Schlafsäfte ausgießt. In der linken - abgeschlagenen - Hand hielt er wohl einstmals die Mohnkapseln. In anderen Darstellungen berührt er mit einem Zweig, der mit dem Wasser der Lethe beträufelt ist, die Schläfe des Betroffenen, ihm so Vergessen schenkend.

    Doch die Ikonologie treibt die mythischen Parallelen, Assoziationen und Analogien noch weiter. Wie der Schlaf die Glieder löst, so auch Eros, so dass eine Trias von Hypnos - Thanatos - Eros entsteht, als Gestalten einer Gesetzmäßigkeit, der kein Lebewesen zu entrinnen vermag. Nur der Mensch vermag ihrer bewusst zu werden, im Wachen des Schlafs, im Leben des Tods und beider vergessend in der Liebe. Alle drei lösen nicht nur die Glieder, sondern auch die Fesseln von Raum und Zeit, im Schlaf und in der Liebe nur vorübergehend, endgültig dann im Tod. Doch nicht nur den Göttervater Zeus, nicht nur den Eros, wie Homer in der Ilias erzählt, vermag der Schlaf zu besiegen, auch von sich selber förmlich übernächtigt tritt er, wie wir von Ovid hörten, in Erscheinung.

    Ein Drittel unseres Lebens etwa, also 25 bis 30 Jahre bei durchschnittlicher Lebensdauer, verbringen wir Menschen im Schlaf. Etymologisch hat das Wort mit "schlapp", dem Matt- und Schlaffwerden der Glieder, dem Absinken der Muskelspannung zu tun, bis hin zu ihrer völligen Hemmung, ja Lähmung im Traumschlaf. Würde diese Hemmung nicht eintreten, müsste man seine Träume ausagieren, was bei krankhaften Veränderungen oder auch beim Schlafwandeln der Fall ist. Nicht von ungefähr gehört auch die "Schläfe", der die Flügel des Hypnos entwachsen, zum Wortstamm des Schlafs.

    Anfang des letzten Jahrhunderts nahm die Schlafforschung ihren Aufschwung. Seit 1924, mit der Entdeckung des Elektroenzephalogramms, kurz EEG, durch den Jenaer Neurologen Hans Berger, wurde die Messung und Aufzeichnung der Hirnströme möglich. Bereits in den 30er Jahren vermochte der amerikanische Wissenschaftler Alfred Loomis, allein auf Grund der Hirnstromkurven, den Schlaf in mehrere Stadien zu unterteilen.

    Dass die Schlafenden die "Werker und Mitwirkenden an den Geschehnissen der Welt" seien, auch diese Einsicht wurde einst schon Heraklit nachgesagt. Sie musste lange in Schlaf versetzt, Irrtümern ausgesetzt oder schlicht vergessen werden, ehe sie mit der modernen Schlafforschung neue, weniger poetisch-philosophische als wissenschaftliche Begründung erfuhr. Jahrhunderte lang durfte im Abendland nur vom Tag her gedacht und die Ratio ohne ihre Nachtseite entwickelt werden, bis dieses Denken bei Descartes und in der europäischen Aufklärung seinen Kulminations-, aber auch Umschlagspunkt erfuhr. So war es Nietzsche, welcher Dezennien später der Mitternacht die Zeilen zudichtete:

    "Ich schlief, ich schlief-,
    aus tiefem Traum bin ich erwacht: -
    Die Welt ist tief,
    und tiefer als der Tag gedacht (…)"


    Das Verdienst moderner Schlaf- und Hirnforschung, welche die produktiven Vorgänge in Schlaf und Traum Schritt für Schritt aufdeckt, liegt daher nicht nur in der wissenschaftlichen Bestätigung dessen, was in Kunst, Mythen und Alltag oft längst als Erfahrungswissen bekannt und wirksam ist. Viel mehr noch liegt es in der Rehabilitierung jener Nachtseite unseres Daseins, welche allzu lange gerade von den Naturwissenschaften ins Irrationale, Nichtige abgedrängt worden ist.

    Bleibt gleichwohl die Frage, ob es solcher Forschung, der das Schlaflabor als sowohl experimentelles wie diagnostisches und therapeutisches Zentrum dient, primär um die heilende Begründung des Schlafs und Traums als wirklichem Menschenrecht geht, oder am Ende nur wieder um die gnadenlose Ausleuchtung eines Vorgangs, in dem nichts mehr geheimnisvoll bleiben darf? Noch immer scheinen Bilder und Sprache der Träume und Mythen reicher, sinnreicher als die faszinierendste SchlafSchrift, welche die Elektroden aufzeichnen.

    In seinem Traktat über "Weltfremdheit" stellt der Philosoph Peter Sloterdijk, wie in Fortschreibung des Heraklitschen Gedankens, einmal fest:

    "Nicht wir machen eine Pause, wenn wir schlafen, sondern die Welt hat Pause, wenn der Schlaf uns vorübergehend von ihr entfernt. Wir kommen in Rhythmen von Wach- und Schlafzeiten vor. Zeichnen wir die Pausen ins ontologische Gewebe der Welt wieder ein, so löst sich der ... Zwang, das Nichtsein aus dem Leben auszusperren."

    Diese anwesende Abwesenheit im Schlaf erinnert an den deus absconditus, den verborgenen und darum abwesenden Gott, dessen Macht und Mächtigkeit gerade durch diese Abwesenheit erfahren wird - und provoziert. In 2500 Jahren, in denen seit Heraklit Nacht für Nacht die Schläfer bewusstlos-weise am Gewebe der Welt mitwirkten, schob somit das Tagesbewusstsein immer wieder ins Dunkel, was es nicht begriff und ihm ähnlich unheimlich dünkte wie Schlafes Zwillingsbruder, der Tod.

    Doch wie die Geheimnisse von Tod, Eros und Gott, so gehört auch der Schlaf, kraft seiner Rätselhaftigkeit, zu den größten Kulturbildnern der Menschheit. Und fiel doch zugleich, wie der Tod, als unbegreiflicher, irrationaler, nächtiger Vorgang der Diskriminierung und Verdrängung anheim - der Prozess der Zivilisation lässt sich nicht zuletzt auch an ihm, an seiner Verehrung und Verfemung ablesen.

    Im Zuge der europäischen Aufklärung, welche in ihrem Begriff die Licht-Metapher zitiert, mit Industrialisierung, protestantischer Arbeitsethik und schließlich der Entdeckung der Glühbirne Ende des 19. Jahrhunderts wird dem Schlaf nicht nur der Prozess, vielmehr noch der Garaus gemacht. Weshalb sich heute die westliche Gesellschaft geradezu als schlaflos charakterisieren lässt, die in Aus-Zeiten ihr Schlafdefizit ebenso panisch wie vergeblich einzutreiben versucht.

    Und den großen weiten Sternenhimmel vermag der Städter, immer Opfer von zuviel und zu wenig Licht gleichermaßen, nur noch entfernt auf dem Lande wahrzunehmen - jenen gestirnten Himmel, in dessen nächtlichem Spiegel der große Aufklärer und Agnostiker Immanuel Kant zugleich das helle "moralische Gesetz" in unserem Inneren erkannte. Bleibt die Gefahr, dass dann auch dieses im voll ausgeleuchteten Labor der Moderne bis zur Unkenntlichkeit verblasst.

    Goyas berühmte Radierung Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer, knapp zehn Jahre nach der Französischen Revolution entstanden, ist Inbild einer "Dialektik der Aufklärung" schlechthin. Im Zyklus der achtzig, als Caprichos bezeichneten Radierungen, war sie zunächst als Titelblatt vorgesehn, dem der Künstler in einer Entwurfs-Skizze ein Ydioma universal, eine universale Sprache zuschrieb.

    Als "universal" erscheint demnach die Sprache des Alps, die den Traumschläfer, vornübergeworfen, die Stirn auf eine Tischplatte gedrückt, heimsucht: umflattert, umzingelt, bedroht von Krallen zeigendem, nächtigem Gelichter. Die universale Sprache des Alps im Gewande der universalen Sprache der Vernunft, die uns im Universum des Schlafs begegnet - dies war es, was 1799 beim Erscheinen der Caprichos den reaktionären Kräften als höchst gefährlich erscheinen musste.

    Zahllos die Deutungen und Zitierungen, die dieses Bild erfuhr. Ihr Wechselspiel hat nicht nur mit der schillernden Semantik von sueño zu tun, das im Spanischen sowohl Schlaf wie Traum bezeichnet. Es hat ebenso sehr mit einem Vernunftbegriff zu tun, der in der Ratio ihre eigene Nachtseite vergaß. Zwei Lesarten drängen sich entsprechend auf:

    Mit der Aufklärung, französisch siècle des lumières, politisch kulminierend in der Französischen Revolution, wurde Licht ins Dunkel der Geschichte gebracht, alles Irrationale zugunsten einer puren Verstandesphilosophie, wie sie sich seit Aristoteles und Platon im Abendland entwickelt hat, abgedrängt. Mit Descartes auf der einen und Kant auf der anderen Seite, sind die beiden ungleichen Vertreter und Deuter menschlicher Ratio und Mündigkeit benannt.

    Schläft diese Ratio, diese Vernunft, setzt sie sich selber schlafend und unvernünftig außer Kraft, so kehren weniger die besiegten als unterdrückten, irrationalen Menschheitsängste als Monster im Alptraum zurück. So wie uns mitten in der Nacht, aus unserer Betäubung erwachend, der horror vacui ereilen kann, so war eben diese Angst vor dem gähnenden, unbegriffenen Abgrund der entscheidende Antrieb, dem sich die Entwicklung der abendländischen Philosophie verdankt.

    Die zweite Lesart von Goyas Bild aber knüpft genau an jenen Vorgang an, den Sigmund Freud erstmals mit seinen Traumforschungen aufhellen sollte: Das Irrationale lässt sich nicht ohne weiteres von der Vernunft bewältigen, überzeugen, gar eingemeinden, sondern kehrt, wenn unterdrückt und "verdrängt", nur umso erschreckender, wie in jenen Alptraum-Gespenstern wieder. Damit wird alle falsche Anmaßung eines einseitig rationalen Denkens, das die eigene Schattenseite, wie Schlaf und Tod sie uns zuwenden, nicht wahrhaben will, in Goyas Bild enttarnt.

    Anknüpfend an die Erkenntnisse Freuds und angesichts der barbarischen Ereignisse des 20. Jahrhunderts waren es die beiden Vertreter solcher "Dialektik der Aufklärung", Theodor W. Adorno und Max Horkheimer, die diesen fortgesetzten Verdrängungsvorgang in der Ratio selber zum Thema machten. "Nichts darf", wie sie einmal formulierten, "draußen bleiben", das heißt, nichts darf, wie auch der Schlaf, in dunkler, ungeklärter, unheimlicher Fremde verharren und uns, weil unbegriffen, bedrohen. So lässt sich Goyas Bild auch als hellsichtiger Vorgriff auf jene künftigen Katastrophen lesen. Die im Prozess der Zivilisation hochentwickelte und keineswegs nur "vernünftige" Ratio brütet im Schlaf ihre eigenen unerkannten, verfemten und verdrängten irrationalen Anteile als alptraumhafte Ungeheuer aus.

    Die philosophische Tragweite dieses Gedankens, dieser Kritik am barbarischen Potenzial dessen, was im Namen solcher eindimensionalen Ratio "Fortschritt" heißt und Freud als "Unbehagen an der Kultur" beschrieb, ist aktueller denn je. Doch nicht nur jene Ausbrüche von Barbarei, die mit buchhalterischer Perfidie betriebene Mordmaschinerie der Nazis inmitten eines aufgeklärten Kulturvolkes, sind die Folge solcher Verdrängung - es sind dies auch die schlichten menschlichen Versehen, die aus Übermüdung kommen.

    Denn was in unserer profitorientierten kapitalistischen Welt nach wie vor als renditelose, vertane Zeit abgewürgt wird, jenes Drittel, das wir zum Schlaf brauchen, gebiert im sogenannten "Sekundenschlaf", im unfreiwilligen menschlichen Versagen noch andere "Ungeheuer": jene folgenreichen Irrtümer, fatalen Nachlässigkeiten, nicht wieder gutzumachenden Fehler - als Folge puren Schlafdefizits. Der Reaktor-Unfall 1979 von Harrisburg wird auf Übermüdung von Mitarbeitern zurückgeführt; auch für Tschernobyl wird dies vermutet.

    Nur kurz lässt sich der Körper überlisten, mit Koffein, Arbeitsdruck, Zusatzlohn, Ablenkung, Drogen. Dann verlangt er unweigerlich sein Recht, sein Menschenrecht. Was für Künstler, Forscher bei zeitweiligem Schlafentzug zu erhöhter Produktivität, zu Einsichten wie in Trance führen kann, das hat im Berufsalltag, vom Lastwagenfahrer, Schichtarbeiter bis zum Piloten oder Techniker in einem Atomkraftwerk womöglich die verheerendsten Folgen.

    Dank Hirn- und Schlafforschung beginnt sich hier ein Wandel abzuzeichnen, der dem Schlaf von medizinisch-neurologischer Seite wieder zu seinem Recht verhilft und seinen schlechten Ruf zu rehabilitieren imstande ist. Einstein, so wissen wir, war ein Langschläfer, dazu, wie Thomas Mann oder Churchill, auch passionierter Mittagsschläfer - allein dies könnte zu denken geben und alle Diskreditierungen zunichte machen. Zumindest wirft es ein Licht auf die mittlerweile auch wissenschaftlich erhärtete Tatsache, dass Schlaf, zumal in jungen Jahren, sehr wesentlich Anteil hat an der Bildung von Gedächtnis und Intelligenz.

    Indes waren die heilenden Kräfte des Schlafs, die derzeit wieder besonders im Focus der Wissenschaft stehen und im künstlichen Koma ihren gesteigertsten Ausdruck finden, schon den Ärzten der Antike, als "Tempelschlaf", bekannt. In nicht-westlichen Kulturen sind diese Kräfte noch heute lebendig. Vor allem der Heilschlaf fand Eingang in Märchen, Dichtung und Riten.

    So wird in Goethes Iphigenie der verzweifelte Muttermörder Orest in einer tiefen Betäubung vom Fluch seiner Ahnen, durch den er selber schuldig wurde, geheilt. Noch einmal begegnen ihm in einem tranceartigen Traum seine mörderischen Urväter: Täter und Opfer defilieren friedlich-heiter und wie es scheint versöhnt in langer Kette an ihm vorüber, in die der Träumende sich ungläubig-selig einreiht. Bis ihm, noch wie im Halbschlaf, die Schwester Iphigenie und der Freund Pylades erscheinen und er unvermittelt, frisch und ohne weitere Erklärung erwacht, mit aller Vergangenheit versöhnt.

    Auf rätselhafte, buchstäblich traumhafte Weise ist der Fluch gewichen und die schwere Schuldenlast von ihm genommen. Ob der Wahrheitsanspruch seiner Schwester Iphigenie dafür der Auslöser war - es bleibt ein Geheimnis, so wie bis heute die zahlreichen Erzählungen von heilenden Träumen ohne fassbare Antwort und rationale Erklärung geblieben sind.

    Gerade diese Schwellenzustände aber sind es, jene Übergänge vom Traum zum Wachen, der Halbschlaf oder jene Trance, die - bei freiwilligem oder unfreiwilligem Schlafentzug - auch aus Überwachheit entsteht, welche Künstler und Dichter immer wieder inspiriert haben. Eine Droge, ähnlich jener Schlaf- und Traumdroge, die sich die Surrealisten verschrieben, deren "automatisches" Schreiben, Zeichnen oder Malen sich gleichermaßen Stadien trancehafter Überwachheit oder halbschlafähnlichen, halluzinatorischen Traumzuständen verdankte.

    "Nicht stören! Der Dichter arbeitet!" Mit diesem Hinweis an der Tür mochte noch der französische Poet Robert Desnos sich schützen, wenn er sich zum Schlaf, sprich seiner kreativen Traumarbeit zurückzog. Zerstreutheit und schlaftrunkene Sicherheit überschneiden sich hier, öffnen Wahrnehmungsräume und setzen ungeahnte Bilder und Erkenntnisse frei - so wie die verschütteten Inhalte des Unbewussten, Vor- und Halbbewussten auf Freuds berühmter Couch.
    In den alt-indischen Upanishaden heißt es:

    "Wenn man tief schläft, ruhig und heiter, und keinen Traum sieht, das ist das Selbst (Atman), das ist das Unsterbliche, Furchtlose, das ist Brahma."

    Anders als im abendländischen Denken sind in der fernöstlichen Philosophie die Pole von Tag und Nacht, von Wachen und Schlaf, Bewusstem und Unbewusstem nicht als einander ausschließend, sondern wie Yin und Yang ineinander gedacht - als Ausdruck einer Energie, welche den Kosmos bis hin zu den kleinsten Organismen, aber auch die anorganische Welt durchfließt. Sich mit dieser Energie zu verbinden, ist das Geheimnis des Yoga, ebenso wie der alten Kampfeskunst, die auch in der Philosophie des ZEN nachwirkt.

    Im Film Die sieben Samurai des großen japanischen Regisseurs Akira Kurosawa von 1954 ist Hauptdarsteller ein älterer Schwertkämpfer, der die Gruppe der Sieben leitet. Die mit dem Schwert kämpfenden Samurai waren einstmals in Japan, was seinerzeit etwa unsere Ritter waren. Diese sieben Samurai kommen einem von Banditen überfallenen Bauerndorf zu Hilfe, das sie mit ihrer Kampf-, sprich Schwertkunst retten. Vier Samurai werden dabei getötet. Jener ältere überlebt, nicht zuletzt dank seiner vollendeten Kampfkunst, die ihn förmlich wie aus dem Schlaf heraus agieren lässt.

    Entspannt lehnend an einem Baum, fast so, als schliefe er, ist er doch im Augenblick der Gefahr hellwach und trifft den Feind mit blinder Sicherheit. Nicht aus einem Zustand gespannter, wacher Aufmerksamkeit, vielmehr aus völlig entspannter, wie schläfriger Haltung holt er blitzschnell aus zum entscheidenden Schlag - Inbegriff einer Geistes-Gegenwart, die in einer jahrtausendealten Tradition wurzelt und sich zu einem eigenen Ethos ausgebildet hat. Noch bis heute hat sich in den hochentwickelten Industrieländern wie Japan und China etwas von dieser Tradition erhalten, wo man dem Schlaf auch tagsüber auf selbstverständliche Weise, womöglich im Stehen huldigt. Nicht als Schwäche, vielmehr als Stärke, als offen und öffentlich genutzte Energiequelle gilt er dort.

    Die gleichsam grelle Schlaflosigkeit unserer säkularen, konsumorientierten westlichen Welt rührt daher an ein tieferes Defizit, ein Vakuum, das gerade in den Übergängen von Müdigkeit - Schlaf - Traum - Erwachen wirksam ist und mit all seinem Horror sichtbar wird. Es ist, als hätte man mit dem Gottesglauben auch den Schlaf gemordet, da an seinen Grenzen eben jenes eine große Fragezeichen nach dem Dahinter steht. Dass islamistische Terroristen, die verdeckt auf ihren Einsatz warten, als "Schläfer" bezeichnet werden, ist nur der zynische Ausdruck einer schrecklichen Verkehrung. Fraglos ist es diese tiefer sitzende Angst, welche uns im Vakuum jener Zwischenräume zu überwältigen vermag, dort, wo die unermüdliche Frage nach dem Sinn unseres Daseins lauert.

    In einem kleinen Stück mit dem Titel Nachts hat Kafka, Anwalt und Experte schöpferischer Schlaflosigkeit, das archaische Muster dieser Angst entrollt:

    "Versunken in die Nacht. So wie man manchmal den Kopf senkt, um nachzudenken, so ganz versunken sein in die Nacht. Ringsum schlafen die Menschen. Eine kleine Schauspielerei, eine unschuldige Selbsttäuschung, dass sie in Häusern schlafen, in festen Betten, unter festem Dach, ausgestreckt oder geduckt auf Matratzen, in Tüchern, unter Decken, in Wirklichkeit haben sie sich zusammengefunden wie damals einmal und wie später in wüster Gegend, ein Lager im Freien, eine unübersehbare Zahl Menschen, ein Heer, ein Volk, unter kaltem Himmel auf kalter Erde, hingeworfen, wo man früher stand, die Stirn auf den Arm gedrückt, das Gesicht gegen den Boden hin, ruhig atmend. Und du wachst, bist einer der Wächter, findest den nächsten durch Schwenken des brennenden Holzes aus dem Reisighaufen neben dir. Warum wachst du? Einer muss wachen, heißt es. Einer muss da sein."

    Wenn wir alle schlafen, wer hält dann Wache? Wenn Gott tot ist, wer schützt, wer wacht dann über uns? Dies die Frage, an die der Schlaf, das Nicht-Schlafen-Können heute rührt. Im Umkehrschluss aber können wir auch sagen: Wenn es schlafen und wachen, Tod und Leben gibt, bleibt in dem kleinen oder großen "Aus" etwas offen, und der Übergang, die Pause ist, wie zwischen Ein- und Ausatmen, nur ein Intervall. Der Gläubige mag es Gott, der Inder Atman oder Brahma, der Atheist obstinat das Nichts nennen. Der schlafbegabte, fröhliche Agnostiker aber hält sich die Optionen so offen wie sie sind. Fast wären Schlaf und Siesta, dieses vorübergehende Aus, dem er sich voller Vertrauen überlässt, für ihn ja ein Gottesbeweis.

    Fest steht: Eine Gesellschaft, die das Schlafen als zweckfreies Sich-Entspannen, vertrauensvolles Loslassen wieder erlernte, würde damit auch ein Stück ihrer Menschseins und ihrer Menschlichkeit zurück gewinnen. Denn wie die Qualität des Schlafs über unsere wache Tagesform entscheidet, so entscheidet die Art, wie wir einschlafen, auch über die Art unseres Erwachens, was vielleicht noch wichtiger ist.

    Der Philosoph und Schriftsteller Walter Benjamin, der das geschichtliche "Aufwachen" in den Rang einer messianischen Kategorie erhob, hat seinen antimythischen, "geistes-gegenwärtigen" Gehalt, der alle wohlfeilen esoterischen Glücksangebote Lügen straft, in dem folgenden Bild festgehalten:

    "Der Tag liegt jeden Morgen wie ein frisches Hemd auf unserm Bett; dies unvergleichlich feine, unvergleichlich dichte Gewebe reinlicher Weissagung sitzt uns wie angegossen. Das Glück der nächsten vierundzwanzig Stunden hängt daran, wie wir es im Erwachen aufzugreifen wissen."


    Die Autorin lebt als freie Publizistin in Berlin. Sie arbeitete an Universität und Theater. 2008 erschien im Insel-Verlag ihr Buch "Lob des Lachens. Eine Schelmengeschichte des Humors".