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Schleuser
Krimineller Menschenhandel oder Fluchthilfe?

Vor allem Flüchtlinge aus Syrien sind auf Fluchthelfer angewiesen. Wo ist die Grenze zwischen kriminellem Menschenhandel und moralisch gebotener Unterstützung? Der Fernsehjournalist Stefan Buchen hat ein Buch über diese knifflige Frage geschrieben. Ausgangspunkt seiner Recherchen: ein konkreter Fall in Nordrhein-Westfalen.

Von Martina Sabra | 01.09.2014
    Flüchtlinge aus Syrien und Afghanistan bei ihrer Ankunft in der griechischen Hafenstadt Pylos.
    Flüchtlinge aus Syrien - wer ihnen hilft, begibt sich auf einen schmalen Grat. (picture alliance / dpa / Nikitas Kotsiaris)
    Die Geschichte beginnt am 29. Januar 2013. An diesem Tag geben die Bundespolizei in Berlin und die Staatsanwaltschaft Essen bekannt, dass sie eine "internationale Schleuserbande" zerschlagen hätten. Unter dem Codenamen "Cash" seien - auch mit Hilfe der Spezialeinheit GSG 9 - an insgesamt 37 Orten in ganz Deutschland Wohnungen durchsucht und Beschuldigte festgenommen worden. Ferner habe es Festnahmen in Griechenland und in Polen gegeben. Der "Kopf der Bande" sei ein 58-jähriger Syrer mit Wohnsitz in Essen. Der Journalist Stefan Buchen, der unter anderem für das Fernsehmagazin "Panorama" arbeitet und der als Kriegsreporter in Syrien war, bekommt diese Nachricht auf den Tisch. Der Fall weckt sein Interesse.
    "Deutschland hat während der ersten beiden Kriegsjahre in Syrien keinen einzigen Flüchtling von dort legal aufgenommen. Auch Syrer, die Verwandte in Deutschland hatten, hatten keine Möglichkeit, legal nach Deutschland zu kommen. Insofern blieb diesen Flüchtlingen nur der Weg über Schleuser, die ihnen falsche Papiere besorgen, die sie heimlich über Grenzen bringen, gegen Geldleistung. Einen anderen Weg gab es für die Flüchtlinge nicht, und das gilt auch heute weitgehend noch."
    Kleines, loses Netzwerk von Syrern
    Stefan Buchen fragt sich, ob im vorliegenden Fall tatsächlich kriminelle Schleuser am Werk waren. Er arbeitet sich durch Berge von Ermittlungsakten, führt Interviews mit allen Seiten. Dabei gewinnt er nach und nach ein ganz anderes Bild: Der mutmaßliche "Kopf der Bande" ist in Wirklichkeit ein Familienvater und festangestellter Ingenieur, der bis zum Beginn des Krieges in Syrien im Herbst 2011 mit Fluchthilfe nichts zu tun hatte. Die angebliche "internationale Bande", ist in Wirklichkeit ein kleines, loses Netzwerk von Syrern, die sich erst nach Beginn des Krieges in Syrien gefunden haben.
    "Sie sind zu dieser Tätigkeit gekommen, weil sie einen Bezug zu Syrien haben und weil der Krieg in Syrien ein ungeheures Flüchtlingsdrama hervorgerufen hat. Die Angeklagten haben nur syrische Flüchtlinge geschleust, sonst niemanden."
    Behörden ermitteln europaweit
    Stefan Buchen vermutet, dass die Gewinne der Fluchthelfer relativ bescheiden waren - wenn sie überhaupt welche gemacht haben. Doch die Behörden ermitteln europaweit. Sie schalten sogar die Terrorfahndung ein: Jedes einzelne Handygespräch könnte eine heimliche Botschaft enthalten, jeder Geldtransfer könnte an Bombenbastler gehen. Als Normalbürger, der vielleicht selbst syrischen Verwandten oder Freunden geholfen hat, beschleicht beim Lesen ein mulmiges Gefühl: Was darf, was kann man überhaupt noch für syrische Flüchtlinge tun, ohne ins Visier der Terrorfahndung zu geraten? Stefan Buchen staunt, welche Kreise die Ermittlungen im Essener Fall ziehen. Dahinter stecke die Auffassung, Fluchthelfer seien per Definition organisierte Kriminelle, und Flüchtlinge seien prinzipiell Opfer. Doch genau das sei nicht der Fall.
    "Schleuser bieten gegen Geld eine Dienstleistung an. Und Flüchtlinge fragen die Dienstleistung nach, wenn sie feststellen, dass es einen anderen, leichteren, ungefährlicheren und auch preiswerteren Weg aus der eigenen Lebensgefahr oder der ihrer Familien nicht gibt."
    Bedrohung in Syrien sei ausgeblendet worden
    Stefan Buchen gelingt es, einige der Flüchtlinge persönlich zu kontaktieren, die mit Hilfe der Angeklagten nach Deutschland gelangt sind. Keiner von ihnen hat sich schlecht behandelt oder bedroht gefühlt. Dennoch werden die Fluchthelfer im Verlauf der Ermittlungen und des Prozesses öffentlich in die Nähe von Menschenhändlern, Mördern und sogar Terroristen gerückt. Einer der Beschuldigten, ein syrisch-stämmiger Kellner aus Athen, wird aus Griechenland nach Deutschland ausgeliefert, weil er syrische Landsleute auf der Durchreise versorgt hat. Die Urteile des Essener Landgerichts fallen hart aus. Besagter Kellner aus Athen und ein franko-deutsch-libanesischer Taxifahrer, der mit seinem Wagen syrische Flüchtlinge chauffierte, müssen jeweils für über zwei Jahre ins Gefängnis. Der angebliche „Kopf" der Gruppe, der deutsch-syrische Ingenieur Hanna L. aus Essen muss über 100.000 Euro Strafe und Gerichtskosten zahlen. Keiner der drei hatte sich zuvor jemals etwas zuschulden kommen lassen. Stefan Buchen kritisiert den Verlauf des Prozesses und die Urteile harsch: Richter und Staatsanwälte hätten sich an Texte und Gesetze geklammert. Die reale Bedrohung in Syrien sei systematisch ausgeblendet worden.
    "Das Politische an diesem Prozess ist die totale Entpolitisierung des Sachverhalts. Ein hochpolitischer Vorgang mit weitreichenden moralischen Implikationen wird allein nach strafrechtlichen Normen bewertet."
    Die wachsende politische Situation
    Das zeigt auch die Wortwahl der Juristen: Aus "Flüchtlingen" werden in den "Cash"-Gerichtsakten "Schleusungswillige"; der Krieg in Syrien heißt nicht Krieg, sondern: "die wachsende politische Situation". Und nicht nur die aktuelle Situation in Syrien, auch die deutsche Vergangenheit werde ausgeblendet, schreibt Stefan Buchen. Er ruft in Erinnerung, dass während der Nazizeit in Deutschland dank Fluchthelfern zehntausende Juden und Nichtjuden vor der Ermordung gerettet werden konnten. Detailliert schildert der Autor auch, wie man in den 1970er Jahren im innerdeutschen Kontext mit sogenannten Schleppern und Schleusern umging: So klagte 1977 ein westdeutscher Fluchthelfer vor einem bundesdeutschen Gericht erfolgreich sein "Honorar" ein – ganz offiziell und ohne Repressalien. Ganz anders die syrischen Fluchthelfer von heute, die in Essen verurteilt wurden.
    "Der Hauptangeklagte, Hanna L., der in Essen als Ingenieur gearbeitet hat, der hat seinen Job verloren, dadurch dass er verurteilt wurde. Das ist eigentlich die Geschichte der Zerstörung einer bürgerlichen Existenz. Nur weil er syrischen Kriegsflüchtlingen geholfen hat."
    Krimineller Menschenhandel oder moralisch gebotene Fluchthilfe
    Stefan Buchen stilisiert die syrischen Fluchthelfer, die in Essen vor Gericht standen, nicht zu moralischen Helden. Keiner der Angeklagten habe ausschließlich aus selbstlosem, humanitärem Antrieb gehandelt. Sie seien auch keine Revolutionäre oder Regimegegner gewesen. Aber ebenso wenig hätten die Angeklagten jemals danach gestrebt, "Schleuser" zu sein. Krimineller Menschenhandel oder moralisch gebotene Fluchthilfe für bedrohte Menschen? Wo genau die Grenze zwischen beidem liegt, darauf gibt es keine eindeutige, allgemein gültige Antwort, und Stefan Buchen maßt sich nicht an, sie geben zu wollen. Doch in diesem konkreten Fall, so sein Fazit, hätte der Rechtsstaat anders reagieren müssen. Dass menschlich integre Fluchthelfer pauschal als Staatsfeinde und als Terrordrahtzieher verteufelt werden, kann man allerdings nicht allein der Justiz und den Medien anlasten. Schuld ist auch eine Politik, die syrischen Kriegsflüchtlingen den legalen Weg ins sichere, freie Europa nach wie vor fast komplett versperrt.
    Stefan Buchen: Die neuen Staatsfeinde. Wie die Helfer syrischer Kriegsflüchtlinge in Deutschland kriminalisiert werden, Dietz Verlag, 200 Seiten, 14,80 Euro, ISBN: 978-3-801-20451-8