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Schlingerkurs der Gefühle

Raymond Radiguets 1923 veröffentlichter Skandalroman "Den Teufel im Leib" wurde nicht nur oft verfilmt, sondern inzwischen auch schon zum vierten Mal ins Deutsche übersetzt. Das Liebesdrama, schreibt Übersetzer Hinrich Schmidt-Henkel im Nachwort - verdiene es, "in jeder Zeit neu gelesen, also auch neu übersetzt zu werden".

Von Christoph Vormweg | 28.03.2008
    Erste Liebe - da muss jeder durch, egal ob sie platonisch oder ganz handfest ist, geglückt oder verpatzt, hetero- oder homosexuell. Wird sie literarisch beschrieben, weckt das im Leser Entdeckungs- oder Vergleichslust, Neugier oder Nostalgie. In jedem Fall: ein Kernthema für Schriftsteller. Bleibt aber die Frage, ob ein Text über die erste Liebe mit den Jahren an Aussagekraft verliert, weil sich die historischen Umstände und gesellschaftlichen Zwänge gewandelt haben. So spielt der Roman "Den Teufel im Leib" vor rund 90 Jahren. Doch ist nicht nur die Prosa des damals erst 17-jährigen Raymond Radiguet frühreif und provokant. Auch die Zeit des Ersten Weltkriegs setzt die Liebenden auf Distanz zur Normalität. Sie rutschen buchstäblich aus ihrem moralischen Korsett heraus. Schon die ersten Zeilen bannen - erzählt vom minderjährigen François, gelesen von Christian Erdmann im Hörbuch:

    " Ich werde mir viele Vorwürfe einhandeln. Aber was kann ich dafür? Ist es meine Schuld, dass ich ein paar Monate vor Kriegsbeginn zwölf wurde? Die Verwirrungen, die diese außergewöhnliche Zeit für mich mit sich brachte, waren ganz sicher andere, als man sie in diesem Alter sonst erlebt. Überhaupt, wer mich verurteilt, der soll sich erst mal vor Augen führen, was der Krieg für viele Jungen meines Alters bedeutete: vier Jahre lang große Ferien. "

    Der Krieg führt fern der Fronten zu Freiräumen, die es ohne ihn nicht gegeben hätte. Denn er schafft einsame, unbefriedigte Frauen wie die 18-jährige Marthe, die gerade erst einen Soldaten geheiratet hat und durch François' Nähe Trost findet. Überraschend ist vor allem Raymond Radiguets Einsicht in die Psychologie der emotionalen Achterbahnfahrt einer verbotenen Liebe, bestechend seine Beschreibung des Schlingerkurses der Gefühle, des ständigen Hin und Her zwischen Euphorie und Eifersucht, Jubel und Ernüchterung. Die Angst vor dem jederzeit möglichen Ende setzt die Sinne von Marthe und François unter Hochdruck: zwei Liebende beim Vabanquespiel. Mal verkriechen sie sich vor der neugierigen Kleinstadtnachbarschaft, dann wieder fordern sie die Entdeckung ihres Glücks geradezu heraus. Der Taumel wird so zum Teufelskreis:

    " Jetzt, wo meine Wünsche erfüllt waren, merkte ich, dass ich ungerecht wurde. Es entrüstete mich, dass Marthe so ohne Skrupel ihre Mutter belog, zugleich nahm ich es ihr böswillig übel, dass sie lügen konnte. Dabei ist die Liebe ein Egoismus zu zweit, der sich selbst alles opfert und von Lügen lebt. Derselbe böse Geist trieb mich dazu, ihr Vorwürfe zu machen, dass sie mir den bevorstehenden Besuch ihres Mannes verschwiegen hatte. Bislang hatte ich meinen Hang zur Herrschsucht gezügelt, weil ich selbst fand, ich hätte kein Recht, Marthe zu drangsalieren. "

    Die Leidenschaft wütet wie ein "Teufel im Leib", der sein unberechenbares Spiel mit François treibt, dem "Lehrling der Liebe", wie er sich selbst nennt. Über Monate lebt er mit Marthe unter dem Damokles-Schwert: Fällt der Frontsoldat oder kommt er zurück? Wie viel ahnen die Eltern? Wird Marthe irgend wann der Unzucht mit Minderjährigen angeklagt oder gar von ihrer Familie verstoßen? Wie gewieft ist sie? Betrügt sie während der Fronturlaube vielleicht Ehemann und Liebhaber zugleich? So nimmt Raymond Radiguets zügig erzähltes Liebesdrama seinen tragischen Lauf: bis hin zu Marthes ungewollter Schwangerschaft.

    " Wenn ich jetzt die Lippen auf Marthes Bauch drückte, küsste ich nicht mehr sie, sondern mein Kind. Wie schade! Marthe war nicht mehr meine Geliebte, sondern eine Mutter. Ich verhielt mich nie mehr so, als ob wir allein wären. Immer war ein Zuschauer mit dabei, dem wir Rechenschaft für unser Handeln ablegen mussten. "

    Kann man neidvoll-männliche Egofixierung schöner beschreiben? Zu den Einblicken in die noch unbeholfene männliche Suche nach dem Liebesstandort kommt in Raymond Radiguets Roman "Den Teufel im Leib" die unverblümte, zuweilen zynisch-brutale Direktheit des jugendlichen Erzählers. Sie öffnet Einblicke in seine immer widersprüchlicheren Seelenzustände und -abgründe. Die Vielzahl der so angeschlagenen emotionalen männlichen Tonlagen hat der Übersetzer Hinrich Schmidt-Henkel prägnant und stimmig in ein gegenwärtiges Deutsch übertragen. Ob die Lust, den anderen zu manipulieren, ob Zweifelsrausch oder Aggression, Selbstverachtung oder selbstgerechtes Fremdgehen: immer wieder kreuzt das Wort Egoismus unseren Leseweg. Und so dürfte die Erstlings-Lektüre dieses viel zu früh im Alter von nur 20 Jahren an Typhus gestorbenen Großtalents, auch heute noch dem einen oder anderen ein paar teure Wege zum Therapeuten sparen.


    Raymond Radiguet: Den Teufel im Leib.
    Roman. Neu-Übersetzung aus dem Französischen
    von Hinrich Schmidt-Henkel.
    Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2007.
    160 Seiten, 14,95 Euro.

    Als Hörbuch gelesen von Christian Erdmann.
    Regie: Alice Elstner.
    Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2007.
    3 CDs, 19,95 Euro.