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Schluchzer wie Schluckauf

Monika Helfer lebt als Schriftstellerin in Vorarlberg und ist mit dem Schriftsteller Michael Köhlmeier verheiratet. Die gemeinsame Tochter Paula starb vor sieben Jahren im Alter von 21. Der neue Roman von Monika Helfer: "Bevor ich schlafen kann" ist unverhohlen dem Andenken an Paula gewidmet.

Von Katja Lückert | 03.12.2010
    Man kann dieses Buch auf zweierlei Arten lesen: mit Hintergrundwissen oder ohne. Das klingt zwar wie eine Plattitüde, denn natürlich hängen Fantasien und Erfahrungen bei jedem Schriftsteller irgendwie zusammen, aber Monika Helfers literarische Spiegelungen des eigenen Erlebens gehen sehr viel weiter in eine Richtung, die man als Schlüsselroman bezeichnen könnte. Das gilt übrigens auch für das neue Buch ihres Ehemanns Michael Köhlmeier, der in Helfers Buch als solcher und wie andere Familienmitglieder auch unter Klarnamen auftritt. Und es gibt es noch weitere Bezüge zwischen beiden Texten, die man aber nicht bemerken müsse, sagt Monika Helfer, man könne ihr Buch - und Köhlmeiers - eben auch so verstehen:

    "Das ist schon ein 'private joke'. Also ich denke, wenn es jemand merkt, dann merkt er's, ich find's amüsant. Also bei ihm kommt ein Hotel vor, das bei mir auch vorkommt und die Personen, die ich dann habe, sind ja die realen Personen, die haben sich bei mir so eingeführt."

    Nicht zuletzt die reale Tochter Paula. In Monika Helfers Roman: "Bevor ich schlafen kann" - der Titel stammt aus einem Gedicht von Robert Frost - ist Paula Köhlmeier zwölf Jahre alt. Sie reist mit ihrer Familie auf die griechische Künstler-Insel Hydra, wo ihr Vater Michael Köhlmeier Lesungen von Texten aus der antiken Mythologie hält. So weit entspricht die Erzählung Wirklichkeit.

    "Dann habe ich mir gedacht, es wäre vielleicht witzig, wir waren ja wirklich auf Hydra, mein Mann hat da Vorlesungen gehalten und wir sind da mitgegangen. Und die Kinder waren schon angeödet und dann habe ich mir gedacht, das pack' ich jetzt da rein. Die Paula ist mir so zugeflogen, und dann habe ich mir gedacht, ich ändere den Namen nicht, es käme mir auch feig vor, ich weiß nicht. Es waren einige Leute irritiert darüber, aber ich habe mir gedacht, Literatur muss alles leisten und es wär' ja komisch gewesen, wenn ich die anders benannt hätte und in meinem Kopf wären es dann doch die echten gewesen."

    Allerdings liest man das Buch ganz anders, wenn man weiß, dass die reale Paula tot ist. Monika Helfers und Michael Köhlmeiers Tochter kam vor sieben Jahren bei einem Bergunfall ums Leben. Vor diesem Hintergrund hält man nicht nur den Atem an, wenn Paula im Text vorkommt, sondern man fühlt sich unendlich beklommener, wenn in der Erzählhandlung ein Kind stirbt, wie gerade geschehen, als die Hauptfigur Josi in Griechenland ein Hotel betritt. Eine Stunde vor Ankunft der Reisegruppe ist der junge Sohn des Hotelbesitzers beim Baden ertrunken.

    "Aus der Tür hinter der Rezeption trat eine junge Frau. Ihr Gesicht war aufgequollen und tränenüberschwemmt. Sie blickte in die Runde, stützte erst ihre Handballen, dann ihre Ellbogen auf den Empfangstisch. 'Please', sagte sie. 'My name is ... ' dann brach sie zusammen. Sie beugte sich vornüber und weinte so laut, dass es widerhallte. Josi, weil sie am nächsten bei ihr stand, eilte ihr zur Hilfe, und Hilfe waren ihre Hände, die sie der jungen Frau ans Gesicht legte, bis sie ruhig wurde. Von Zeit zu Zeit entschlüpfte ihr noch ein Schluchzer, der klang wie Schluckauf."

    Diese Szenen, wie ein Mensch schreit, in welchen Tönen, wenn er eine solche Nachricht bekommt, beschreibt Monika Helfer, indem sie immer wieder zwischen Innensicht und Außensicht hin und her schwingt. Denn einerseits hat sie ihre Hauptfigur Josi, eine Psychiaterin am Wiener Otto-Wagner-Spital, mit genauen Kenntnissen über den Verlauf eines solchen plötzlichen Todesfalls ausgestattet. Sie sieht die Polizisten eintreten und weiß, wie es ist, wenn sie versuchen, die verstörten und vom Weinen geschüttelten Familienmitglieder zu befragen.

    "Als hätte sie es bereits in einem Film gesehen."

    Und andererseits verfällt Josi selbst beim Anblick der Beamten in eine gedankliche Trance, und schildert die schneidig geschnittenen Uniformhemden und die polierten Halfter der Polizisten, als sei sie selbst eine Trauernde, deren Aufmerksamkeit plötzlich von Nebensächlichkeiten absorbiert wird.

    Zu was für paradoxen Gefühlsverwicklungen es kommen kann, wenn das eigene Kind stirbt, wird auch an anderer Stelle deutlich, wenn Josi sich an den Fall eines Vaters erinnert, dessen Tochter von einem Betrunkenen überfahren worden war und der sich ein Leben lang schuldig fühlte, weil er den Täter nicht hassen konnte. Immer wieder werden der Verlust und die Möglichkeiten mit ihm weiterzuleben zum bestimmenden Thema des Romans.

    "Das Glück, meine Liebe wird die Frau zur Deckenlampe hinauf sagen, wenn es überhaupt kommt, kommt nur einmal, höchstens zweimal, und wenn es tatsächlich zweimal kommt, das vergeht vom einen zum anderen Mal eine ziemlich lange Zeit. Beim Unglück sieht es anders aus. Es kommt immer zweimal oder dreimal oder viermal sogar und immer kommt es kurz hintereinander."

    Josis Unglücksfälle sind einerseits der Brustkrebs, der an Stelle der Brüste zwei kreuzförmige Operationsnarben hinterlassen hat und andererseits die Erkenntnis, dass ihr Mann Thomas homosexuelle Neigungen entwickelt und sie wegen eines Mannes verlässt. Allerdings erscheint diese Begebenheit wenig glaubhaft und seltsam schematisch, ein Jahr lang soll der Gatte bereits auf Abwegen gewesen sein, ohne dass seine Frau etwas gemerkt hat.

    "Ich habe einen Fall gelesen, in der Zeitung, im Standard, eine Frau ist genau in der Situation gewesen, sie hatte zwei Kinder, und dann hat sie eines Tages so Schwulenmagazine gefunden. Es ist komisch, wenn man sich mit etwas beschäftigt, dann hört man immer mehr solche Geschichten. Und es ist auch so, dass diese schwulen Männer nicht seit ihrer Pubertät schwul sind, sondern es dann entdecken, wenn sie verheiratet sind, das ist doch das Brutale. Wenn der Mann eine Geliebte hat, kann ich versuchen, sie ihm wieder auszuspannen, aber wenn er schwul wird, kann ich mich ja erschießen."

    Josi, eine Frau, die "zwischen Depression und Dynamit aufgespannt" ist, wie Helfer schreibt, versucht, sich eine neue Identität zuzulegen. Wie ein feiner Herr trägt sie Anzüge, gibt sich distanziert und unnahbar. Sie folgt dem Rat ihrer erwachsenen Kinder und macht eine Bildungsreise nach Hydra - auch mit den entsprechenden Bildungseinsprengseln, die allerdings ein wenig angeschminkt wirken: Einmal lässt sie die Tür des Speisesaals zufallen, wie Clawdia Chauchat in Thomas Manns Zauberberg. Ansonsten genießt sie wunderschöne Ausblicke aufs Meer, mehrmals die Hydra-Fischplatte und ganz besonders, die Aussicht, von einem neuen Mann sexuell begehrt zu werden.

    Monika Helfer macht sich in diesem vierteiligen Roman, der zuweilen in viele Einzelbegebenheiten und Rückblenden zu zerfallen droht, schließlich auch selbst zur fiktionalen Gestalt: Frau Köhlmeier, Paulas Mutter, hält sich gern im Hintergrund, möchte zwar, dass ihre Kinder anstandshalber an den Erzählstunden ihres Vaters teilnehmen, scheut aber ansonsten den Kontakt mit den Mitreisenden. Helfer beschreibt sich als "besonders liebe Frau" - eine zutreffende Charakterisierung?

    "Es ist schon so, dass er der Hauptschreiber ist, in diesem Haus, also ich schreibe sicher auch schon so lang wie er, aber ich habe nie so viel geschrieben. Ich habe auch nicht diese Power wie er. Seit Paulas Tod habe ich eh' keine Romane geschrieben, der Micha hat immer noch mehr geschrieben nach Paulas Tod immer noch mehr. Ich habe das Gefühl, um so mehr er, um so weniger habe ich geschrieben, das ist irgendwie so. Wir haben ja auch so eine symbiotische Beziehung, sind ja dreißig Jahre schon zusammen und dann wechselt es halt immer so. "

    Josi ist von einer unbändigen Liebessehnsucht getrieben und Max, ein kulturell interessierter Apotheker aus Wien beginnt sich, wie gewünscht, für sie zu interessieren.Und weil das Glück manchmal doch zweimal hintereinander kommt, schließt sie auch noch Freundschaft mit Paula. Das junge, für ihr Alter fast allzu aufgeweckte Mädchen, wird zu einer tröstenden Figur für die vom Schicksal gebeutelte Josi.

    Wenn dann der Roman mit einer E-Mail an Paula schließt - "Wir reden oft von Dir (...) du gehörst zu unserem Leben, ich hab dich lieb" - darf man sich wieder fragen, wer hier eigentlich spricht: Josi oder die trauernde Mutter Monika Helfer, auch wenn diese immer wieder betont, den Schmerz könne man sich nicht von der Seele schreiben.

    "Ich glaube, das geht nicht. Das würde ja bedeuten, dass er irgendwann weniger wird. Ein Buch dient nicht dafür, dass man seinen Schmerz verarbeitet, also ich meine, sie ist ja auch eine Romanfigur bei mir. "

    Es stimmt, man kann diesen Roman lesen ohne die schmerzliche Familiengeschichte der Köhlmeiers zu kennen. Doch wenn man sie kennt, oszilliert die Wahrnehmung unabdinglich zwischen beiden Spuren - zwischen Erinnerung und Literatur.

    Monika Helfer: "Bevor ich schlafen kann"
    Deuticke Verlag, Wien 2010, 224 Seiten, 17,90 Euro , 224 Seiten.