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Schluss mit dem Überfall auf die Armen im Land

Immer mehr Spanier verlieren ihre Arbeit, ihren Status, ihre Wohnung, schlicht das Nötigste zum Leben, Nöte die vor zwei Jahren nur die unterste Schicht betraf, bedrückt nun den Mittelstand. Ein Bürgermeister in Andalusien sorgt mit umstrittenen Aktionen für Aufmerksamkeit.

Von Hans-Günter Kellner | 23.08.2012
    Einige Familien packen Milch, Reis und Konserven in insgesamt elf Einkaufswagen. Die schieben sie dann einfach an den Kassiererinnen vorbei zum Ausgang. Die Beschäftigten des Supermarkts werden nervös, später erstatten zwei von ihnen Anzeigen wegen Körperverletzung. Das war vor zwei Wochen. Seither vergeht kein Tag ohne einen Fernsehauftritt des Erfinders dieser Protestaktion. Juan Manuel Sánchez Gordillo ist Bürgermeister des bei Sevilla gelegenen Dorfs Marinaleda, Mitglied des andalusischen Regionalparlaments und begründet diese Aktion so:

    "Ich verstehe diese Aufregung der Pharisäer nicht. Das ist nicht mal der millionste Teil der Lebensmittel, die die Supermärkte auf den Müll werfen. Hier wird viel zu viel von Risikoaufschlägen und Staatsanleihen gesprochen. Dabei reicht es bei vielen Menschen nicht mal mehr für ein Glas Bohnen. Und dann wird gekürzt. Diese Sparprogramme sind ein Überfall auf die Armen im Land. Warum wird nicht mal bei den Reichen gekürzt?"

    Der anarchistische Bürgermeister ist schon in der Vergangenheit mit Landbesetzungen berühmt geworden und durch die Organisation seines Dorfs in einer Kommune. In Marinaleda arbeiten fast alle in einer Landwirtschaftskooperative, der Lohn beträgt etwas mehr als 1100 Euro - für Landarbeiter in Spanien ist das überdurchschnittlich viel. Kritiker weißen jedoch auch darauf hin, dass das Dorf und seine Kooperative in hohem Maß von Subventionen abhängen. Ungeteilte Zustimmung findet auch die Aktion im Supermarkt nicht. Fernando Cuevas ist beim spanischen Roten Kreuz für die Armutsprogramme zuständig:

    "Ich finde das schon fragwürdig. Man kann die Leute nicht auffordern, Supermärkte zu überfallen. Stattdessen muss man darüber diskutieren, wie wir mit der wachsenden Armut umgehen wollen - mit den sozialen Diensten in den Städten und Regionen, mit der Regierung. Wie können wir armen Menschen am besten helfen? Kein Weg sind hingegen Aktionen, bei denen auch Gewalt ausgeübt wird."

    Denn schon heute gibt es für notleidende Menschen andere Versorgungswege. Allein das spanische Rote Kreuz hatte im letzten Jahr 67 Millionen Kilo Lebensmittel an fast 900.000 Bedürftige verteilt. In diesem Jahr dürften 1,2 Millionen Notleidende auf kostenlose Lebensmittel angewiesen sein. Allerdings rechnet das Rote Kreuz damit, den Bedarf nicht mehr decken zu können. Nur noch 33 Millionen Kilo dürften für die Verteilung zur Verfügung stehen.

    "Die Regierungen und die EU müssen mehr Lebensmittel zur Verfügung stellen, gerade in den Staaten, in denen die Krise so hart zugeschlagen hat. Wir haben schon vor zwei Monaten Alarm geschlagen, und Behörden, Unternehmen und die Bürger zu Spenden aufgefordert, um diese Not zu lindern. Ich wiederhole, die Zahl an extremer Not leiden Menschen hat sich um 300.000 erhöht."

    Während die Organisation nur noch die Hälfte verteilen kann. Grund seien die gestiegenen Lebensmittelpreise, während die Mittel des Programms "Nahrungsmittel für Bedürftige" der Europäischen Union mit 500 Millionen Euro stabil geblieben seien, erklärt der Sprecher des Roten Kreuzes. Gleichzeitig ziehen sich die spanischen Behörden aus der Sozialpolitik immer weiter zurück. Selbst die steigende Spendenbereitschaft der Bevölkerung und auch der Supermärkte könne das nicht mehr ausgleichen, sagt Fernando Cuevas:

    "Die Sozialämter schicken immer mehr Menschen zu uns, die sie aufgrund der Haushaltslage nicht versorgen können. Insgesamt haben wir im letzten Jahr 2,1 Millionen Menschen versorgt, nicht nur mit Lebensmitteln. Und die monatlichen Statistiken zeigen uns, dass es in diesem Jahr noch mehr sein werden."

    Auch die spanische Caritas warnt davor, dass die Hilfswerke den Staat nicht ersetzen können. Der andalusische Bürgermeister und Regionalparlamentarier Manuel Sánchez Gordillo hat unterdessen eine polizeiliche Vorladung bekommen. Er freut sich darüber. Das sei "noch mehr Werbung für unsere Aktion" sagt er:

    "Wenn die Regierung solche Aktionen vermeiden will, soll sie ein Dekret erlassen: Die Supermärkte müssen Lebensmittel fünf Tage vor Ablauf des Verfallsdatums dem Roten Kreuz oder der Caritas spenden. Die landen ja sonst auf dem Müll. Ist es da nicht besser, wenn ein Kind diese Nahrung bekommt? Wir haben unsere Aktion gemacht, damit die Regierung das endlich begreift. Wenn ich dafür ins Gefängnis komme, ist es für mich eine Ehre. Aber die Regierenden müssen verstehen!"