Freitag, 19. April 2024

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Schluss mit lustig

Wenn man mit eingefleischten Matt-Ruff-Fans über ihren Lieblingsautor spricht, und auch hierzulande gibt es einige Hunderttausend, dann purzeln nur so die Namen: etwa Blackjack, den Kampfkater mit stählernen Krallen, sein Freund Luther, eine Promenadenmischung, die Polizistin Nattie Hollister oder Z.Z.Top, nein - nicht die Band aus Texas, sondern jener "bohemische Minister des Schlechten Geschmacks", alle aus Matt Ruffs furiosem Erstling "Fool on the Hill". Oder den Großindustriellen Harry Gant und Philo Dufresne, Kapitän des Öko-U-Boots "Yabba-Dabba-Doo" mit seiner weltliterarischen Besatzung Mowgli, Sir Galahad und Little Nell Kazenstein, um nicht "G.A.S" zu vergessen, den gallebitteren "gasphasigen analogen Supercomputer", der Matt Ruffs zweitem Donnerschlag den Namen gab.

Von Joachim Scholl | 09.12.2004
    Und allen voran Meisterbrau - den riesigen Weißen Hai in der New Yorker Kanalisation. Mit diesem schrägen Personal - rund fünfzig ebenso eindrückliche Charaktere haben wir unterschlagen - inszenierte der Autor solch monströs trickreiche und stilistisch verschlagene Geschichten, dass selbst der Großmogul der Postmoderne, Thomas Pynchon reichlich platt war, einen ritterschlagmäßigen Klappentext spendierte und von einem "schwindelerregenden Leseabenteuer" schwärmte. Das hat den Youngster berühmt gemacht, und jedes Jahr, das seither verstrich, die Spannung auf das nächste Werk, die nächste verwegene Phantasie dieses literarischen Kobolds gesteigert: Was würde er sich wohl ausdenken? Nun, es ist etwas ganz Anderes, ganz Neues, auf den ersten Blick; auf den zweiten doch wieder nicht, obwohl... Aber der Reihe nach, hier kommt der Held:

    Andy Gage wurde 1965 geboren und nicht lange danach von seinem Stiefvater, einem sehr bösen Menschen, namens Horace Rollins, ermordet. Es war kein normaler Mord: Die Misshandlungen und Schändungen, die ihn töteten, waren zwar real, sein Tod aber nicht. Tatsächlich starb nur seine Seele, und als sie starb, zersplitterte sie. Dann wurden einzelnen Fragmente zu eigenständigen Seelen, den gemeinsamen Erben von Andys Leben. Von den sieben ursprünglichen Seelen, die von Andy Gage abstammten, wurden fünf später ebenfalls ermordet, und selbst die zwei Überlebenden sahen sich gezwungen, sich aufzuspalten, um mit der Situation fertig zu werden. Als sie endlich von Horace Rollins freikamen, lebten in Andy Gages Kopf bereits über hundert Seelen.

    Das sind das "Ich und die anderen", das Ergebnis eines Verbrechens: Kindesmissbrauch, und so wird schon auf Seite zwei des Romans deutlich, dass es hier nicht um drollige Viechereien, Turbo-Sci-fi-Comic-Action geht, sondern um etwas sehr sehr Ernstes:

    Mein Vater erwartete mich am Ufer des Sees, zusammen mit Adam und Jake und Tante Sam. Hinter ihnen stand das Haus, Seferis hoch oben auf der Kanzel, von wo aus er den Körper im Auge behielt; und ich spürte, dass mich die anderen - zu scheu, um sich zu zeigen - von den seezugewandten Fenstern und vom Waldrand aus beobachteten. Gideon muss auch zugeschaut haben, von der "Wüste" aus, aber damals wusste ich noch nichts von ihm. Wahrscheinlich sollte ich das mit dem Haus erklären. Tante Sam sagt, ein guter Geschichtenerzähler verrät wichtige Informationen nur stückchenweise, nach und nach, damit seine Zuhörer das Interesse nicht verlieren, aber ich fürchte, wenn ich nicht schon jetzt alles erkläre, werden Sie nichts verstehen, und das ist noch schlimmer, als das Interesse zu verlieren. Sehen Sie mir also nach, und ich verspreche, darauf zu achten, Sie später nicht zu langweilen.

    Dieses Versprechen löst der Erzähler mit Sicherheit ein, aber er wird seine Leser auch in ein Wechselbad der Gefühle stürzen und eine konstante Irritation auslösen, mit der nicht leicht klarzukommen ist. Denn auf dem Grund des Romans lauert das schauerlichste Entsetzen vergewaltigter Kinderseelen, ein traumatisches Thema, mit dem Scherz zu treiben sich von vornherein verbietet: Wird Matt Ruff das packen, gerade dieser Feuerkopf?

    Zunächst entwirft er gekonnt und einfühlsam das Spektrum von Andys Krankheit, die im klinischen Jargon "MPS", Multiple Persönlichkeitsstörung heißt. Jenes Haus, von dem eben die Rede war, ist Teil seiner Therapie: ein gedankliches Gebäude im Kopf, das all den verschiedenen Seelen einen Platz, ein Zimmer sozusagen, zuweist und somit eine vorläufige Ordnung schafft. Nur so kann Andy leben und sich einigermaßen sozial arrangieren.

    Der Geist des leiblichen Vaters übernimmt dabei die Regie, regelt die Verhältnisse, kontrolliert die Persönlichkeiten und ihre Kräfte, die je nach Situation stark oder schwach sind, manchmal abrupt die Herrschaft an sich reißen und Chaos produzieren. Es ist das Bild einer vielköpfigen Familie: die gewissenhafte, ausgleichende Tante Sam, der pubertierende Teenager Adam, das Kleinkind Jake oder der Muskelprotz Seferis, der jeden Morgen zweihundert Liegestützen macht. Wenn Andy sich im Griff hat, kann er diese Seelen einigermaßen kontrollieren, dann ist er sanft und liebenswert. Aber dann kann alles mit einem Mal schrecklich schief gehen, zum Beispiel in einer Kneipe, in der Andy mit seiner Arbeitgeberin Julie sitzt, ein ganz gefährliches Terrain:

    "O nein", sagte ich. "Adam! Nein!" Das Bier. Natürlich. Er hatte es auf das Bier abgesehen. Alkoholtrinken verstößt gegen die Regeln des Hauses, aber Adam schert sich nicht um Regeln. Als er den Krug an die Lippen hob, versuchte ich, ihm den Körper zu entreißen, aber er war fest entschlossen, dranzubleiben, bis er mit seiner Vorstellung fertig wäre. Er brauchte nicht lange gegen mich zu kämpfen. Schnellsaufen gehört zu Adams am besten ausgebildeten "Talenten"; er legte lediglich den Kopf in den Nacken, und das Stout-Bier gurgelte ihm ohne jede Schluckpause den Schlund hinunter wie Wasser, das durch eine Regenrinne läuft. "Aaaaaaahhhh -" Adam knallte den leeren Krug auf den Tisch. Dann beugte er sich vor, öffnete den Mund und rülpste Julie mit Donnerhall ins Gesicht.

    Ganz schön komisch, nicht wahr? Es gibt viele solcher Szenen, vielleicht zu viele. Denn Matt Ruff verdoppelt sie noch durch die zweite Hauptfigur Penny. Auch sie ist eine multiple Persönlichkeit, allerdings noch aggressiver zugespitzt. In ihrer Psyche toben sich zwei böse Geister aus, zwei "weird sisters" namens Maledicta und Malefica mit einem solch obszönen Mundwerk, dass auf deutsch kaum zu zitieren ist: "fuck" und "cunt" und "shit" und "hole" in einem fort. Auch das reizt anfangs sehr zum Lachen, doch irgendwann hat man von diesen dreckigen Witzen genug. Andy und Penny bilden fortan ein absonderliches Paar, zusammen begeben sie sich auf eine irrwitzige Reise durch die Kraterlandschaften ihrer Seelen und durch halb Amerika.

    Ein turbulentes Roadmovie setzt ein, jetzt ist Matt Ruff - wen wundert’s - auf der Höhe seiner dramaturgischen Fähigkeiten. Dabei lässt er wie gewohnt nichts aus an grotesken Verwicklungen mit Nebenfiguren, plötzlichen Handlungsumschwüngen und rasantem Action-Kino, bei der Autos, Bars und Kinnladen zu Bruch gehen. Dann reißt er sich wieder zusammen, er bemerkt, über welch sensibles Thema er schreibt, und wird ernst und tiefgründig. So entsteht die große Widersprüchlichkeit dieses Romans.

    Unbedingt will der Autor seriös sein, und er schafft es oft, mit enormen Takt und Bewusstsein für den Abgrund, in den er blickt. Aber dann kann er es einfach wieder nicht lassen, dem alten Matt Ruff-Affen allen erdenklichen Zucker zu geben. Dadurch ruiniert er ein ums andere Mal, was an etlichen Stellen verblüffend gelingt: Zwei auf den Tod verwundete Seelen zu schildern, ihren Kampf mit der Vergangenheit und die verzweifelte Suche nach einer irgendwie normalen Identität. Doch man kommt immer wieder auf dieselbe Frage zurück: Darf man auf diese Weise vom Kindesmissbrauch erzählen? Amerikanische Kritiker haben darauf mit einem klaren, mitunter jedoch so krachenden "Ja" geantwortet, als ob sie ihre eigenen Zweifel mit Absicht unter Kuratel gestellt hätten.

    Außer Frage steht, dass "Ich und die anderen" ein höchst lesenswertes Buch ist. Aber der Spaß von einst ist vorbei. "Fool on the Hill" und "G.A.S" waren fröhliche Kindergeburtstage. Jetzt geht es nicht mehr um hübsche Gags, sondern um wirkliche Probleme. Und neue Maßstäbe. Der nunmehr 38-jährige Autor hat seinen ersten, mutigen Schritt ins Erwachsenenalter getan. Selbst seine größten Anhänger werden künftig anders über "ihren" Matt Ruff reden.

    Matt Ruff: "Ich und die anderen"
    (Hanser Verlag)