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Schmelzling und Teppichgeister

Botho Strauß war seit seinen literarischen Anfängen vor nunmehr über 30 Jahren immer ein ziemlich strenger Zeitkritiker, wenngleich ein gewisser ennui, ein periodisch sich äußernder defätistischer Selbstzweifel oft nicht zu verkennen war.

Von Gabriele Killert | 03.12.2006
    Das Theaterpublikum vor allem der 70-er und 80-er Jahre feierte seine Stücke, weil es sich in diesen von Cechov inspirierten Stillstandskomödien wiedererkannte. Für polemischen Zündstoff sorgte dann 1993 der Strauß-Essay Anschwellender Bocksgesang im Spiegel, in dem er der medialen Massenkultur die Leviten las und schwere Zeiten prophezeite, für die diese Gesellschaft in ihrer mental und moralisch geschwächten Verfassung nicht gerüstet sei. Diese kritische Diagnose hat sich in den letzten Jahren eher noch verschärft, man denke an sein letztes Theaterstück "Die Schändung", eine Adaptation des Titus Andronicus, eines der finstersten und blutigsten Shakespeare-Dramen.

    Nun ist ein Band mit Prosaminiaturen erschienen, Mikado, einundvierzig Fabeln, "Kalendergeschichten", so viele, wie das Mikadospiel Stäbe hat. Und da liest man in Besprechungen erstaunt, der Autor sei milde und versöhnlich geworden, ja von einer Konversion zu einem "zufriedenen Apokalyptiker" war sogar die Rede. Wie kann das sein? Hat hier ein spätestens seit der Fußballweltmeisterschaft spürbar verbreitetes Harmoniebedürfnis nun auch die Kritik korrumpiert? Schauen wir uns die neuen Texte also etwas genauer an.

    Mikado ist auf den ersten Blick tatsächlich ein merkwürdig idyllisierendes Buch der Merkwürdigkeiten, ein Reigen märchenhafter Täuschungen und Verkehrtheiten. Wir begegnen Menschen und Dingen im Ausnahmezustand der Betörung oder Verstörung. Eine "Mauerküsserin" versucht einen steinernen Mann aus dem Mörtel hervor zu küssen. Staubgefüllte "Teppichgeister" entbrennen in Liebe zu einem mageren Menschenkind. Da gibt es die einsame Kustodin, den untüchtigen Lehrer, drei arbeitslose "Seher", den "Schmelzling", den "Listenschließer" und "Bittersüßchen" - Botho Strauß-Figuren auf der Drehbühne seines kleinen epischen Welttheaters, und inkognito wie der Kalif zwischen seinen Untertanen vagabundiert der melancholische Geist des Autors unter seinen Geschöpfen umher und versucht die dunkle "Hieroglyphe" der Gegenwart zu entziffern. Mikado - schon im Titel steckt ein Fingerzeig des Autors an den Leser, er möge das alte Geduldspiel noch einmal mitspielen und die kleinen Allegorien wie Mikadostäbchen behutsam, sozusagen mit Fingerspitzengefühl aufnehmen. Wir wollen es versuchen und greifen, möglichst ohne zu wackeln, gleich das erste Stäbchen auf, die Titelgeschichte Mikado. Sie beginnt so:
    "Zu einem Fabrikanten, dessen Gattin ihm während eines Messebesuchs entführt worden war, kehrte nach Zahlung eines hohen Lösegelds eine Frau zurück, die er nicht kannte und die ihm nicht entführt worden war."

    Nun wäre es durchaus denkbar, dass so mancher Ehemann eine solche Situation als einen Glücksfall begrüßt, der einem nicht alle Tage widerfährt: eine neue Frau frei Haus geliefert zu bekommen. Unser Mann hier aber ist zutiefst verstört und erschrocken. Da behauptet diese ihm gänzlich fremde Person, die gleich das kaputte Fahrrad in der Garage repariert und sich im Hause breit macht, immer schon seine Frau gewesen zu sein, während seine "gelehrte" arme wahre Ehefrau wohl immer noch gefangen irgendwo in einem Kellerloch dahin vegetiert. Was tun, ein zweites Lösegeld könnte er nicht aufbringen, er muss sich mit dieser Fremden irgendwie arrangieren. Sie ist ja auch ganz nett, doch schon bald, beim abendlichen Mikadospiel, entpuppt sich die "patente Heimwerkerin" als tückisches, unfriedliches Wesen. Sie spielt souverän, doch plötzlich nimmt sie den ranghöchsten Stab, den Mikado, und bricht ihn, zum Entsetzen des Mannes, mitten entzwei.

    "Das Spiel mit den wertvollen Stäben war für immer zerstört. Die unruhige Hand ergriff zitternd einen der untergeordneten Stäbe und hielt ihn wie einen Spieß umklammert. Der Mann betrachtete die nadelfeine Spitze. Er hatte kein anderes Empfinden mehr, als diese Spitze durch die linke Wange der Frau zu stoßen, durch ihre Zunge zu bohren und aus der rechten Wange wieder hinaus. Gestoßen und gestochen. Nicht jetzt. Aber eines Morgens, ja..."
    Versöhnlich klingt das nicht gerade. Schon klar, wer in dieser Parabel mit der neuen "falschen" Frau gemeint ist. Sie ist -in einer Variante des alten barocken Motivs von der "Frau Welt" - die Allegorie der Gegenwart, die das hohe Spiel der Kultur aufkündigt. Strauss greift hier eine Denkfigur aus seiner frühen Erzählung Theorie der Drohung von 1975 wieder auf: das Motiv der fremden Frau, die behauptet, die vertraute Geliebte zu sein. Die "unbegreifliche Fee" des Vergessens ist in jener frühen Künstlernovelle eine Psychiatriepatientin und eine gute Fee, insofern sie den melancholischen Dichter zwingt, sich auf sie einzulassen und damit aus seiner Schreibkrise raus zuarbeiten.

    Hier in Mikado waltet die böse Fee des Vergessens, die uns alle zu "Gegenwartsnarren" verhext, -die ärgste Feindin der Dichter und dieses Autors im speziellen. Als "helle und muntere" Person wird sie apostrophiert. Und das heißt bei Strauß nichts Gutes:

    "Hellesein ist die Borniertheit unserer Tage"

    Strauß wird sich etwas dabei gedacht haben, wenn er mit dieser Gewaltphantasmagorie den Reigen seiner Parabeln eröffnet. Wir können es nur so lesen: Freunde, mit dieser "hellen und munteren" Person, die uns von der mythischen Zeit, von der "Tiefenerinnerung" abschneidet, ist kein Auskommen, die Borniertheit der Gegenwart, ich will sie nicht im Haus haben.

    Nein, seinen Frieden mit dieser Gesellschaft hat er bestimmt nicht gemacht. Wie man sieht, ist der heilige Zorn des Autors unverbraucht.

    "Nicht mehr mitmachen, endlich Schluß mit der verlorenen Liebesmüh... "Ach Gott, die Selbstherrlichkeit dieser Menschen! Dieser Leutchen!... was ich nicht alles arrangierte, um Leute in den Park zu locken, aber das alles scheint nicht mehr besonders gefragt zu sein. Nicht innovativ genug für heutige Ansprüche. Schade... Doch, doch. Die Menschen wollen durchaus Vorträge hören. Aber nicht meine. Sie verstehen mich nicht. Weil ich reden kann! Weil ich ein Redner bin. Das ist das Ausgestorbene an mir... ich liebe, ich bewundere, ich vergöttere, worüber ich rede: ich bin mitreißend! Dazu gehört die Menge, nicht das verschwindend kleine Häufchen."

    Hier beklagt sich ein Gartenhistoriker bitter über die Ignoranz der Zeitgenossen. Er tut dies in einer Art Wechselgesang mit seiner Schwiegertochter, die sich wiederum über die menschlichen Defizite seines Sohns beklagt. Der Parkliebhaber ist beileibe nicht der einzige düpierte Kulturträger im neuen Botho Strauß-Band. Vom schnöden Zeitgeist ausgemustert fühlen sich auch in einer anderen Parabel drei alte Seher, die am Rande des Domplatzes auf "eisernen" Stühlen hocken wie Rentner oder Hartz-IV-Empfänger, heruntergekommene alte Zausel, deren Seherkraft mangels Beanspruchung schon ziemlich verkümmert ist. Sie können sich auch nur noch gemeinsam e i n e n Geist leisten. Diesen Homunkulus setzen sie auf eine junge Frau an, eine mit Tüten bepackte Touristin, die sich mit ihrem "ganzen Klump" auf einer Bank am Dom ausgestreckt hat. Er soll sich bei ihr einschleichen, um "das Geheimnis ihrer satten und schläfrigen Gegenwart zu ergründen." Wieder ist also eine Frau das Sinnbild der Gegenwart. Das ist kein besonderer Chauvinismus, sondern der allerälteste. Nach der Logik des Mythos muss es eine Frau sein, die den Schaden anrichtet, eine Verführerin wie Eva, die erste Frau, die schließlich den schlimmsten Verlust der Menschheit auf dem Kerbholz hat: den des Paradieses. Auch diese träge Dame, diese Tüten-Tussi auf der Bank ist eine Verführerin, die den Tölpel von Geist liebestoll macht und die drei Seher um den Verstand bringt.

    "Er setzte alles daran, sie endgültig aus der Welt des Schauens zu vertreiben- hinein in die Welt der skrupellosen Gegenwart. Wenn wir schon stürzen, so ließ er sie denken, dann soll es der Sturz sein in eines Menschen runde Arme! Schluß mit den feigen Siegen der Unberührten!...Stürmen wir die Sparkasse, in der sich das Gold nicht getauschter Küsse türmt..."

    So ist also auch von den "Sehern", sprich den Dichtern und Denkern nichts mehr zu erwarten. Bevor sie ganz abgeschrieben sind in dieser Gesellschaft, machen sie lieber mit, lassen sich einwickeln. Was sollen sie dieser Zeit, die unter der Fuchtel des "Sekundären", des Geredes, der kritischen Diskurse steht, auch weissagen? Diesen Zeitgenossen, mit List und Tücke begabten Kleindarstellern einer Soap-Opera, eines Surrogatlebens, die nichts zu wissen scheinen von den Verlusten, die ihr Banausentum der Kultur täglich zufügt. Wenn drei Klagende in seinem Namen versammelt sind, so ist der Autor mitten unter ihnen.

    "Paradoxerweise wäre gerade dies, auf dem Höhepunkt der Unerheblichkeit seiner Existenz, die Stunde des Dichters. Nichts könnte jetzt vorbildlicher und nützlicher wirken als die Begabung, mit seiner Zeit zu brechen und die Fesseln der totalen Gegenwart zu sprengen. Aber sind wir nicht in dieser Gesellschaft bloß eine Minderheit unter anderen, eine Gruppe von Behinderten unter anderen, die längst auf die Allgemeingültigkeit ihrer Rede verzichtet hat? Hat uns die Macht des Vielfältigen, die Bunte Liste der tausend Spleens und Richtigkeiten nicht unfähig gemacht, einem wie auch immer imaginären Ganzen gegenüber die exzentrische oder avangardistische Stellung zu beziehen, durch die es erst Gestalt gewinnt?
    Ausgerechnet jetzt, da der Konsum total geworden ist.., fehlt es doch an einer neuen Literatur, die aus der entschiedenen Absage an diese Konsumierbarkeit eine große und wesentliche Kraft bezöge... Wo die Schrift selbst aus dem Zentrum der Kultur verschwindet, wird der Außenseiter unter den Schriftstellern, der Exzentriker, zur trolligen Figur..."


    Eine Passage aus dem 1981 erschienenen Prosaband Paare, Passanten. Aus der Reflexion über die sprachlos gewordenen, zur "trolligen Figur" heruntergekommenen Dichter ist nach 25 Jahren die Allegorie der drei trolligen Seher auf eisernen Kaffeehausstühlen geworden. Das Geistige und das Heilige ist immer noch unter uns, wenn auch "am Rande des Domplatzes", sprich auf ziemlich verlorenem Posten in dieser Gesellschaft, wo hinter der Einkaufszone gleich das Nichts anfängt. Ein Beispiel für die eiserne Kontinuität im Strauß‘schen Denken und Schreiben.

    So verhält es sich mit fast allen dieser 41 kurzen, teils kürzesten Texte. Zum Märchenorakel verrätselt, klagt aus ihnen die alte Sorge, die alte Zweifelfrage des Autors: Was kann Dichtung, was kann Literatur noch bewirken. Der Maßstab für alles Höhere, der höchste Mikado -Symbol und Synonym für den japanischen Kaiser- ist zerbrochen. Man kann noch mit den kleineren Stäbchen weiterspielen. Mit kleinen erbaulich belehrenden Fabeln nach Art der alten Kalendergeschichte versuchen, die schlichten Gemüter einer kleinen Zeit zu erreichen. Diese gar nicht milde, gar nicht versöhnliche, sondern eher bitter-elegische Ironie des Resignativen summt als Orgelton in diesen Parabeln.

    "Wie sähe, denke ich oft, mein protziger Nächster aus, wenn ihn der jähe Schmerz oder Kummer träfe,"

    schrieb Botho Strauß in seinem - im doppelten Sinne- anstößigen, wegen des verquasten Predigttons schwer assimilierbaren Traktat Anschwellender Bocksgesang. Ja, wie sehen sie aus? Ziemlich erschrocken und verwirrt, wie der "schneidige Intellektuelle", der, von Frau und Sohn verlassen in einem Crashkurs der Einsamkeit plötzlich einsieht:

    "Ich habe nach den Begriffen gelebt. Es ist aber besser, viele Sagen, Mythen, Geschichten zu besitzen... Das heißt: von ihnen besetzt und besessen zu sein. Damit kann jeder seine Familie beliebig vergrößern... und ein wenig Trost finden bei seiner jahrhundertealten Verwandtschaft, bei seiner Familie."

    Wie sieht der Bäcker Alwin aus, der seine Frau im Stich ließ und nach 25 Jahren reich und reumütig heimkehrt, aber von ihr gebeten wird, - Zitat- "sie wieder mit ihm allein zu lassen." Einen Richter auf Reisen verzaubert der Autor in der Wartezeit zwischen zwei Flügen in den beglückten Liebhaber einer schönen Melusine. Er greift wie Oberon im Sommernachtstraum tief in den Zauberkasten seiner artistischen Mittel, er entzweit die Liebenden, stiftet wundersame Verwechslungskomödien des Eros, verhängt Strafen, Peinlichkeiten, nützliche Enttäuschungen und sogar Bluttaten, um den Möglichkeitssinn des Lesers zu trainieren und die hässlich Erstarrten wieder schön und lebendig zu machen. Und doch versammeln sich seine Geschöpfe zu guter Letzt am Bett des Dichters, um sich bitter zu beklagen, er habe nicht alles gegeben und sie nicht gut genug erfunden.

    "…die Verkürzten und Zukurzgekommenen, die flüchtig Skizzierten, die nur Gestreiften und die Inkompletten. Sie forderten Ergänzung: mehr Fleisch, mehr Farbe, mehr Schicksal! Schattenrisse, Schnappschüsse, Passanten, verlorene Profile, bloß Erwähnte und Aufgezählte, die es nach Eigenleben verlangte...
    Den alten Nichtsnutz schüttelte ein heftiger Figurenvertreibungskoller. Er scheuchte das aufsässige Gesindel... Allez hopp, ab durch die Mitte, fort, fort. Botschafter, Richter, Sportpräsident. Der Untergebene, der Ungeschickte, fort mit euch, bleibt mir vom Hals!
    ...Alle halten mir meinen Geiz vor, die Ungestalten, ausnahmslos alle, undankbare Brut. Dabei habe ich euch großzügig erzogen, spendabel bewirtet, bis meine Güter verbraucht waren..."


    Der alte Nichtsnutz tut gut daran, sich zu verteidigen. In seinen Stücken hat Botho Strauß seine Figuren mit Liebe und Sorgfalt modelliert und nobilitiert. Wer hätte diese heillosen Egomanen besser erfunden, die von dem Scheibchen Trockenbrot ihrer Liebesfähigkeit nicht satt werden. Je verzweifelter sie in ihrer Einsamkeit und erlittenen Unbedeutendheit für sich werben, sich einander zu erklären versuchen, umso sicherer manövrieren sie sich ins Aus und umso komischer sind sie.

    "Kerstin: Was suchst du bei den Frauen, Onkel Bert? /Onkel Bert: Ich weiß nicht. Vielleicht Verständnis. Ein bißchen Verständnis dafür, daß ich sie nicht mehr so liebe wie früher."
    Gut möglich, dass Strauß diese pointierte, fast ins Billy Wilder-Fach ragende Verzweiflungskomik, die wir an ihm so schätzen, selber gering schätzt. Dass er seine Figuren dafür verachtet, dass sie ihn zu dieser Komik zwingen. Die Komik kommt nicht von Herzen, sie ist eine Konzession an den verwünschten Zeitgeist, an das auf komische Effekte abonnierte Publikum, das man anders gar nicht mehr erreicht.

    "Verflucht in eine ewige Komödie, verbannt ins Grauen heftiger Belustigung. So überleben wir und wiederholen uns und werden's wohl für alle Zeiten,"

    ruft der Mann im Zwischenakt von Kalldewey, Farce. Der Prophet Salomon im Alten Testament kann es noch metaphernwuchtiger ausdrücken: das Gelächter der Narren ist wie das Krachen der Dornen unter den Töpfen, heißt es da.

    Scherz, Satire, Ironie stiften für Botho Strauß keine tiefere Bedeutung, sie sind ihm erklärtermaßen ein Graus. Aber Texte sind zum Glück oft klüger ihr der Autor. Strauß ist ein ins Tragische verliebter Komödiendichter, was selber eine der 34 tragischen Konstellationen sein dürfte, die es nach Einschätzung des italienischen Komödiendichters Gozzi im Leben und auf der Bühne gibt. Denn dieser deutsche Hang, fast schon Zwang zum Tiefsinn führt meist, so auch in diesem Fall, zu unfreiwilliger Komik und Parodierbarkeit. Wenn Strauß diesen preziös raunenden altertümelnden Weiheton anschlägt, von "Einstweh", von "Heil-Zeiten", vom "Frieden in der freien Flur" oder vom "Widerenden" fabuliert, das sich gegen uns richte, so wird einem mulmig zumute. Da sind, um mit Ossip Mandelstam zu reden, die Laken bestimmt nicht angerührt. Da hat die "Poesie nicht genächtigt."
    Auf diesen Kalendergeschichten liegt aber - mit wenigen Ausnahmen- auch noch aus anderen Gründen kein Segen. Die Allegorie, diese älteste Konzept-Kunst verleitet zum Schematischen. Da möchte man sich der Klage seiner Figuren und Goethes Verdikt gegen die Allegorie anschließen. Die Figuren, blasse Schemen, sind sozusagen Missbrauchsopfer einer plakativen Idee und nicht wirklich sprechend. Dafür äußert sich übermächtig der Trübsinnige Spleen des Autors. Auch wenn man seine Erregungen und Idiosynkrasien in vielem nachvollziehen kann und teilt, hat diese notorisch üble Nachrede, dieser seit 30 Jahren immer gleiche litaneihafte Abgesang auf die Kultur, laut Nietzsche der "Krebsschaden alter Idealisten und Lügenbolde" längst selber etwas abgestanden Sekundäres, Zitathaftes und da, wo es obskurantistisch wird, auch Abstoßendes. Offenbar hat Strauß wenig Sinn und Talent, sich von den produktiven Seiten dieser Kultur, die es gibt, sogar im Fernsehen, überraschen zu lassen.
    Dies ist der Bücherherbst der Patriarchen. Ein Erinnerungsblättersegen älterer Herrschaften aus dem Öffentlichen Leben geht auf uns nieder, Memoiren nach dem alten Epochenschema Aufstieg, Blütezeit und allmählich gliederreißender Verfall. Da passt ironischerweise der neue Prosaband von Botho Strauß in ganz unüblicher Synchronie mit dem Zeitgeist, ganz gut ins Bild, da er gewissermaßen auch ein das eigene Werk verklärendes Erinnerungs- und Bilanzbuch geworden ist. Da wird nichts wirklich frisch und neu verhandelt, das Bändchen ist die Synopse, eine artistische Gesamtschau seiner Themen, Motive und Figuren in allegorischem Mummenschanz. Camouflierte alte Klagen. Aber wenn einem gerade nichts Besseres einfällt, kann auch das Sich-Beklagen dem Leben einen Reiz geben.

    Botho Strauß: "Mikado", Hanser Verlag