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Schmutzige Havanna Trilogie

Plateforme = Kuba: Das, was Michel Houellebecq in Thailand sucht, praktiziert Pedro Juan schon lange: Sex. Nach über 400 Seiten weiß ich als Frau genau, wie ein errigierter Penis optimal funktioniert, welche Stellungen am besten sind und daß Romantik überflüssig ist:

Claudia Cosmo | 18.06.2002
    Sex ist ein Austausch von Flüssigkeiten, Säften, Atem und strengen Gerüchen...sonst ist es kein richtiger Sex...

    Pedro Juan Gutiérrez` Buch `Schmutzige Havanna Trilogie` ist eine literarische Permanent- Erektion, ein ununterbrochenes Jagen nach Lustgewinn. Gutiérrez` Protagonist Pedro Juan trägt den gleichen Vornamen wie der Autor und lebt auf einer Art Ausguck.

    Er bewohnt ein Mini- Appartement auf dem Dach eines mehrstöckigen Hauses im Zentrum Havannas, direkt am Malecón, der Küstenpromenade der Metropole. Pedro Juan ist ein sexliebender Macho, der keine Gelegenheit ausläßt, den coolen Playboy zu mimen:

    Wir Menschen sind vielschichtig. Und jeder versteckt sich hinter einer Maske. Der jeweiligen Lebenssituation entsprechend, setzt man eine Maske auf, um Furcht, Panik und Ängste verbergen zu können.

    In Gutiérrez Buch ist Sex ein willkommener Zeitvertreib, eine Art Sport, der wild, schmutzig und spontan ist. Sex bedeutet Eskapismus, vergessen, daß es 1994 ist und Kuba in einer großen Krise steckt. Gutiérrez interessieren die Ursachen der politischen und ökonomischen Verhältnisse nicht primär, sondern vielmehr die sich daraus ergebenen Konsequenzen für Leute wie Pedro Juan. Wie gehen sie mit kritischen Lebensbedingungen um wie halten sie Armut, Dreck und Gewalt aus ? Pedro Juan führt den Leser durch Havanna, läßt ihn teilhaben an Sexorgien, Besäufnissen und spirituellen Sitzungen. Namen von Liebhaberinnen, Freundinnen und Freunden schwirren im Eiltempo am Auge des Lesers vorbei und tauchen willkürlich wieder auf. Gutiérrez Roman ist zerstückelt, eine Art kubansiche cut up- Methode à la Burroughs. Der Autor reiht eine Erzählung an die andere und verbindet philosophisch angehauchte innere Monologe mit krassen Sexszenen oder mit derben Dialogen. Die ungefähr 60 Erzählsequenzen werden in drei Großkapitel unterteilt. Die `Schmutzige Havanna Trilogie` stellt eine Aneinanderreihung von short stories dar, deren Protagonist Pedro Juan ist. Gutiérrez:

    Ich glaube, daß man das das Leben in Kapiteln lebt, in Phasen. Und daß man Schritt für Schritt jeden Abschnitt auskosten soll, wie ein großes Abenteuer. Ich habe drei Jahre an meinem Buch geschrieben, das sehr autobiographisch ist; ohne zu wissen, ob es je herauskommt, da es auch sehr provokativ ist.

    Und damit spielt der kahlköpfige Autor: mit dem Schamgefühl des Lesers und der sich ständig aufdrängenden Frage, ob Gutiérrez das alles auch selbst erlebt haben könnte. Denn zufälligerweise ist die Hauptfigur auch ein ehemaliger Journalist, lebt im gleichen Stadtviertel und wurde auch von seiner Frau verlassen.

    Im Gegensatz zu vielen seiner Freunde bleibt Pedro Juan auf Kuba und flieht nicht nach Florida. Er harrt im Moloch Havanna aus, zwingt sich dazu hart zu werden und das Leben als Glücksspiel zu verstehen. Er stilisiert sich als Macho, als Frauenheld. Sein Leben ist monoton: Sex haben, kleine Hehlerjobs übernehmen, Rum trinken und den Sonnenuntergang beobachten.

    Gutiérrez` Protagonist ist eine Art moderner Syssiphos. Jeder Tag beginnt für ihn damit, seine Rolle als Weiberheld einzunehmen und den Dreck um ihn herum etwas beiseite zu schieben:

    Ich glaube, daß die Armut ein Teufelskreis ist. Pedro ist ein Opfer seiner Lebensumstände. In Cuba verdammt dich die Armut dazu, auf kleinstem Raum immer wieder das gleiche zu machen. Du kannst nicht reisen, hast keinen Zugriff auf Informationen und Geld. All diese negativen Umstände wirken sich auf den Alltag eines jeden aus.

    Der Alltag spielt sich entweder auf der Straße ab, wo leichte Mädchen an Hauswänden angelehnt auf ihre Freier warten und verwahrloste Typen mit einer Flasche Rum auf dem Boden kauern. Oder: Man findet Pedro Juan in einem der unzähligen Miniappartements Havannas, wo es kein fließendes Wasser gibt, sich 50 Leute eine Toilette teilen und nachts jeder mit jedem schläft.

    Das eigene Überleben steht im Vordergrund. Pedro Juan sind alle Mittel recht. Tugenden wie Ehre, Moral oder Stolz hat er längst abgelegt. Eine seiner Geliebten geht für ihn anschaffen. Und wenn das Geld mal ganz knapp wird, werden Leichen geplündert. Eine Gesellschaft im Ausnahmezustand. Die Armut als Rechtfertigung für das eigene unmoralische Verhalten.

    Ich glaube, daß die moralische und ethische Haltung der Armen sehr flexibel sein muß. Denn es handelt sich dabei um eine Frage des Überlebens. Ich glaube, daß materielles Elend moralisches Elend mit sich bringt. Cubas ökonomische Krise beeinflußt logischerweise auch die Ethik und Moral der Leute.

    Pedro Juan Gutiérrez klagt seinen Protagonisten nicht an, sondern läßt ihn seinen Überlebenskampf schildern. Der Autor schaltet sich als Moralinstanz nicht ein, dafür ist er emotional zu sehr mit seinem Romanhelden verbunden.

    Ich bin mittlerweile 52 Jahre alt und habe immer in Cuba gelebt. Seit 16 Jahren wohne ich in Havannas Innenstadt. Alles was ich beschreibe, ist entweder autobiographisch oder wurde mir von Leuten erzählt. Die Cubaner reden gerne und erzählen dir ihr ganzes Leben in einer halben Stunde. So war es relativ einfach, das Buch so zu schreiben.

    Sich gemäß einer Moral zu verhalten und über sein eigenes Handeln nachzudenken ist in `Schmutzige Havanna Trilogie` reiner Luxus. Pedro läßt sich von seinen Instinkten leiten, Hunger und Lust bestimmen seinen Lebensrhythmus. So heißt es in dem Roman:

    Seit Jahren erwarte ich nichts mehr. Absolut nichts. Weder von den Frauen, noch von Freunden, noch von mir selbst oder irgendjemandem.

    Die geschilderten sexuellen Exzesse spiegeln den Zustand der kubanischen Gesellschaft wider. Der Respekt gegenüber dem Mitmenschen weicht eigenen egoistischen Zielen. Nicht nur die Umgebung und die Stadt Havanna ersticken vor Schmutz, sondern auch die Handlungsmaximen der Leute sind nicht die allerreinsten.

    Pedro Juan hat es als Weißer leicht, eine Mulattin oder eine Schwarze zum Zeitvertreib für seine Zwecke zu nutzen. Mittels der Schilderung des sexuellen Umgangs miteinander dokumentiert Gutiérrez die latente Ungleichheit unter den Kubanern. Sex als Ausdruck eines sozial- anthropologischen Rankings:

    Das kubanische Gesetz verurteilt Rassismus. Aber es existiert ein unterschwelliger Rassismus. Und deshalb erwähne ich dieses latente Phänomen auch in meinem Buch, jedoch nur in den Dialogen. Rassismus manifestiert sich meist innerhalb sexueller Beziehungen. Und das stört mich besonders.

    Pedro Juan ist eine kubanische Version des Don Juan. Angelehnt an die von Tirso de Molina geschaffene Figur, kostet Pedro Juan jede Gelegenheit aus, mit gebundenen oder verlassenen Frauen unverbindlichen Sex zu haben. Wie Don Juan handelt Pedro nach dem Prinzip der Sinnlichkeit:

    Auf Cuba gibt es eine Verzahnung von Machismo und Weiblichkeit. Nicht nur der Macho agiert und verführt die Frau. Sondern auch die Frau gibt den Ton an. Sie hat auch ihre Techniken der Verführung und übt eine Kontrolle über den Mann aus. Und dieses Thema zieht sich durch mein Buch wie ein roter Faden.

    In Schmutzige Havanna Trilogie scheinen die Figuren der tridentinischen Weltsicht zu folgen: Gott hat sich aus der Welt verabschiedet und das Individuum entscheidet selbst über sein Schicksal. Pedro Juan ist solch ein Renaissance- Mensch, der jedoch immer zur Religion zurückkehrt, wenn es keinen Ausweg mehr gibt. Dann nimmt er an religiösen Riten, den `Santerías teil, um seinem Leben einen Sinn einhauchen zu können:

    Auf Cuba nahm Religiosität immer einen hohen Stellenwert ein. Aber ich glaube, daß sie innerhalb der letzten 10 Jahre mit der Krise der 90er noch wichtiger geworden ist. Aber das ist überall so, wenn den Leuten das Wasser bis zum Halse steht. Auf Cuba heißt es: Die Leute erinnern sich erst an die heilige Barbara und beten zu ihr, wenn es aus Eimern schüttet.

    Auch sprachlich gelingt es Gutiérrez, eine authentische `streetcredibility` zu erzeugen. Poetische Sprache, ausgefeilte Dialoge oder metaphorisch konstruierte Sequenzen findet man in Gutiérrez Buch nicht. Der Autor bedient sich einer derben und eindeutigen Sprache.

    Meine Literatur ist weder gewollt intellektuell noch krampfhaft symbolisch. Ich erzähle einfach eine originelle Geschichte, die gleichzeitig einen Cubaner und einen Japaner interessieren kann. Ich bediene mich unbearbeitetem Materials, daß um mich herum ist. Wenn man durch Havanna geht, dann erkennt man, daß mein Buch das authentische Leben der Leute widerspiegelt. Ich möchte a priori keine Anthropologie, Soziologe oder Politik betreiben. Aber es scheint, daß meine Literatur dies indirekt vermittelt.

    Jedoch ist Pedro Juan Gutiérrez` Roman fernab von der `Buena Vista Social Club`- Ästhetik. Gutiérrez weiß als Kubaner wovon er schreibt und verzichtet zum Glück auf Wim Wenders filmische ´Alles wird gut`- Romantik.

    Schmutzige Havanna Trilogie ist eine literarische Dokumentation der kubansichen Realität und ähnelt in seiner Struktur und Aussage dem Schelmenroman. Gutiérrez` äußerst interessanten Roman auf den Aspekt der Softpornographie zu reduzieren, wäre zu einfach:

    Wir sind ein Volk, daß vollkommen durchmischt ist. Es gibt Schwarze und Europäer. Und gerade dieser Mix ist unser Vorteil und beeinflußt unser Zusammenleben. Wir sind sehr warmherzig, lebendig und voller Energie.