Mittwoch, 24. April 2024

Archiv

Schnittkes Oper in Gießen
Eine bösartig-unterhaltsame Inszenierung

Wegen Mangel an Mitleid wird ein Schriftsteller dazu verurteilt, einen Idioten ins Haus zu nehmen - mit mörderischen Folgen. Davon erzählt die Satire "Leben mit einem Idioten" des russischen Schriftstellers Viktor Jerofejew. Alfred Schnittke hat daraus eine skurrile, bislang selten aufgeführte Oper geschrieben: Nun ist sie am Stadttheater Gießen zu sehen.

Von Ursula Böhmer | 15.05.2017
    Szenenausschnitt aus der Oper "Leben mit einem Idioten"
    Szenenausschnitt aus der Oper "Leben mit einem Idioten" (Rolf K. Wegst)
    "Kommt ihr Töchter, helft mir klagen" – mit einem Zitat aus dem Eingangschor von Bachs "Matthäuspassion" läutet Alfred Schnittke seine Oper ein. Tatsächlich hat das kommunistische Jungvolk, das die Gießener Bühne in Röcken, kurzen Hosen und roten Halstüchern belagert, schon mal bessere Zeiten gesehen: Auf Rollatoren gestützt, schleppt es sich über die Bühne - alt geworden, ewig gestrig geblieben. Auch das "Leben mit einem Idioten" entpuppt sich nach und nach als schauerliche Leidensgeschichte zwischen Gestern und Heute: Wegen "Mangels an Mitleid" vom Volk dazu verdammt, muss sich ein Schriftsteller – in der Oper "Ich" genannt - einen Verrückten ins Haus holen. Jener Wowa wirbelt den Haushalt bald völlig durcheinander – und köpft schließlich "Ichs" Ehefrau. Das alles wird hier, in Erinnerungsfetzen durcheinandergewürfelt, erzählt.
    "Im Grunde geht es um den Faktor, dass man sich den - vielleicht auch eigenen Wahn - ins eigene Haus holt. Auf anderer Ebene geht es um ein politisches System – wie auch immer es geartet sein mag –, dass, wenn es Einzug erhält, die Individualität zersetzt. Frau und 'Ich' – also Frau und Mann - sind, wenn man so will, die Keimzelle des zivilen Daseins."
    Georg Rootering ist Regisseur der Gießener Opernproduktion "Leben mit einem Idioten" und hat das "zivile Dasein", das in der gleichnamigen Satire von Viktor Jerofejew immer mehr verroht und an sich selbst irre wird, hier in sowjetische Zeiten zurückverlegt:
    "Auf die sich ja unser Autor bezogen hat und aus deren Erfahrung er ja auch schöpft: Er war ja letztlich ein zum Schweigen Verurteilter – so wie auch Schnittke zur Zeit der Sowjetmacht - bis zu seiner Rehabilitierung, die dann, glaube ich, zu Gorbatschows Zeiten erfolgt ist. Und das Stück ist dann in den 90er-Jahren geschrieben worden – 1991, nach dem Fall des Eisernen Vorhangs."
    Das alte Krokodil
    Das Konterfei des sowjetischen "Spiritus Rector" Lenin hängt in Gießen also, zusammen mit weiteren Ikonenbildern, an der Wand eines Schlafzimmers. Bühnen- und Kostümbildner Lukas Noll lässt von oben in das Zimmer hineinschauen. Das Bett ist hochkant gestellt, die Sänger stehen darin also buchstäblich senkrecht – passend zu der alptraumhaften Szenerie um sie herum: Ein Krokodil lauert darin, zwischen klaustrophobisch hohen Wänden, auf Beute.
    "Wir wollten in gewisser Weise einen abstrakten Raum schaffen, der einen sehr wohl transportieren kann in das Innenleben eines Wohnzimmers, eines Schlafzimmers – und dennoch ist es eigentlich wie in einem Albtraum, wie in einer Verwandlung. Wir haben auch sehr oft an Kafkas 'Verwandlung' gedacht in den vorbereitenden Gesprächen und bei der Entwicklung der Konzeption."
    Wandelbar ist dann auch das geniale zweite Bühnenbild des Abends: Vom Schlafzimmer bleiben nur noch schwarze Wandsegmente über, die immer wieder zu neuen Räumen verschoben werden: Mal im Kreis, mal hintereinander aufgestellt, mal zur Mauer formiert. Was wie von unsichtbarer Hand gezogen aussieht, wird in Wirklichkeit von Statisten bewegt, die in den Wänden stecken. Ab und zu treten sie dann daraus hervor und mutieren zu den Insassen des Irrenhauses - zu Wowas Leidensgenossen.
    Auf der Suche nach der verlorenen Zeit
    "Wowa", das war zugleich der Spitzname Lenins. In Schnittkes Oper ächzt Wowa-Lenin nur noch vor sich hin, buchstäblich: Denn er spricht nur noch das Wort "Äch". Faszinierend, wie Tenor Bernd Könnes als Rotschopf Wowa auf diesem "Äch" eine ganze Klaviatur an Emotionslagen anzuschlagen versteht.
    Dem Irrenhaus entronnen, lässt er im Hause Ichs und seiner Frau dann erst mal die sprichwörtliche Sau raus – zerreißt etwa die Lieblingsbücher der Frau: bezeichnenderweise Bücher von Marcel Proust, der immer wieder auch als Opernfigur herbeizitiert wird. Auf der Suche nach seiner "verlorenen Zeit" verstrickt Wowa seine Gasteltern dann in zunehmende Zügellosigkeit.
    Erst treibt Wowa es mit der Ehefrau des "Ichs", die von ihm schwanger wird, seine "Ausgeburt" dann aber vieldeutig abtreibt. Schließlich zieht er auch den "Ich"-Erzähler in erotischen Bann.
    Sex mit Gymnastikball
    Witzig, wie deftig verspielt Regisseur Georg Rootering in Gießen mit den Kopulations-Szenen umgeht: Auf Gymnastikbällen, die zu einem riesigen Wurm aneinander gekettet wurden, "reiten" sich die jeweiligen Paare in Ekstase. Drastisch, wie die Frau am Ende – per DDR-Gartenschere –buchstäblich ihren Kopf verliert, den Männern nur noch als Fangball dient.
    Grandios, wie versiert sich die exzellente Sänger-Riege und das hervorragende Philharmonische Orchester Gießen unter Kapellmeister Martin Spahr dabei die anspruchsvolle Musik zu Eigen machen. In seiner typisch "polystilistischen" Manier reiht Alfred Schnittke hier scheinbar wahllos musikalische Erinnerungsfetzen aneinander: Bach trifft auf Mussorgsky, trifft auf Tango, auf die "Internationale" oder ein russisches Volkslied.
    "Und die fünf Solisten wechseln zwischen Zitat, Dialog und Monolog, den Schnittke meistens chromatisch montiert, wobei er fieser Weise in der Chromatik den ein oder anderen Ton eine Oktave nach unten oder nach oben setzt – so dass das gesprochene Wort eigentlich eine schöne Sprachmelodie hat, aber dadurch eine sehr hohe technische Anforderung, diese Melodielinie tatsächlich zu verwirklichen."
    So gelingt im Stadttheater Gießen in jeder Hörsicht ein großer Wurf – ein bösartig-unterhaltsamer Abend, der einmal mehr von der ausufernden Zerstörungsmacht diktatorischer Unterdrückungsmechanismen erzählt, im Kleinen wie im Großen.