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Schoah
Die Erste, die Einzige

Einer Austauschaktion der SS verdankt Blanka Alperowitz ihr Leben. Die jüdische Berlinerin wurde Anfang der 1940er Jahre nicht in ein Vernichtungslager deportiert, sondern schaffte es nach Palästina. Detailliert hat sie den jüdischen Alltag von der Diskriminierung bis zum Massenmord beschrieben.

Von Igal Avidan | 19.01.2018
    SS-Truppen deportieren am 16.05.1943 Bewohner des Warschauer Ghettos.
    SS-Truppen deportieren am 16.05.1943 Bewohner des Warschauer Ghettos (imago / United Archives)
    "Es ein Gotteswunder, dass es mir gelingen konnte, nach Palästina zu gelangen. Dass ich, die ich nicht einmal die Erlaubnis hatte, einen Bahnhof zu betreten, oder nur eine kleine "Teilstrecke" für 10 Pfennig mit der Straßenbahn zu fahren, eine Überseereise antreten konnte, erscheint mir und erschien auch jedem, der davon erfuhr, wie etwas Übernatürliches."
    Am 27. Oktober 1942 bestieg die 59-jährige Jüdin Blanka Alperowitz im Berliner Bahnhof Zoologischer Garten den Schnellzug nach Wien. Seit Oktober 1941 führten andere Züge zigtausende Juden nach Osten. Offiziell sprach man von Evakuierungen, aber Alperowitz, eine Mitarbeiterin der Jüdischen Gemeinde, erhielt von Freunden, die diese Zugfahrt antraten, keine Nachricht mehr. Sie befürchtete das Schlimmste.
    Die Einzige aus Deutschland
    Doch sie schaffte es nach Palästina. Was sie "Wunder" nennt, war eine Tauschaktion: Die SS ließ mitten in der Judenvernichtung etwa 70 Juden frei, fast alle stammten aus Polen. Als Gegenleistung sollten 301 deutsche Templer, die überwiegend NSDAP-Mitglieder waren und sich in britischer Gefangenschaft in Palästina befanden, "heim ins Reich" geholt werden. Alperowitz war eine dieser Juden und die Einzige aus Deutschland.
    Der Berliner Journalist Klaus Hillenbrand hat ihr Leben recherchiert. Sein Buch "Die letzten Tage des deutschen Judentums" enthält auch den Originaltext, der 1943 anonym vom Zentralverband der deutschsprachigen Juden in Palästina, dem Irgun Olej Merkas Europa, herausgegeben wurde. Er selbst stieß auf die Publikation im Rahmen seiner Recherche über den Austausch der evangelisch-pietistischen deutschen Templer in Palästina durch osteuropäische Juden.
    "Anhand dieser Dokumente kann man die einzelnen Namen nachprüfen derjenigen, die damals ausgetauscht worden sind. Und wenn man das tut und viel Arbeit investiert, dann kommt man dazu, dass eigentlich nur eine Frau als Autorin in Frage kommt von diesem Manuskript. Und das war Blanka Alperowitz, weil sie die einzige deutsche Jüdin war, die diesem Austausch angeschlossen worden ist."
    Misslungene Geheimhaltung der Massenmorde
    Von der Judenvernichtung sollte niemand erfahren. Die Austauschaktion hätte diese Geheimhaltung gefährden können. Daher stellte die SS die Bedingung,
    "dass unter den Ausgetauschten keine Personen sein sollten, die bei Ghetto-Räumungen dabei gewesen sind. Aber sie wurde tatsächlich beim Austausch nicht eingehalten. Also unter denjenigen, die damals ausgetauscht worden sind und dadurch nach Palästina sich haben retten können, war eine ganze Reihe von Menschen aus Polen, polnische Juden, die Ghettoräumung erlebt haben und diese überlebt hatten, in dem sie anschließend in Zwangsarbeiterlager gekommen sind. Deswegen hat dieser Austausch im Herbst 1942 eine große historische Bedeutung, weil dadurch der jüdischen Gemeinschaft in Palästina zum ersten Mal klar geworden ist nach deren Ankunft, was da genau in Polen passiert. Es war zum ersten Mal klar, dass massenhaft polnische Juden von den Deutschen, von der SS ermordet werden."
    Diese neuen Erkenntnisse veranlassten die Jewish Agency, damals die zionistische politische Führung in Palästina, zu verkünden, dass die Ermordung der Juden in Europa nach einem systematischen Plan der Vernichtung durch Gas folgt.
    Jüdische Religionsschulen wurden zur Schließung gezwungen
    Blanka Alperowitz war damit wohl die erste, die über die Judenvernichtung schrieb. Sie wurde 1883 in Fürstenwalde geboren. Von den 1920er Jahren an arbeitete sie als Religionslehrerin in Berlin-Pankow für die Jüdische Gemeinde. Die religiöse und zionistische Jüdin folgte dabei ihrem Vater Albert Katz, dem Buchautor, Redakteur und später Herausgeber der Allgemeinen Zeitung des Judentums. Katz gründete auch die erste jüdische Gemeinde in Pankow mit, damals eine selbständige Landgemeinde nördlich von Berlin. Alperowitz erlebte die Blütezeit des jüdischen Bildungssystems in Berlin, wo vor Hitlers Machtergreifung 1933 etwa 170.000 Juden lebten. Klaus Hillenbrand:
    "In den jüdischen Religionsschulen wurden Kinder unterrichtet und das war gleichzeitig eine freiwillige Einrichtung. Es gab damals, schon aus der Weimarer Republik hervorgehoben, ein Religionsunterricht zwingend, auch für Juden, ebenso wie für Katholiken oder Evangelische, in der ganz normalen Volksschule. Die jüdische Gemeinde bot aber zusätzlich an, den Kindern auch noch einen freiwilligen Religionsunterricht, gesponsert von der Berliner jüdischen Gemeinde."
    Aufgrund der Deportationen und der Kindertransporte nach England mussten viele jüdische Religionsschulen schließen. Blanka Alperowitz wechselte ins Katasteramt der Jüdischen Kulturvereinigung.
    Zugang zu geheimen Listen
    "Und dieses Katasteramt ist von den Nazis gezwungen worden, ihnen bei den Deportationen aus Berlin in den Osten Europas zu helfen. Dort wurden also Listen angefertigt derjenigen, die deportiert werden sollten. Und dadurch konnte Blanka Alperowitz natürlich Informationen gewinnen, die nicht unbedingt jeder damals noch in Berlin lebender Jude haben konnte."
    Sachlich und ehrlich beschreibt Blanka Alperowitz ihre Arbeit in der Gemeinde, die seit Kriegsbeginn im September 1939 unter der Kontrolle der Gestapo stand.
    "Habe ich dort selbst einmal bei einer Sonderarbeit, die die Jüdische Kultusvereinigung auf Befehl der Gestapo auszuführen hatte, die weißen Transportnummern der Abgewanderten aus den Koffern herauswaschen und den Inhalt der zurückgebliebenen Koffer sortieren müssen. Der Schauplatz dieser Arbeit war einmal eine der großen Synagogen. So hatte ich eines Tages stundenlang Porzellanteller mit der Aufschrift 'Jüdisches Altersheim' abzuwaschen und auf ihre Integrität zu prüfen. Die gut erhaltenen wurden zum Sitz der Gestapo gebracht."
    Über die 'Brandmarkung' der Juden
    "Die letzten Tage des deutschen Judentums" enthält keine sensationellen, unbekannten Details über die Judenverfolgung. Der Bericht bewegt dennoch dadurch, dass er den Alltag der Juden in Nazi-Berlin der Jahre 1939 bis 1942 detailgenau beschreibt und das nur wenige Monate danach.
    So beschreibt Blanka Alperowitz die Einführung des Judensterns am 19. September 1941, ausgerechnet zum jüdischen Neujahr - "ein Rosch Haschana-Geschenk", wie sie sarkastisch bemerkt.
    "Als ich am ersten Tag nach dieser Verfügung mit meinem Stern an der linken Mantelseite bewaffnet die Straße betrat, da war mir etwas 'mulmig' zu Mute. Den Eindruck, den wir Sternträger auf die nichtjüdische Bevölkerung ausübten, war ganz verschieden. Manche kleine Kinder, die noch gar nicht lesen konnten, riefen schon in der Nachbarschaft einem nach: 'Jude, Jude!' Ich nehme an, dass treue Parteimütter ihnen das schon vorher beigebracht hatten. Der Kutscher eines Brauereiwagens, der an mir vorbeifuhr, machte eine bekannte Handbewegung, in der er den Zeigefinger an die Stirn legte. Backfische, die gerade aus der Schule kamen, riefen: 'Es leuchten die Sterne!' (Der Name eines damals laufenden Films.) Und sehr oft hörte ich von vorübergehenden, meistens etwas intelligenter aussehenden Ariern, in freundlichem Tone die Worte: 'Orden pour le Semite!' Die mehr fein empfindlichen Arier schauten, wenn man in ihre Nähe kam, ostentativ fort, weil es ihnen peinlich war."
    In der NS-Zeit wurde der gelbe "Judenstern" auch spöttisch als "Pour le Sémite" ("Für den Juden") bezeichnet, eine Anspielung auf die höchste Tapferkeitsauszeichnung in Preußen des Pour le Mérite, französisch "Für das Verdienst".
    Blanka Alperowitz zeigt die Entwicklung von der Brandmarkung der Juden - auch durch weiße Davidsterne neben der Türklingel – bis zu den Transporten in die Todeslager. Deutsche Juden in Palästina konnten dank ihrer Aufzeichnungen erfahren, was Juden in Deutschland geschah. Sie selbst verstarb 1958 im Alter von 75 Jahren in Haifa.
    Blanka Alperowitz, Klaus Hillenbrand (Hg.): Die letzten Tage des deutschen Judentums (Berlin Ende 1942). Hentrich&Hentrich-Verlag 2017. 144 Seiten, 17,90 Euro.