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Schöffen entscheiden nach Bauchgefühl

Zwei Gerichte, gleiche Aktenlage, verschiedene Ergebnisse. Richter und Schöffen treffen ihre Entscheidungen aufgrund von rationalen Gründen, aber auch die Intuition spielt bei der Entscheidungsfindung eine Rolle. Das Max-Planck-Institut untersuchte das Urteilsverhalten an 245 Studenten in einem Experiment.

Von Anja Arp | 02.09.2010
    "Schimanski: Ich schwöre so wahr mir Gott helfe. Tanner: Also darum geht es ja wirklich schon lange nicht mehr. Es ist doch heutzutage kein Problem einen Zeugen auf zu treiben, der für Geld schwört, was immer Du willst. Aber die Richter werden Dir glauben. Schimanski: Aber wieso eigentlich?"

    Die Frage haben sich offenbar nicht nur Schimanski und sein Assistent Tanner im legendären Tatort gestellt. Warum glauben Richter und Schöffen tendenziell Kommissaren mehr als anderen Zeugen? Intuition könnte die Antwort lauten:

    "Intuition ist also auch nichts, was aus dem hohlen Bauch kommt, sondern beruht auf Berufserfahrung und Lebenserfahrung und sozialer Kompetenz und natürlich werden diese Kompetenzen auch durch angemessene Fortbildungen unterstützt. Dabei versuchen wir natürlich nicht aus den Schöffen Juristen zu machen, sondern wir wollen sie mit einer Handlungskompetenz versehen, damit sie wissen wie eine Hauptverhandlung abläuft, welche Rolle sie haben und welche Verantwortung sie haben."

    erklärt Ulla Sens, Schöffin und Vorsitzende des NRW-Landesverbandes der Deutschen Vereinigung der Schöffinnen und Schöffen. Die Untersuchung mit 245 Studenten zum Thema ´Intuition vor Gericht´ hat Prof. Christoph Engel, Direktor am Max-Planck-Institut zur Erforschung von Gemeinschaftsgütern in Bonn gemeinsam mit dem Psychologen Andreas Glöckner gemacht. Prof. Engel ist von Haus aus Jurist:

    "Solche Studien sollen immer möglichst sauber sein. Es ist in diesem Kontext deshalb nicht so ganz einfach, weil das, was man verstehen möchte, konstitutionell dadurch gekennzeichnet ist, dass es nicht ganz sauber zu kriegen ist. Also sozusagen die Ausgangshypothese, von der wir ausgehen, dass das Handwerk des Juristen darin besteht - wie ein verstorbener Kollege von mir es so schön gesagt hat: Auf einem Schwamm zu stehen und nicht runterzufallen. Also, die Fragen, die die Juristen zu beantworten haben, sind eigentlich nie exakt definiert. Sondern man weiß immer nur ungefähr, worum es geht. Man kennt die Fakten nur teilweise, man versteht die Implikationen, die normativ daran hängen, auch nur partiell. Und muss trotzdem imstande sein, hinterher zu sagen, es soll so und nicht anders entschieden werden."

    Für die Studie wurden die Studenten online mit einem konstruierten Prozess konfrontiert:

    "Wir haben den einen, wenn sie so wollen, artifiziellen Fall gegeben. Also, wir haben sie in die Situation versetzt, als wären sie Schöffen. Und haben ihnen gesagt, hier ist euer Sachverhalt, wie wir Juristen dazu sagen würden. Also eine Sammlung von Fakten. Hier ist eure Instruktion. Ihr sollt unter bestimmten Bedingungen schuldig sprechen oder nicht schuldig sprechen. Und dann haben wir ihnen gesagt, jetzt entscheidet bitte."

    Die Forscher wollten vor allem wissen: Was passiert bei Richtern und Schöffen mental, wenn sie zu einem Urteil kommen. Dafür haben sie die Versuchspersonen gebeten, in die Rolle eines Richters oder Schöffens zu schlüpfen. An Hand eines Fall-Beispiels sollten sie befinden, ob der Angeklagte schuldig ist oder nicht.

    "Wenn ich als Schöffe oder auch als professioneller Richter vor dieser schwierigen Mischung an Tatsachen und normativen Erwartungen stehe und jetzt ein Urteil finden soll. Wie macht der das? Er stellt aus der Fülle der Tatsachen eine kohärente Geschichte zusammen. Also er arbeitet mit den ganzen Bruchstücken, die da im Prozess vor ihn getragen werden und versucht, die so zusammenzubauen, dass er sagt: Passt das zueinander? Gibt das eine Geschichte, die aufgeht? Sind da Reste übrig, die sehr eigenartig wirken? Und wenn es ihm gelingt, was zusammen zu kriegen, was wie ein kohärentes Ganzes aussieht. Dann sagt er: Okay, gut, da fühle ich mich jetzt sicher genug, diese Entscheidung fälle ich."

    Häufig ist die Faktenlage vor Gericht sowohl bei Zivilprozessen als auch bei Strafprozessen sehr komplex und oft auch lückenhaft. Deshalb spielt bei dem Entscheidungsprozess der Richter und Schöffen die Intuition offenbar eine wichtige Rolle. Und anders als im amerikanischen Krimi ist das Urteil eine gemeinsame Entscheidung. Und natürlich gilt letztlich immer der Grundsatz: Im Zweifel für den Angeklagten:

    "Der Schöffe ist Teil der richterlichen Bank. Er ist in den Entscheidungsprozess der professionellen Richter vollkommen eingebunden. Also, da gibt es auch nicht die Schöffenentscheidung ja, nein, die zum Schluss des Prozesses alles entscheidet. Sondern das Gremium, die Kammer entscheidet gemeinsam. Aber wenn der Schöffe sich nicht hat überzeugen lassen, dass die vorgeworfene Tat stattgefunden hat, dann sollte er freisprechen. Wenn wir im Strafprozess sagen, wir haben dieses sehr hohe Beweismaß, dann nimmt die Rechtsordnung sehenden Auges in Kauf, dass sehr viele Schuldige nicht verurteilt werden."

    Die 245 Studenten haben sich bei der Studie zumeist eindeutig entschieden. Prof. Engel:
    "Bei uns haben deutlich über die Hälfte verurteilt. Was nicht verwunderlich ist deshalb, weil der Fall auch so war, dass neutrale Beobachter eher denken würden, das reicht wohl."

    Dass Intuition vor Gericht eine wichtige Rolle spielt ist im Prinzip wohl für niemanden eine Überraschung. Wenn Berufserfahrung und Lebenserfahrung die Entscheidung der Schöffen und Richter beeinflussen, kann das im Prinzip nur gut sein. Allerdings:

    "Ein Punkt, wo das ganz unerfreulich ist, ist wieder der Strafprozess. Denn im deutschen Strafprozess wie in praktisch allen anderen Ländern plädiert der Staatsanwalt zuerst. Der sagt dann: Und erstens glaube ich, der ist schuldig und zweitens fordere ich ein paar Jahre Gefängnis. Jetzt sind die drei Jahre im Raum. Und die Frage, was als erstes kommt, kann sehr starken Einfluss darauf haben, was als Ergebnis dabei rauskommt."

    Während Richter professionell Recht sprechen, sind Schöffen am Gericht Laien. Zum Schöffen wird man entweder bestellt oder man bewirbt sich selbst. Das Amt hat man für fünf Jahre. Ulla Sens ist Schöffin beim Amtsgericht Düsseldorf:

    "Als Schöffin mache ich mir natürlich nicht, wenn ich bei Gericht sitze, meine Entscheidungsprozesse bewusst. Aber wenn ich das jetzt so lese, würde ich schon sagen, dass die Urteilsfindung einerseits natürlich auf rationalen Erwägungen beruht, andererseits natürlich auch auf Intuition. Beispielsweise ist es ja so, dass der Schöffe der einzige ist, der überhaupt nicht Bescheid weiß, wenn er in die Hauptverhandlung kommt. Er erfährt erst in der Hauptverhandlung vor Beginn der Sitzung, worum es überhaupt geht. Das heißt, er muss Sachverhalte sehr schnell wahrnehmen und Intuition ist ja sehr wichtig. Gerade wenn man Sachverhalte und Informationen wahrnehmen muss, weil erfahrungsgemäß kann bei intuitiven Prozessen, kann man viel mehr wahrnehmen als bei reinen rationalen Erwägungen."

    Und welche Rolle spielt das Bauchgefühl vor Gericht?

    "Natürlich man hat auch oft schon so ein Bauchgefühl, wenn man den Angeklagten sieht, aber man versucht natürlich auch dieses Bauchgefühl zu untermauern während der Hauptverhandlung. Wenn die Beweismittel gewürdigt werden, wenn man sieht wie die Zeugenaussagen sind und man versucht schon aus den Beweismitteln nachher mit dem Verstand in der Beratung zu einer Entscheidung zu kommen. Und natürlich spielt da das Bauchgefühl auch eine Rolle. Aber das Bauchgefühl alleine reicht natürlich nicht."

    Damit die Schöffen vor Gericht auf Augenhöhe mit den Richtern sind, gibt es für sie gezielte Fortbildungen. Das Willy Eichler Bildungswerk in Köln bietet solche Veranstaltungen an. Ute Schmitz-Bütow ist dort pädagogische Mitarbeiterin:

    "Begonnen haben die Veranstaltungen dann mit grundlegenden Sachen, wie werde ich Schöffe, was erwartet mich in diesem Amt. Und es geht dann eben weiter mit kleinen Bausteinen damit Schöffinnen und Schöffen wirklich in Augenhöhe auch mit den Berufsrichtern in der Verhandlung teilnehmen können und was uns eben auch sehr wichtig ist, dass sie ein Selbstbewusstsein für ihre Rolle entwickeln."

    Ganz wichtig ist dabei auch der Meinungs- und Erfahrungsaustausch. Und einen selbstbewussten Schöffen kann so schnell auch kein Richter beeinflussen:

    "Mir ist es auch passiert, dass der Berufsrichter sofort gesagt hat, das ist das und das und so ist das. Aber gerade wenn der Berufsrichter versucht mich zu beeinflussen, dann sage ich, also jetzt passe ich besonders gut auf! – Natürlich hilft mir dann mein Bauch."