Dienstag, 23. April 2024

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Schöninger Speere
Streit um Forschungskooperation

Der Fund der "Schöninger Speere" 1994 in der Nähe von Helmstedt war eine archäologische Sensation. Sie belegten, dass die Jagd ein selbstverständlicher Bestandteil des Alltags der Vorfahren der heutigen Menschen war. Doch nun gibt es Streit um die weitere Erforschung der Speere - bei dem die niedersächsische Landesregierung keine gute Figur macht.

Von Alexander Budde | 18.08.2016
    Ein Mann sitzt unter einem Sonnenschirm auf einem Plastikstuhl auf dem Ausgrabungsgelände bei Helmstedt
    Ausgrabungsgelände im Tagebau Schöningen bei Helmstedt, Niedersachsen. (Deutschlandradio/Alexander Budde)
    Schöningen vergangene Woche: Wo einst Urpferde grasten und Raubkatzen auf leisen Sohlen schlichen, haben sich lärmende Bagger tief in den Boden hineingewühlt. Nur einen Speerwurf entfernt vom Abgrund des Tagebaus schaut Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) zu, wie die Forscher das Erdreich mit Spaten und Pinsel abtragen. Die Besichtigung der Grabungsstelle ist die letzte Station auf Weils Sommerreise - und der Ministerpräsident zeigt sich wissbegierig:
    - Wolfgang Mertens: "Das ist Dr. Thieme hier…"
    - Stephan Weil: "Ach, das ist der Berühmte… ?"
    - Mertens: "Das ist der Berühmte, ja!""
    Wolfgang Mertens ist Vorarbeiter. Der Veteran erinnert sich noch gut an die Grabung vom 11. Oktober 1994. Damals stieß die Forschergruppe um den Archäologen Hartmut Thieme auf die erste von acht vollständig erhaltenen Jagdwaffen:
    Mertens:
    "Das habe ich dann hier so ein bisschen gemauschelt, weil es könnte ja ein Ast gewesen sein oder so etwas, aber das sah so schön aus…"
    Weil:
    "So poliert?"
    Mertens:
    "Ja, das ist so freigelegt. Und das ist hier diese wunderbare, ich glaube, das ist eine Lanze geworden!"
    Stephan Weil
    Der Ministerpräsident von Niedersachsen, Stephan Weil (SPD), informiert sich über die archäologischen Ausgrabungen an der Grabungsstelle "Speerhorizont". (Deutschlandradio/Alexander Budde)
    Die Schöninger Speere waren über Jahrtausende im feuchten Boden unter Luftabschluss nahezu unversehrt geblieben. Nach den ersten sensationellen Funden blieb das kleine Grabungsgelände rund um den Fundort vom weiteren Abbau verschont, es ragt nun wie eine Felsnase in den Tagebau hinein.
    Mehr als 40.000 Menschen besuchen jährlich das Paläon
    Entlang eines ehemaligen Seeufers buddeln sich die Forscher durch insgesamt fünf Fundschichten, die einen Zeitraum von rund 10.000 Jahren abdecken. Seither gibt es immer wieder spektakuläre Neufunde: Im Oktober 2012 förderte das Team um den renommierten Tübinger Wissenschaftler Nicholas Conard sieben Zähne zu Tage, eine Rippe, ein Schulterblatt und einen Oberarmknochen. Ans Licht kamen Überreste der Säbelzahnkatze Homotherium latidens.
    Der Ministerpräsident schaut Jordi Serangeli über die Schulter, denn der Grabungsleiter aus Tübingen zeigt jetzt Zähne - buchstäblich. Die kostbaren Artefakte liegen auf Samt gebettet in einer Holzkiste.
    "Das sind die Zähne - aber so muss man sich ja die Säbelzahnkatze vorstellen."
    Weil: "Wie groß war die denn?"
    Serangeli:
    "Die war etwa ein Meter zehn Schulterhöhe. Die ist auch etwa 300.000 Jahre alt. Das heißt, der Mensch ist da und der hat hier gelebt und der hat hier gejagt - und die Säbelzahnkatze ist tot!"
    Mehr als 40.000 Menschen besuchen jährlich das Paläon. In dem futuristisch anmutenden Ausstellungszentrum mit gläsernen Labors kann man den Forschern beim Pinseln und Präparieren zuschauen. Im theatralischen Halbdunkel der Vitrinen: Die 300.000 Jahre alten Stäbe aus Kiefern- und Fichtenholz: acht Wurfspeere, eine kräftige Lanze und ein beiderseits gespitztes Wurfholz, das so ähnlich wie ein Boomerang funktioniert haben dürfte.
    Die Evolution ist eine Geschichte von Erfolg und Niederlage. Wer wüsste das besser als Thomas Terberger. Der Prähistoriker ist wissenschaftlicher Projektleiter vom Niedersächsischen Landesamt für Denkmalpflege, das die Grabungen und Forschungen in Schöningen bislang so erfolgreich mit zahlreichen Partnern aus dem In- und Ausland durchführte.
    "Schöningen ist nicht nur in Fachkreisen auf der ganzen Welt bekannt, sondern, ich denke, es ist ein Meilenstein der Menschheitsgeschichte! Hier erhalten wir ganz hervorragende Einblicke in die Fähigkeiten des Menschen: seine Strategien, sein Überleben zu sichern."
    Fachleute "in einer ungebührlichen Art und Weise degradiert"
    Umso erstaunlicher ist der Vorgang, der die Szene der Altertumsforscher nun in helle Aufregung versetzt hat. Völlig überraschend für die meisten Betroffenen in der Region verkündete Niedersachsens grüne Wissenschaftsministerin Gabriele Heinen-Kljajic Ende Juli zur besten Urlaubszeit, dass die Forschungen und Ausgrabungen am Paläon in die Regie der Senckenberg-Gesellschaft für Naturforschung übergehen soll. Ein entsprechender Kooperationsvertrag des Landes mit der renommierten Gesellschaft aus Frankfurt sowie der Eberhard Karls Universität Tübingen sieht vor, dass die Forschungsgelder des Landes künftig direkt an die neuen Herren auf der Grabungsstätte gehen - immerhin bis zu 370.000 Euro sind das pro Jahr.
    "Wir waren stinkend sauer!" sagt Wolf-Michael Schmidt. Der Vorsitzende des Fördervereins stammt selbst aus Schöningen. Er ist ein Kaufmann mit Kontakten. Schmidt erinnert den Sozialdemokraten Weil daran, wie er Schmidt, bereits im Krisenjahr 2008 dem damaligen Landesfürsten Christian Wulff erklärte, warum es an der Zeit sei, im ehemaligen Zonenrandgebiet ein Museum rund um die Wurfwaffen zu errichten.
    "Wir hatten ein Motiv, warum wir das hier betrieben haben, warum wir es angestoßen haben. Wir wollten diese von der Rezession betroffene Gegend aufmischen. Wir wollten dieses hier als kulturtouristisches Highlight entwickeln - und das ist es geworden!"
    Die Fachleute des Landes würden durch die neue Vereinbarung "in einer ungebührlichen Art und Weise degradiert", heißt es in einem Protestbrief des Verbandes der Landesarchäologen in der Bundesrepublik Deutschland. Ohne Not gebe das Land mit der Kernkompetenz auch den Einfluss auf die wissenschaftliche Aufbereitung der weltberühmten Fundstätte ab.
    Weil rügt die eigene Ministerin
    Stephan Weil wird bei seinem Besuch in Schöningen nicht mit Speeren beworfen. Doch der Ministerpräsident ist sichtlich bemüht, die auch von Lokalzeitungen geschürte Sorge vor einem drohenden "Rückzug" des Landes zu zerstreuen. Selbstverständlich blieben die Funde Eigentum des Landes, wo sie auch künftig präsentiert würden - niemand habe ein Interesse daran, dass Artefakte in Archiven verstauben:
    "Es ist kein falscher Ton getroffen worden, es hat überhaupt keinen gegeben! Und dafür kann man sich nur entschuldigen. Die zuständige Wissenschaftsministerin Gabriele Heinen-Kljajic hat ja mit Recht von suboptimaler Bearbeitung gesprochen," rügt Weil die eigene Ministerin, die in der Causa keine glückliche Figur machte - fügt aber mit Inbrunst hinzu:
    "In der Sache selbst haben wir den Eindruck, das sind Vorteile, die sich aus der Zusammenarbeit mit der Senckenberg-Gesellschaft ergeben werden. Das ist gewissermaßen der FC Bayern München unter den archäologischen Institutionen - und wir hoffen, dass es damit gelingen wird, noch stärker als in der Vergangenheit Schöningen ganz nach oben zu bringen auf der Forschungsagenda!"
    "Man muss sich vernetzen"
    Es gibt da in der Tat diese andere Lesart der Vereinbarung. Forscher aus aller Welt gratulierten den Landesarchäologen schon zur neuen Partnerschaft, betont der Vorsitzende der Archäologischen Kommission für Niedersachsen, Rolf Bärenfänger.
    "Diese Kooperationsregelung mit der Universität Tübingen, die ist jetzt im Grunde ja auch nur fortgeschrieben worden. Und man hat Senckenberg mit ins Boot geholt, auch im Hinblick darauf vielleicht mal kleiner Partner der großen Leibniz-Familie zu werden. Die Vielfältigkeit der Disziplinen, die beteiligt sind, die speziellen Untersuchungen, die nötig werden: Ich glaube, da muss man sich vernetzen, das ist Pflicht!"
    Unterdessen darf weiter spekuliert werden. Über die künftigen Beihilfen des Landes für das von allem weit abgelegene Paläon. Über die vermeintlichen Eigenmächtigkeiten einer Ministerialbürokratie. Und welche Rolle spielten eigentlich die Eitelkeiten der beteiligten Forschungs-Koryphäen? Wird es weitere Enthüllungen in der Causa geben? Wir dürfen gespannt sein!