Mittwoch, 24. April 2024

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Schottische Unabhängigkeit
Politikwissenschaftler hält politisches Erdbeben für möglich

Der Ausgang des schottischen Unabhängigkeitsreferendums ist ungewiss. Ein Ja würde zu einem politischen Erdbeben in Großbritannien führen, sagte Antony Glees, Politikwissenschaftler an der britischen Buckingham University, im DLF. Auch in Bezug auf Wirtschaft und Sicherheit würde es Umwälzungen geben.

Antony Glees im Gespräch mit Dirk-Oliver Heckmann | 16.09.2014
    Eine Person hält mehrere Papierflaggen mit Schottlands Wappen und dem Union Jack in der Hand.
    Sein, oder nicht sein? Im Fall Schottland geht es um die Frage des Unabhängig-Seins. (afp / Ben Stansall)
    Nach Ansicht des Politikwissenschaftlers Antony Glees hat der britische Premierminister David Cameron die Lage falsch eingeschätzt. "Wir haben alle gemeint, der Nationalismus sei tot", sagte Glees im Deutschlandfunk. Man habe aber gesehen, dass er weit verbreitet sei und Auswirkungen auf den Rest Englands haben könnte.
    Die jungen Bürger dächten nicht daran, dass sie eines Tages alt werden und in Pension gingen. Ihnen werde eingeredet, dass Schottland eines der reichsten Länder wäre, sagte er. Dabei hätte ein unabhängiges Schottland weniger Geld als Pakistan oder Ägypten.

    Das Interview in voller Länge:
    Dirk-Oliver Heckmann: Übermorgen also, da findet auf den britischen Inseln etwas statt, das in ganz Europa mit höchster Aufmerksamkeit verfolgt werden wird: die Abstimmung über eine Unabhängigkeit Schottlands nach 300 Jahren Zugehörigkeit zu Großbritannien. Die Umfrageergebnisse der vergangenen Woche, die sandten regelrechte Schockwellen durchs Land, denn erstmals hatten die Befürworter einer eigenen Staatlichkeit knapp die Oberhand. Laut jüngsten Umfragen wird es ein äußerst enges Kopf-an-Kopf-Rennen geben. Am Telefon ist jetzt Antony Glees, Politikwissenschaftler an der Buckingham University. Guten Morgen, Herr Glees!
    Antony Glees: Guten Morgen.
    Heckmann: Werden wir übermorgen ein politisches Erdbeben erleben?
    Glees: Es ist möglich. Es ist gut möglich. Das Rennen ist Hals um Hals, wie wir hier in England oder Großbritannien sagen. Man nimmt an, dass mit einer knappen Mehrheit für Nein die Wählerschaft sich entscheiden wird, aber man kann nicht sicher sein. Das war so in Quebec in 1995, ein Hals-um-Hals-Rennen und dann ein knappes Nein für ein Ausscheiden von Quebec aus Kanada. Das nimmt man an, aber wir können es nicht voraussagen. Es gab nie eine Wahl so wie diese. Und wenn Ja, aber auch wenn Nein, wenn es nur eine kleine Minderheit für Nein gibt, dann gibt es immer noch ein Erdbeben im britischen politischen Leben.
    Heckmann: Zu den Folgen werden wir gleich noch kommen, Herr Glees. Aber mal die Frage: Der Riss, der geht ja teilweise auch durch die Familien auf der Insel. Auch durch Ihre?
    Glees: Ja, das ist so. Wir haben eine Tochter, die ist mit einem Schotten verheiratet. Sie lebt in den Grenzgebieten, den sogenannten Borders. Sie ist Lehrerin und ihr Mann ist begeistert für ein Ja für Unabhängigkeit in Schottland. Sie sagt interessanterweise, mit ihrem Herzen ist sie wohl englisch, aber mit ihrem Kopf und mit Rücksicht auf ihre zwei Kinder ist sie für Unabhängigkeit. Sie ist noch unentschieden. Aber dass sie sagt, Herz in England, aber Kopf und für die Zukunft für Schottland, das ist, glaube ich, nicht unwichtig. Denn die Meinungsumfragen zeigen, dass bei jüngeren Wählern 56 Prozent für Unabhängigkeit sind und nur 37 dagegen sind.
    Heckmann: Wie kommt das, Herr Glees, dass bei jungen Schotten diese Idee der Unabhängigkeit stärker ausgeprägt ist?
    Glees: Bei den Älteren ist es genau umgekehrt. Je älter man wird, desto weniger man die Unabhängigkeit haben möchte. Aber warum die Schotten das wollen und was daraus wird? Man kann nur eines sagen: Wenn es mit Ja und Unabhängigkeit ausgeht, dann wird das wirtschaftlich, politisch, aber auch sicherheitspolitisch zu einer Umwälzung, zu einem Erdbeben, nicht nur für Großbritannien, sondern auch für die EU und für den Westen insgesamt.
    Heckmann: Noch mal kurz zurück zu der Frage, warum diese Idee der Unabhängigkeit gerade bei jungen Schotten so ausgeprägt ist, Herr Glees.
    "Ein scharfer Nationalismus in Schottland"
    Glees: Ich glaube, die Jungen denken nicht daran, dass sie eines Tages alt sind und in Pension treten und krank werden. Die Jungen meinen, die hätten eine Zukunft. Das wird ihnen von Alex Hammond dauernd eingeredet, dass ein unabhängiges Schottland einer der reichsten Staaten in der Welt ist. Das stimmt auch gar nicht. Man würde vielleicht weniger Geld haben als Pakistan, Griechenland und Ägypten. Aber denen hat man eingeredet, dass die Zukunft besser für sie ohne Großbritannien sein würde. Und was wir, glaube ich, völlig unterschätzt haben in Großbritannien insgesamt, ich darf schon sagen im Rest Britanniens unterschätzt haben, ist der Klang von einem ganz scharfen Nationalismus in Schottland. Wir haben alle gemeint, der Nationalismus sei eigentlich tot, aber wie wir sehen, ist er sehr lebendig und kräftig in Schottland. Und dass sich das auf den Rest Britanniens auswirken wird, daran kann kein Zweifel sein. Ich rechne sehr damit, wenn mit Ja gestimmt wird, dass Cameron zurücktreten wird, aber auch Ed Miliband zurücktreten wird, der Labour-Führer, denn Labour hat 40 parlamentarische Sitze in Schottland. Ohne Schottland kann Labour nicht mehr eine Regierung bilden.
    Heckmann: Das heißt, Schottland ist auch sehr wichtig, die schottischen Wähler, für Labour. Beide großen Parteien in Großbritannien wären dann in argen Schwierigkeiten. Wenn es zu einem Ja kommen sollte, Herr Glees, könnte das dann auch Folgen haben für die Mitgliedschaft Großbritanniens in der Europäischen Union? Denn es steht ja ein mögliches Referendum im Raum und die Schotten, die sind ja sehr stark pro-europäisch ausgerichtet. Die dürften dann ja bei einer entsprechenden Abstimmung fehlen.
    Glees: Die würden fehlen. Aber da wäre für Rest-Britannien die große Frage, ob das restliche Britannien in Isolation, von der Europäischen Union abgehackt, ein weiteres politisches und wirtschaftlichen Leben haben könnte. Man könnte meinen, dass für die Leute, die so wie ich persönlich sehr gerne Großbritannien und Rest-Britannien in der EU sehen würden, in 2017, wenn wir ein Referendum bekommen, es viel möglicher sein wird, wenn Großbritannien nicht mehr besteht, wenn das Vereinigte Königreich nicht mehr besteht und unser Land um ein Drittel kleiner ist. Denn je kleiner man ist, desto wichtiger ist es, in einer großen Union dazustehen. Also man könnte es so sehen und auch anders herum. Aber der Radikalismus, der Nationalismus, das ist ein ansteckendes Fieber nicht nur in Großbritannien, sondern wahrscheinlich auch im Rest-Britannien. Man könnte eine Auflösung der Parteien in Großbritannien sehen mit mehr Macht für UKIP zum Beispiel und vielleicht auch die Auflösung des Rest-Britanniens, denn die Meinungen in London sind anders als die Meinungen im Norden von England und auch von Wales und im Südwesten von England.
    Heckmann: Ein ansteckendes Fieber, das möglicherweise auch wieder auf Nordirland übergreifen könnte?
    "Eine Fehleinschätzung von David Cameron"
    Glees: Auch Nordirland. Es war interessant, dass die Protestanten in Nordirland und Schottland gegen ein Ja marschiert haben vor einigen Tagen. Auf der anderen Seite: Wenn es eine Mehrheit, eine knappe Mehrheit für ein Nein gibt, dann muss man auch fragen, was wird aus den Nationalisten, die sich für ein Ja eingesetzt haben? Werden die einfach zurück in ihre Häuser und Fabriken gehen, oder werden sie organisiert bleiben und vielleicht auch ein Sicherheitsrisiko für Großbritannien bilden, so wie das in Nordirland geschehen ist? Wo man auch hinguckt, sieht man nur Krisen, Erdbeben und eine Umwälzung in der britischen Politik, eine Fehleinschätzung von David Cameron, dass das Referendum bestimmt mit einem Nein ausfallen würde. Was sich nur im August diesen Jahres dann verändert hat: Diese Fehleinschätzung kann zu diesem Erdbeben überhaupt auf diesen Inseln führen.
    Heckmann: Ganz so weit sind wir noch nicht. Erst mal gibt es die Abstimmung jetzt am Donnerstag über die Unabhängigkeit Schottlands. Sie haben ja gerade auch noch mal die letzten Umfrageergebnisse angesprochen, Herr Glees. Wenn Sie einen Strich darunter machen, wie ist Ihre Prognose? Wer wird die Oberhand gewinnen, die Befürworter einer Unabhängigkeit, oder die Gegner?
    Glees: Ich glaube, die Gegner werden mit einer knappen Mehrheit siegen, denn wirtschaftlich, politisch, sicherheitspolitisch hat das keinen Sinn. Es ist völlig unsinnig, für ein unabhängiges Schottland zu wählen. Aber dass manchmal das geschieht, was irrational in der Politik ist, das braucht man deutschen Zuhörern nicht vorzutragen.
    Heckmann: So ist das. Die Einschätzung war das des Politikwissenschaftlers Antony Glees von der Buckingham University. Herr Glees, ich danke Ihnen ganz herzlich für das Interview!
    Glees: Gerne geschehen.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.