Donnerstag, 18. April 2024

Archiv

Schottland
"Die Kampflinie verläuft nicht zwischen England und Schottland"

Der schottische Schriftsteller John Burnside spürt in seiner Familienchronik "Lügen über meinen Vater" dem schwierigen Verhältnis von Schotten und Engländern literarisch nach. Die teils diffuse, teils äußerst konkrete Abneigung seiner Landsleute gegen die Engländer sei weder kulturell noch patriotisch zu begründen, meint Burnside.

Von Cornelius Wüllenkemper | 17.09.2014
    "Das Bild vom typischen Schottland ist bis zu einem gewissen Grad eine Konstruktion, ein nationales Image, das die Leute konsumieren können. Der Kilt zum Beispiel - ich würde niemals einen tragen, eine pure Erfindung! Er wurde von den Engländern als Kleidung für die schottischen Industrie-Arbeiter hergestellt. Den restlichen Teil des Mythos der "scottishness" hat Sir Walter Scott selbst erfunden, um damit mehr Leser in England zu gewinnen, die seine Bücher kaufen."
    Schottische Kultur als bloßer folkloristischer Verkaufsschlager, als Touristen-Attraktion? Auch das schottische Literatur-Monument Robert Burns setzte 1786 mit seinen "Poems, Chiefly in the Scottish Dialect" klug auf die patriotische Karte. Die "mythischen gälischen Gesänge", auf denen sein Erfolgsschlager basierte, waren freilich eine pure Erfindung seines Kollegen James Macpherson. Es sind genau diese Traditionen, auf die sich heute die Verfechter der Unabhängigkeit von England aus der Scottish National Party beziehen.
    "Es ist schon ironisch, dass die Verfechter der Unabhängigkeit gerade Walter Scott und Robert Burns für ihre Kampagne vereinnahmen. Walter Scott war schon zu seinen Lebzeiten entschieden für den Beitritt zu England! Das Problem ist: Wenn Schottland für die Unabhängigkeit stimmen sollte, würde das als Bestätigung der Regierungsarbeit der Scottish National Party verstanden. Diese Regierung macht allerdings die selbe Politik wie die in Westminster: 'business as usual' und Klientelpolitik für die Wirtschaft. Umweltschutz und lokale Demokratiestrukturen dagegen werden total missachtet - zwei Dinge, die gerade Robert Burns und auch Walter Scott äußerst wichtig waren!"
    Umweltpolitik findet in Schottland nicht statt
    John Burnside betont gleichwohl: Die enge Verbindung mit dem schottischen Land und die Figur des Alter Ego, das sich abseits politischer und gesellschaftlicher Zwänge eine eigene Lebenswelt erschafft, das seien typische Motive der schottischen Literatur und damit Ausdruck einer echten "scottishness". Die teils diffuse, teils äußerst konkrete Abneigung gegen die Engländer sei dabei weder kulturell noch patriotisch zu begründen. Burnside hat die wahren Gründe in seiner Familienchronik über die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Krisen im Schottland des 20. Jahrhunderts, "Lügen über meinen Vater", literarisch verarbeitet:
    "Meinen Vater hat man auf einer Türschwelle in einer der ärmsten Städte Schottlands aufgelesen, inmitten des Generalstreiks 1926. Er wurde zwischen verschiedenen Familien herumgereicht, weil sich niemand ein weiteres Kind leisten konnte. Und das in einem Land, dessen Kohle das ganze Empire reich machte! Arbeitende Schotten, egal ob in der Stadt oder in den Ländereien auf dem Lande, klagen eine Klasse an, die sie kontrolliert und ausbeutet. Die Kampflinie verläuft nicht zwischen England und Schottland, sondern zwischen den Klassen!"
    Politisch-ideologische Gräben
    Es sind also vor allem politisch-ideologische Gräben, die Schottland und England trennen. In der Selbstwahrnehmung sehen sich die Schotten als ehrliche, erdverbundene Arbeiter gegenüber den zynisch-gierigen Finanzspekulanten im Süd-Osten Englands. Und wahrlich gilt das Unabhängigkeits-Referendum zugleich als Protest-Abstimmung über die Tory-Regierung von David Cameron.
    "Beim Referendum geht es definitiv auch stark um Emotionen, weil in Schottland immer wieder schlechte politische Ideen allein zugunsten der Wirtschaft ausprobiert wurden. Die sogenannte 'Kopfsteuer' von Margaret Thatcher wurde Ende der 1980er-Jahre zunächst in Schottland eingeführt, um auszuprobieren, ob das System funktioniert. Der Regierung in Westminster war es egal, was die schottische Bevölkerung davon hielt, weil diese sie sowieso nicht wählte. Das Gefühl sagt den Schotten jetzt, sie sollten von England unabhängig sein. Natürlich sollten wir das sein, aber unser Parlament in Edinburgh ist eben auch nur ein anderes Westminster. Wir brauchen regionale Vertretungen, sodass regionale Bedürfnisse und regionaler Umweltschutz von den Menschen gestaltet wird, die vor Ort leben."
    Die Unabhängigkeit hätte ohne Zweifel eine chaotische Phase zur Folge, meint auch John Burnside: Währung, Staatshaushalt, Verteidigung und Außenpolitik sind nur vier der dringlichsten Zukunftsfragen. Aber mit schottischem Gemeinsinn und der Kraft von Kunst und Literatur blicke das Land in eine bessere Zukunft, so Burnside. Es stimmt: Manchmal können Mythen Realitäten schaffen.