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Schräge Vögel

Thomas Ostermeier inszeniert beim Theaterfestival in Avignon unter Mitwirkung des Festivalpublikums aktive Demokratie als Theater im Theater. Romeo Castellucci stellt den antiken griechischen Philosophen Empedokles in die Mitte einer Inszenierung, in der es um das Verschwinden geht.

Von Eberhard Spreng | 19.07.2012
    Bombenstimmung im alten Stadttheater von Avignon bei Thomas Ostermeiers Inszenierung von Ibsens "Ein Volksfeind". Das Saallicht ist an, das Publikum schäumt vor Heiterkeit. Zwischenrufe wie "Deine Demokratie ist nicht seine Demokratie" sind zu hören. Stefan Stern hatte als Badearzt Stockmann aus dem Pamphlet "Der kommende Aufstand" zitiert, das 2008 von in Frankreich von der Regierung als "Handbuch des Terrorismus" bezeichnet worden war und die Honoratioren des Kurortes, in dessen Wasser Stockmann krankheitserregende Keime nachgewiesen hatte, sind von der Bühne in den Saal gekommen und haben Stockmanns berühmte Ansprache für eine öffentliche Debatte unterbrochen. Natürlich ist jeder Wutbürger im Saal, auch wenn das ökonomisch wehtut, für die Wahrheit des Badearztes und gegen den Stadtrat, der sie vertuschen will.

    Ingo Hülsmann spielt ihn mit herrlich aalglatten Politikerposen. Ostermeier inszeniert unter tätiger Mitwirkung des Festivalpublikums aktive Demokratie als Theater im Theater. Er stellt das Publikum dabei ohne Zynismus oder Demagogie vor die nach wie vor aktuelle Grundsatzfrage in Ibsens Volksfeind: Was tun mit der Mehrheit in einer Demokratie, wenn es die Mehrheit der Unwissenden ist?

    Jan Pappelbaum hat diesmal ein einfaches Gebilde aus schwarzen Wänden gebaut, auf die allerlei Skizzen und Worte gekritzelt sind. Das schicke Ibsen-Interieur frühere Ostermeier-Arbeiten ist dem Konzeptionellen gewichen, Provisorien fürs Agit-Prop. Stockmanns Daheim erinnert so eher an ein Streikcafé oder eine Wohngemeinschaftsküche auf deren Tisch unter andern Rotwein, Megaphon und ein kleines Keyboard stehen. Thomas und seine Freunde aus der Zeitung sind nämlich nebenher Hobbymusiker. Alle irgendwie links, irgendwie jobgeil, irgendwie familienorientiert. Am Ende sitzt Stefan Stern als hitzköpfiger Badearzt, über und über mit Farbbeuteln bespritzt und um eine politische Erfahrung reicher, stumm neben seiner Frau. Vor ihnen der lukrative Scherbenhaufen seiner Sturheit: Ein Bündel vom Schwiegervater billig erstandener Aktien der am Markt eingebrochenen Bäderbetriebe. Was tun? Dieses Erbe für die ökologisch-medizinische Wahrheit in die Tonne treten, oder die Bäderbetriebe nunmehr auch schön lügen, um sich an der Aktienerholung zu bereichern? Die Entscheidung wird nicht gezeigt. Aber die Ahnung wächst: Es gibt kein richtiges Leben im falschen. Oder: Eine Eigentumsgesellschaft ist ohne Korruption nicht zu haben. In einem norwegischen Kurbad nicht anders als im Rest der kapitalistischen Welt.

    Für Fundamentalisten hält das Volk letztlich nur Heldentod und Verewigung im Mythos bereit. So auch für Empedokles, den unverstandenen sizilianischen Philosophen und Pädagogen, der sich Legenden zufolge 435 vor Christus in die Gluten des Ätna gestürzt haben soll. Ihn stellt Romeo Castellucci, wie Ostermeier seit Jahren Dauergast in Avignon, in seinem "Four Seasons Restaurant" in die Mitte einer bildwütigen Inszenierung, in der es um das Verschwinden geht. Der italienische Künstler ehrt mit seinem Titel Mark Rothko, der 1958 Auftragsarbeiten für das Ney Yorker Nobelrestaurant "Four Seasons" einbehalten hatte.

    "Es gab damals schon in Amerika eine, wie ich es sagen würde, Krankheit der Bilder, eine Dysfunktion unserer Gesellschaft in Bezug auf das Bild. Kein Zufall, dass sich das rund um ein Restaurant abspielte, um einen Ort der Bulimie, der Fresssucht, auch in Bezug auf die Bildwelt. Es gab damals einerseits Rothko, der sich weigerte den Bilderkonsum zu bedienen, und andererseits Andy Warhol der genau umgekehrt, mit Vervielfachung, auf die Bilderbulimie kritisch reagierte."

    Dieses Ereignis ist allerdings nur emblematischer Anlass für Castelluccis Meditation um Hölderlins Tragödienfragment "Der Tod des Empedokles". Zehn junge Frauen in den Kostümen von Landmägden verkörpern hier die Figuren des Hölderlin-Fragments: mit pathetischen Posen vor einigen Geräten einer banalen Turnhalle. Am Ende der kurzen, den Text nicht wirklich erschließenden Darstellung formen die Frauen ein Knäuel aus Körpern, aus dem eine nach der anderen neu geboren wird. Nackt verlassen sie die Bühne, bereit für ein neues Leben. Empedokles glaubte an unbegrenzte Reinkarnationen, und mit ihm Castellucci, dem es nicht um geschlossene Narration geht, sondern um Konfrontationen von Bildern, Assoziationen, Analogien und Metaphern: Eingefasst wird die Szene von zwei Bildern, die die Bühnentechnik mit sich selbst ausmacht. Ein Höllendröhnen begleitet aufprojizierte Informationen über ein 25 Millionen Lichtjahre entferntes "Schwarzes Loch"; am Ende rauschen, wie schon in früheren Arbeiten, kleine schwarze Fetzen in kreisenden Wirbeln über die zum Publikum hin mit einer Folie abgetrennte Bühne.

    Die göttliche Natur, die wohl weder Empedokles noch Hölderlin dem gemeinen Volk begreiflich machen konnte, hält für uns bei Castellucci nur ein Fegefeuer bereit oder ein schwarzes Loch, das alles Sein in sich aufsaugt.