Freitag, 29. März 2024

Archiv


Schrauben statt lernen

Spätestens wenn die Sommerferien beginnen, müssen immer mehr junge Griechen arbeiten gehen. Das dürfen sie zwar laut Gesetz erst ab 15 Jahren, die Realität sieht jedoch anders aus: Sie arbeiten schwarz, schuften für ein bis zwei Euro die Stunde - teilweise auch während der Schulzeit.

Von Rodothea Seralidou | 04.07.2013
    Auf den ersten Blick sieht Nour aus wie viele Teenager in seinem Alter: Der 14-Jährige trägt ein weißes T-Shirt mit bunten Buchstaben und eine blaue Jeanshose. Dunkelbraune Haare, Irokesenschnitt. Doch anders als seine Freunde, die Computerspiele, Chillen oder Fußball im Kopf haben, muss Nour arbeiten:

    ""Ich habe schon die unterschiedlichsten Jobs gemacht: Ich habe auf dem Wochenmarkt gearbeitet, auf Volksfesten. Ohne Arbeit könnte ich nicht überleben. Ich brauche das Geld, zum Beispiel für Hefte für die Schule oder für meine Familie. Meistens gebe ich das Geld meiner Mutter. Sie geht dann damit in den Supermarkt und kauft uns was zu essen.”"

    Nour gehört zu den geschätzten 100.000 Kindern und Jugendlichen, die in Griechenland arbeiten. Wenn er aber die Zeit dazu findet, kommt er gerne hierher, sagt der schlanke Junge: "Hierher”, das ist die Organisation "Netz für Kinderrechte”. Kinder und Jugendliche wie er können mit Sozialarbeitern sprechen, Bücher lesen, spielen oder einfach nur kurz abschalten. Die meisten von ihnen sind Einwandererkinder. Aber auch griechische Kinder gehen arbeiten, wenn die Familie finanzielle Probleme hat, sagt Myrsini Zorba, Leiterin der Organisation:

    ""Die Krise und die hohe Arbeitslosigkeit der Eltern hat dazu geführt, dass viele Kinder Jobs haben: Es sind meistens unterbezahlte Hilfsjobs. Sie arbeiten zum Beispiel in Restaurants, als Erntehelfer oder aber auch im Supermarkt, in Autowaschanlagen. Die Familien befinden sich meistens in einer schlimmen finanziellen Lage und das Kind versucht in die Rolle des Erwachsenen zu schlüpfen.”"

    So wie Nour: Seine Familie kam vor fünf Jahren aus Afghanistan nach Griechenland. Auch heute noch haben weder seine Eltern noch er oder seine Geschwister legale Aufenthaltspapiere. Und als ältester von insgesamt sechs Kindern fühlt er sich verpflichtet, zu helfen. Die Schule gerät da schnell ins Abseits:

    ""An Tagen, an denen es Arbeit gibt, gehe ich nicht zur Schule. Es kommt vor, dass ich in einer Woche nur zwei Tage in die Schule gehe und drei Tage fehle. Wenn der Lehrer dann fragt, erkläre ich ihm die Gründe und er hat Verständnis. Meine Mitschüler aber wissen es nicht. Ich schäme mich auch ein bisschen, denn ihre Eltern arbeiten und meine nicht.”"

    Eigentlich dürfen Kinder und Jugendliche in Griechenland nicht arbeiten. Erst ab dem 15. Lebensjahr dürfen leichte Jobs angenommen werden - so sieht es das Gesetz vor. Doch mit einem Tageslohn von maximal 15 Euro, stellen viele bevorzugt Kinder ein, sagt Nour. Kommt die Polizei, müssen sie sich verstecken:

    ""Bei Kontrollen warte ich, bis die Polizei weg ist. Dann komme ich wieder. Manchmal aber, wenn sie mich erwischen, sagen sie einfach: Verschwinde! Geh nach Hause! Sie sagen, sie würden sonst meine Eltern anrufen! Ein Freund wäscht auf der Straße Autos. Den haben sie mitgenommen. Und seitdem habe ich Angst, dass sie mich auch festnehmen und dass sie mich fragen, warum ich arbeite und nicht zur Schule gehe!”"

    Im September fängt für Nour die achte Klasse an. Lange will er aber nicht mehr die Schule besuchen. Viel lieber würde Nour bei einem Automechaniker aushelfen und Autos und Motorräder reparieren. Schulabbruchsquote und Kinderarbeit gingen sowieso Hand in Hand, erklärt Zorba vom Netz für Kinderrechte:

    ""Schon ab der 7. Klasse gibt es Schulabbrecher. Diese Kinder werden immer unqualifizierte Arbeiter bleiben. Sie können weder gut schreiben noch eine E-Mail verfassen. Das schlimmste aber ist das Minderwertigkeitsgefühl, das diese Kinder haben. Sie haben keine Ambitionen, mit der Schule weiterzumachen. Sie glauben nicht daran, dass sie es schaffen können.”"

    Auch Nour glaubt das nicht. Vor allem in Griechisch und Geschichte sei er sehr schlecht, sagt er und lächelt verlegen. So schlecht, dass er schon zweimal die Klasse wiederholen musste. Manchmal aber träumt Nour davon, wie es wäre, wenn: Wenn seine Familie nicht arm wäre; wenn er normal zur Schule gehen oder Nachhilfeunterricht nehmen könnte:

    ""Vielleicht würde ich dann Arzt, Lehrer oder Regisseur werden. Oder Journalist! Wenn ich Kinder sehe, die alles haben, will ich auch. Aber es geht nicht. Ich denke oft daran, wie es wäre, reich zu sein!”"