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Schrebergarten auf Russisch

Die seit 1992 in Zürich lebende russische Journalistin und Publizistin Marina Rumjanzewa hat eine sehr informative, vergnüglich zu lesende kleine Kulturgeschichte der Datscha geschrieben, die einen aufschlussreichen Einblick in russisches Alltags- und Freizeitleben gibt.

Von Karla Hielscher | 08.09.2009
    In älteren Übersetzungen aus dem Russischen wurde "Datscha" immer mit "Sommerhaus" oder "Sommerfrische" und "Datschniki" mit "Sommergäste" übersetzt. Dadurch ging gerade das Spezifische, für Russland Charakteristische verloren. Denn die Datscha ist ein ganz eigener Bestandteil der russischen Geschichte und Kultur und mit der in Deutschland früher verbreiteten Reise in die Sommerfrische überhaupt nicht zu vergleichen.

    Wie so Vieles im russischen Leben begann auch die Geschichte der Datscha schon vor etwa 300 Jahren unter Peter dem Großen. Nachdem dieser nach der Gründung Sankt Petersburgs im Jahre 1703 seinen etwa 30 km entfernten Sommerpalast Peterhof gebaut hatte, verteilte er an seine adeligen Günstlinge entlang des Weges dorthin gleich große Grundstücke, sog. "Datschen, das heißt Gaben" von russisch davat´ "geben", auf denen diese ihre Sommerhäuser bauten. Diese vom Staat vergebenen Bodenanteile in Stadtnähe mit Holzhäusern darauf stellen den Prototyp dar für die später überall entstehenden Datschensiedlungen im Wald und mit den dazugehörenden Gärten, in denen die meisten russischen Städter ihre Sommermonate verbringen. Schon 1834 schrieb Puschkin aus der Hauptstadt: "Petersburg ist leer, alle sind auf den Datschen."

    Marina Rumjanzewa, die seit 1992 in Zürich lebende Journalistin und Publizistin, hat eine sehr informative, vergnüglich zu lesende kleine Kulturgeschichte der Datscha geschrieben, die einen aufschlussreichen Einblick gibt in russisches Alltags- und Freizeitleben und damit wesentlich zum Verständnis der russischen Mentalität beiträgt. Mit vielen Zitaten aus zeitgenössischen Quellen, Memoiren, Zeitschriften und Briefen, beschreibt die Autorin die historische Entwicklung des Datschenlebens: den Beginn im 18. Jahrhundert, wo die reichen Aristokraten sich auf ihren Datschen abseits vom strengen Hofzeremoniell ungezwungen und locker ihren Vergnügungen und Ausschweifungen samt Maskenbällen und Feuerwerk hingeben konnten; die schrittweise Demokratisierung im 19. Jahrhundert, in dem sich das Datschenleben auch für die Mittelschichten, für Kaufleute und Angestellte öffnete; der regelrechte Datschenbauboom während der kapitalistischen Industrialisierung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als mit dem Eisenbahnbau auch in weiterer Entfernung von den Großstädten Datschensiedlungen aus dem Boden gestampft wurden.

    Interessanterweise hat die Oktoberrevolution das Datschenleben kaum verändert, ja, mit dem Privileg der Vergabe von Datschen an hohe Funktionäre oder verdiente Künstler wurde gerade an die zaristische Tradition angeknüpft. Und erst in postsowjetischer Zeit zeichnet sich mit dem massenhaften Bau von scheußlichen Villen und Fantasie-Schlösschen der neuen Russen hinter hohen Zäunen und Sicherheitsanlagen oder den nun "kottedsches" heißenden Häuschen in Neubausiedlungen ein Bruch mit der langen Datschentradition ab.

    Die Autorin stellt anschaulich die Grundelemente, die das Datschenleben durch die Geschichte hindurch geprägt haben, vor: den klassischen schlichten Holzbau mit kleiner Eingangstreppe, Terrasse und verglasten Veranden, mit einer Sommerküche oder "dem sog. "fligel" für Gäste, denn zum Leben auf der Datsche gehörte es, dass Gäste selbstverständlich auch unangemeldet empfangen wurden; die zu den Datschenkolonien gehörenden Attribute, der kleine Park mit Bänken, Lauben, Promenaden, Holzpodesten zum Tanzen und einem Sommertheater, in dem begeisterte Laien Theater spielten; die Zwanglosigkeit und fehlende Kontrolle des Datschenlebens, die es zum Beispiel möglich machte, dass ein Dissident wie Solschenizyn auf der Datscha des Schriftstellers Kornej Tschukowskij in Peredelkino ein Unterkommen fand; das ausgelassene freie Abenteuerleben der barfüßigen Kinder; das Einmachen von Obst und Kochen von Konfitüre, das in Sowjetzeiten zur Lebensmittelversorgung immer wichtiger wurde; die Bedeutung der Vorortzüge und der Bahnstation als Treffpunkt, die Datschenzeitungen usw., usf.

    Der zweite Teil des Buches illustriert dies alles mit einem Lesebuch quer durch die russische Literaturgeschichte von Puschkin bis Tatjana Tolstaja. Die Datscha als Handlungsort ist seit Mitte des 19. Jahrhunderts bis heute fast zu einem Wesensmerkmal der russischen Literatur geworden. Tschechow etwa bietet in seinem Werk eine wahre Enzyklopädie des Datschenlebens: die leichtlebige sommerliche Flirtatmosphäre, die Leiden des am Wochenende aus der Stadt mit tausend Aufträgen und Einkäufen anreisenden Datschenehemanns, die "ägyptische Plage" der Mückeninvasion, aber auch die Fremdheit der gutwilligen Stadtbewohner gegenüber den Bauern oder die Abholzung des riesigen alten Gutskirschgartens für schmale aber profitträchtige Datschenparzellen.

    Die Möglichkeiten der Auswahl für eine solche kleine Datschen-Anthologie sind also unendlich und das heißt auch sehr subjektiv. Deshalb ist es zu begrüßen, dass ein Teil der gebotenen Texte von bei uns weniger bekannten Autoren stammt, die Dorothea Trottenberg erst mals ins Deutsche übertragen hat. Das sind einige Texte von Schriftstellern der vorvorigen Jahrhundertwende, die nach der Revolution ins Exil gingen: ein satirisches Feuilleton über die seltsame Spezies der Datschniki von der Kultautorin Nadeschda Teffi; eine Erzählung Leonid Andrejews über einen herrenlosen, schmutzigen Hund, der einen Datschasommer lang zum anhänglichen und geliebten Freund einer kinderreichen Familie wird, ehe man ihn im Herbst wieder verstößt; von dem Satiriker Arkadij Awertschenko die komisch rührende Geschichte eines hungrigen Penners, der – als er in eine Datscha einbricht - auf die 6-jährige Tochter der Besitzer stößt, die sich über den unerwarteten Besuch sehr freut und ihn zwingt, seinen geplanten Raubzug mit ihr höflich und phantasievoll zu spielen; aber auch ein Auszug aus dem bisher leider nicht übersetzten Roman des Booker-Preisträgers im Jahr 2000, Michail Schischkin, "Die Eroberung von Ismail", in dem der Ich-Erzähler einen melancholischen Winterbesuch in der tief verschneiten, verlassenen Ortschaft mit ihren verrammelten und ausgekühlten Datschen schildert, bei dem ihn die Erinnerung an sein totes Kind übermannt. In all diesen Neuübersetzungen wird selbstverständlich das eingedeutschte Datscha und Datschniki verwendet.

    Das Buch ist - wie im Dörlemann Verlag üblich - sorgfältig mit Anmerkungen, Quellenangaben und Informationen über die Autoren versehen und mit einem Datschenbilderbogen in der Innenseite des Schutzumschlags liebevoll gestaltet.