Donnerstag, 28. März 2024

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Schrecken des Krieges

Kiepenheuer & Witsch. 160 S., EUR 16,90 -

01.10.2003
    Der 1940 in Hamburg geborene Schriftsteller Uwe Timm gehört jener Generation an, in welcher der Krieg tiefe Spuren hinterlassen hat: Väter, Brüder, Onkel, Vettern starben auf den Schlachtfeldern des Zweiten Weltkrieges oder kehrten, wenn überhaupt, krank aus den Kriegsgefangenenlagern zurück. Karl-Heinz Timm, Uwe Timms sechzehn Jahre älterer Bruder, hatte sich 1942 freiwillig zur Waffen-SS gemeldet, zur Eliteeinheit Totenkopf-Division. Am 19. September 1943 wurde er in der Schlacht bei Kursk schwer verwundet. Vier Wochen später starb er in einem Lazarett. Einige Zeit darauf erhielt die Mutter mit der Post seine letzte Habe: eine kleine Pappschachtel, darin: Notizheft, Briefe, Fotos, Orden und ein Kamm mit ein paar Haaren. Lange lag diese Schachtel in der Schublade des Frisiertisches der Mutter.

    Ich hab vor 30 Jahren angefangen und wollte über diesen Bruder schreiben, einfach weil ich meine Kindheit mit den Erzählungen über diesen Bruder, der nie da war, aber doch präsent war, zugebracht habe, ich hab die Briefe immer wieder mal rein gelesen, auch in sein Tagebuch rein gelesen und war immer wieder an einer bestimmten Stelle hab ich das sein gelassen, weil ich nicht wusste, was noch da drunter steckte, also ob er nicht auch an Erschieß von Zivil und Juden verwickelt war.


    Erst in dem Moment als meine Mutter gestorben war und auch meine Schwester, hab ich auch die emotionale Freiheit darüber zu schreiben, denn das hieß ja auch, ich musste ganz strikte Fragen stellen auch an meinen Vater u solange da noch Leute waren, die beide, Vater, Sohn, kannten, fand ich das einfach zu problematisch für mich.

    Die Stelle lautete, notiert am Brückenkopf über den Donez: "75 Meter raucht Ivan Zigaretten, ein Fressen für mein MG".


    Darüber bin ich zunächst nicht hinweggekommen. /Das zeigt ja ein völlig emotionsloses Denken. Also man sieht gar nicht das Opfer, / den er da erschossen hat, bis in die Sprache hinein. Es ist ja wirklich eine entmenschte Sprache, ein Fressen für mein MG.

    Sowohl in Karl-Heinz Timms Briefen als auch in seinem Tagebuch ist weder vom Schicksal der Gefangenen noch der Zivilbevölkerung die Rede. Nur einmal heißt es: "Wir bauen die Öfen der Russenhäuser ab, zum Straßenbau", was bedeutete: Zerstörung der Häuser. Ausschließlich vom Kriegführen, vom Zielschießen und vom Umgang mit Flammenwerfern und Minen spricht der Bruder. Karl-Heinz Timm - 18 Jahre alt, 185 groß, blond, blauäugig - war ein Kind seiner Zeit. Er trat ein in Jungvolk, Hitlerjugend, Arbeitsdienst. Er tat, wozu Erwachsene ihn aufforderten:

    Er ist das Produkt einer Erziehung, die ich auch noch genossen habe, auch noch erfahren habe, die bestimmte Emotionen ausgetrieben hat, die Kritik ausgetrieben hat oder Kritik zumindest nie als zivilen Ungehorsam möglich machte, sondern es war eigentlich das, was man sagte mit Kadavergehorsam, das ist ein Begriff, den ich noch aus meiner Kindheit kenne, obwohl ich ja wesentlich jünger war, aber der ja noch reinreicht in die Zeit nach dem Kriege, also all da, was Hitler in dieser Ideologie zusammen gefasst hat, wie er sich die deutschen Jungens vorstellt: "hart wie Kruppstahl, zäh wie Leder, schnell wie Windhunde". Das ist eigentlich das Erziehungsmodell gewesen.

    SS-Panzerpionier Karl-Heinz Timm war in seinem Kadavergehorsam Teil eines rassischen Vernichtungskrieges. In ihm befahl SS-Führer Himmler das sog. "russische Untermenschentum" "ohne jede Gnade und Barmherzigkeit zusammenzuschießen". Uwe Timm illustriert die wenigen Äußerungen seines Bruders mit Zitaten aus der offiziellen NS-Ideologie und Kriegszielpolitik. Zugleich stellt er dar, wie Denken und Mentalität des Vaters den Sohn prägten. Hans Timm, Jahrgang 1899, hatte es im Ersten Weltkrieg bis zum Fähnrich gebracht und danach in der "Organisation Consul", einer Feme-Kampftruppe der Freikorps, die 'Roten' bekämpft. Er war bekennender Völkischer und Deutschnationaler.

    Das ist genau der Hintergrund. Er war nicht Nazi, aber er hatte eine Naziideologie in einer eher elitären Fassung, die er vermittelte, die Nazis, die waren ihm irgendwie zu pöbelhaft in dieser Zeit. Als man ihm noch angeboten hatte, in die Partei einzutreten und dort vielleicht Gauredner oder so was zu werden.

    Auch nach dem Krieg hielt Luftwaffenoffizier Hans Timm fest an seinem ethnisch-nationalen Irrglauben. Reeducation , die Umerziehung zu demokratischen Wertvorstellungen, lehnte er als "Amerikanismus" ab. Jazz, Jeans verbot er dem Sohn Uwe Timm.

    Das ist für mich genau der Punkt gewesen als Kind, in dem man erleben konnte, wie diese Gen mit ihren Werten zusammengebrochen war. Diese ehemals donnernd auftretenden uniformierten Leute bückten sich jetzt im Zivil nach einer Kippe, die irgendein GI weggeworfen hatte. Aber sie hielten natürlich immer noch an diesem Bewusstsein fest. Diese Mentalität war ja nicht weggeräumt, im Gegenteil, sie hat sich bloß ins Private verlagert. Sie durfte öffentlich nicht mehr geäußert werden, und das war eben meine Situation, dass ich da /mit diesem autoritären Vater und mit dieser Ideologie relativ früh Schwierigkeiten bekam und einen harten Kampf ausgefochten habe.

    Was wusstet Ihr vom Holocaust? Warum habt Ihr nichts dagegen getan? Hat nicht auch die Wehrmacht Verbrechen begangen? Auf diese Fragen, die der 16-jährige Uwe Timm wie viele seiner Generation stellte, erhielt er ausweichende Antworten. Der Vater nahm jede Gelegenheit wahr, die deutsche Schuld zu relativieren. Er redete sich heraus mit dem Argument: "Du hast ja keine Ahnung. Du hast das nicht mitgemacht."

    Ja, das ist natürlich so ein Abbügelargument. So als sei es notwendig bestimmte Momente der Kritik nur dann einbringen zu können, wenn man vorher alles durchgemacht hat, das ist dummes Zeug. Wenn man die Ergebnisse sieht, ist es möglich, das zu kritisieren u das ist eine der großen Ausreden dieser Gegner, dass sie sagten, ja im einzelnen wenn man das erlebte ist es dazu gekommen, man wusste alles nicht, das haben wir nicht gewusst, das war die gängige Sprachformel mit der man, also ich als Jugendlicher immer wieder konfrontiert wurde, wenn man da nachbohrte, nachfragte.

    Üblich war beim Entschuldungsversuch auch die Berufung auf den Befehlsnotstand.

    Beispielsweise Browning in seinem "Ganz normale Männer" weist ja nach, dass immer wieder Verweigerer möglich waren. Ohne dass die Leute erschoss worden waren ... beständige Ausreden und letztlich diese Gene der Väter auch so krank machte. Sie verdrängten o die redeten ständig von ihren Abenteuern.

    Eine gekränkte und selbst kranke Generation verdrängte das Trauma des Genozids an den Juden und erschlich sich eine Opferrolle, indem sie Hitler zum verbrecherischen Dämon stilisierte. Uwe Timm beschreibt in "Am Beispiel meines Bruders" die Krankheit einer Gesellschaft, die auf Gewalt gründete - nach außen vollzog sich diese Gewalt im Kriegführen gegen andere Länder, im Inneren der Gesellschaft war Gewalt in der Schule oder zuhause selbstverständlich. Und die Gewalt des Staates schloss als Heldenideal die Bereitschaft ein, sich töten zu lassen.

    Uwe Timm zeigt Am Beispiel meines Bruders nicht nur, wie Generationen miteinander verkettet sind, sondern auch, wie sich Nachfolgende von den Vorurteilen Vorheriger emanzipieren können. Trotz der analytischen Schärfe, mit der Uwe Timm die Welt rassisch-nationaler Verblendung am Beispiel seines Bruders und seines Vaters bloßstellt, sein Mitgefühl für Bruder und Vater, seine Hommagen an Mutter und Schwester, machen diesen gut geschriebenen Prosa-Essay zu einem behutsamen Verständnistext.