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Schrecken und Wunder in Transnistrien

In Siegfried Jägendorfs Bericht wird der rumänische Anteil an der Auslöschung der europäischen Juden geschildert. Und zugleich ist er das große Zeugnis jüdischen Widerstands. Einem Einzelnen, deportiert in ein Ghetto, gelang es, 10.000 Juden zu retten.

Von Wilfried Schoeller | 21.06.2010
    Im Einzelfall liegt das Geheimnis und kann das ganze Panorama entstehen. Das Buch "Das Wunder von Moghilew" ist ein solches Zeugnis: Bericht und Rechenschaft eines Einzelnen, zugleich viel mehr, nämlich das Dokument jüdischen Widerstands jenseits des bloßen Opferdaseins.

    Der Fall spielt in einer unbekannten Geografie: Transnistrien, begrenzt von den Flüssen Dnjestr und Bug, zwischen Rumänien und der westlichen Ukraine, von deutschen und rumänischen Truppen 1941 besetzt, zuvor von der Roten Armee geplündert und zerstört, zwischen 1941 und 1944 eine künstliche geografische Einheit. Im Mittelpunkt des Geschehens eine denkwürdige Gestalt: der Habsburger Jude Siegfried Jägendorf, ehemaliger Siemensdirektor, einer von 150.000, die der rumänische Diktator und Hitler-Verbündete Antonescu im November 1941 nach Transnistrien deportieren ließ, um seine Variante des Massenmords zu kreieren. Er ließ die jüdische Bevölkerung nicht im KZ vergasen, sondern schickte sie zur Vernichtung auf Arbeit nach Transnistrien.

    Jägendorf kam ins Getto von Moghilew-Podolski etwas anders als die anderen: als Herr mit Anzug und Krawatte. Als gelernter Ingenieur machte er sich sofort nach der Ankunft bemerkbar. Es gelang ihm, bis zum Präfekten vorzudringen; er erbot sich, mit Fachkräften das zerstörte Elektrizitätswerk in Gang zu bringen, baute, als dies gelang, mit einem immer größer werdenden Trupp von Arbeitern eine Gießerei und eine Fabrik, die sogenannte Turnatoria, wieder auf und kurbelte die Produktion an.

    Zeitweilig übernahm Jägendorf auch die Leitung des Jüdischen Komitees und steuerte seine Leute mit drakonischem Regiment durch Verzweiflung, Hunger, Todesangst, Korruption und Verrat. Er war eisern, wenn jemand gegen ihn arbeitete oder wenn es in den eigenen Reihen Verräter gab. Auf diese Weise gelang es ihm, in Moghilew fürwahr ein Wunder zustande zu bringen, nämlich 10.000 Juden zu retten.

    Er wusste, dass er Maßnahmen im moralischen Grenzbereich ergreifen musste, um sein Ziel durchzusetzen, als Jude möglichst viele Juden vor dem Tod zu bewahren. Er trat mit Leibwächtern auf, und er sorgte auch dafür, dass Spitzel in den eigenen Reihen umgebracht wurden. Später wurde er mit dem Vorwurf konfrontiert, er sei einen Teufelspakt eingegangen. Er antwortete im Buch:

    Wenn es den Anschein hat, dass wir für den Feind gearbeitet haben, so müssen wir fragen: Wer war unser Feind – Deutsche und Rumänen, die uns heute vernichteten, oder die Russen, die uns morgen unterjochten? Der Feind war einzig und allein der Tod, und unsere einzige Aufgabe bestand darin, zu überleben.

    Ungemein anschaulich und angefüllt mit haarsträubenden Einzelheiten ist dieser Bericht, den Siegfried Jägendorf schrieb, nachdem er, den Krieg überlebend, 1946 mit seiner Familie in die USA emigrieren konnte, wo er sich im Alter, in dem andere in Rente gehen, eine neue Existenz aufbaute. Zehn Jahre lang schrieb er an seinen Memoiren. Das Manuskript blieb lange liegen, und Siegfried Jägendorf starb 1970. 18 Jahre später recherchierte der Publizist Aron Hirt-Manheimer die Geschichte dieses Mannes nach.

    Das Buch besteht aus dem Wechselspiel von autobiografischer Darstellung und nacherzählendem oder berichtigendem Kommentar. Der Überlebende und der Forscher liefern jeweils ihre Version. Daraus ergibt sich eine eigene Spannung, ein Duell über das erinnerte und das historisch nachprüfbare Material. Siegfried Jägendorf wird künftig in einem Atemzug mit Raoul Wallenberg und Oskar Schindler genannt werden. Durch sein Buch rückt ein vergessener Roman erneut in die Aufmerksamkeit. In Moghilew war auch der spätere Erzähler Edgar Hilsenrath interniert.

    In seinem Erstlingsroman "Nacht" erzählt er vom Überleben eines Juden Ranek im Ghetto von Moghilew, das im Roman "Prokow" heißt. So kann man diesen dokumentarischen Roman und diesen romanhaft wirkenden Bericht nebeneinanderlegen und beide Perspektiven miteinander vergleichen. Auf Siegfried Jägendorf trifft eine Behauptung des Philosophen Emmanuel Levinas zu:

    Das Leiden hat keinerlei magische Wirkung. Der Gerechte, der leidet, hat nicht wegen seines Leidens wert, sondern wegen seiner Gerechtigkeit, die dem Leiden trotzt.

    Siegfried Jägendorf: Das Wunder von Maghilew
    Mit einem Vorwort von Elie Wiesel
    Hrsg. und kommentiert von Aron-Hirt Manheimer
    aus dem Amerikanischen von Ulrike Döpfer
    (Transit Verlag, Berlin)