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Schreiben gegen das Vergessen

"Ohne Erinnerungen gibt es keine Gegenwart, keine Zukunft und keine Vergangenheit", meint die libanesische Schriftstellerin Alawiyya Sobh. Aus Angst vor dem Vergessen hat sie in dem Roman "Marjams Geschichten" ein halbes Jahrhundert libanesischer Historie aus weiblicher Sicht aufgezeichnet.

Von Larissa Bender | 03.02.2011
    Ein Roman verschwindet. Und kurz darauf auch seine Autorin. Wo ist Alawiyya Sobh, und wo sind all die Geschichten, die Marjam ihr erzählt hat? Alawiyya hatte ihr versprochen, die Geschichten in einem Roman zu veröffentlichen. Und nun ist nicht nur die Autorin fort, sondern auch die Geschichten sind unauffindbar. War alles umsonst? Und sind mit den Geschichten auch die Erinnerungen an sie verschwunden?

    Dies ist die zentrale Frage, die die Protagonistin Marjam aus dem Roman "Marjams Geschichten" von Alawiyya Sobh umtreibt und dazu veranlasst, sich auf die Suche nach der Autorin zu begeben. Bevor Marjam den Libanon verlässt, will sie in Erfahrung bringen, was mit den Geschichten geschehen ist. Denn Marjam hat Alawiyya nicht nur ihre eigene, sondern auch die Geschichten ihrer Freundinnen Ibtisâm und Jasmîn erzählt, ebenso die ihrer Mutter und ihres Vaters, ihrer Tanten und der Nachbarinnen. Und in der Hoffnung, Alawiyya - und mit ihr die verschwundenen Geschichten - wieder zu finden, indem sie den Geruch der Erinnerungen aufspürt, erzählt sie alles ein weiteres Mal.

    Aus diesem verwirrenden Kunstgriff hat die libanesische Schriftstellerin Alawiyya Sobh einen Roman konstruiert, der weit über die traditionelle Romanform hinausgeht und der nach seinem Erscheinen im Jahr 2002 im Libanon durchweg mit Begeisterung aufgenommen wurde. Als moderne Scheherazade bezeichneten die libanesischen Rezensenten die Erzählerin Marjam, aus der die Geschichten wie aus einer unerschöpflichen Quelle sprudeln.

    Es sind die Geschichten dreier Generationen von Frauen, die eine patriarchalische Gesellschaft und einen fünfzehnjährigen Bürgerkrieg erdulden mussten; Frauen, die vergewaltigt und geschlagen wurden, die für die Freiheit kämpften und die Gesellschaft verändern wollten, am Ende jedoch resigniert nur sich selbst veränderten.

    Marjams Freundin Ibtisâm zum Beispiel, die in ihrer Studentenzeit vor dem Krieg Miniröcke trug und sich dem bewaffneten Kampf anschloss. Ihre langjährige Liebesbeziehung zu Karîm, einem linken Aktivisten wie sie, endet gleichwohl tragisch: Karîm, selbst ein Christ, will sie, die Muslimin, nicht zur Frau nehmen; er unterwirft sich dem familiären Zwang und verlässt sie.

    Enttäuscht vom Leben und von der Liebe willigt Ibtisâm schließlich ein, einen Fachmann für Wirtschaft zu heiraten, einen Bankdirektor, der ihr Sicherheit verheißt, ihr aber die Hölle auf Erden bereiten wird.

    Eine andere Freundin Marjams ist Jasmîn. Einst eine Revolutionärin, zieht sich Jasmîn nach Kriegsende ein Kopftuch über, um sich nicht mehr von den anderen Frauen in der Familie zu unterscheiden, wie sie sagt. Statt Marx und Lenin folgt sie nun Imam Khomeini, und auch ihr Mann, der durch den Krieg jede Hoffnung verloren hat, flüchtet sich aus Angst, den Verstand zu verlieren, in den Glauben.

    Einen eigenständigen Roman im Roman stellt die Geschichte von Marjams Familie dar. Ende der fünfziger Jahre vor Hunger und Armut aus dem Süden des Libanon nach Beirut geflohen, arbeitet sie sich im Laufe der Zeit in den städtischen Mittelstand empor. Achtzehn Kinder hat die Mutter im Laufe ihres schweren Lebens geboren, von denen jedoch nur zehn überlebten.

    Die Unterdrückung der Frau und die sich in der libanesischen Gesellschaft fortsetzende Brutalität werden eindrucksvoll und drastisch anhand der Geschichten von Marjams Eltern geschildert. Fâtima, Marjams Mutter, zählt erst elf Jahre, als sie verheiratet wird. Weil sich das kleine Mädchen beharrlich weigert, sich von ihrem Ehemann Hassan entjungfern zu lassen, kettet der sie als Strafe am Fenstergitter an. Die beständige Weigerung der jungen Gattin, die Ehe vollziehen zu lassen, versetzt den verzweifelten Hassan jedoch schließlich in eine solche Wut, dass er das Mädchen mit Gewalt nimmt.

    "Mit dem Bild eines Stiers vor Augen, der vier, fünf Mal kräftig in die Kuh stößt, entjungferte er seine Frau", erzählt Marjam über ihren Vater. Diesen Akt der Vergewaltigung wird die Mutter ihm nie verzeihen und ihn aus Rache bis an sein Lebensende schikanieren.

    Auch Tante Nasîha hat es nicht leicht. Obwohl sie die ganze Familie durch ihre Arbeit als Prostituierte im Ausland finanziell unterstützt, wird sie ob ihrer Tätigkeit von allen verflucht. Marjams Schwester Sumaijja wiederum verliert den Verstand und findet ein grausames Ende. Sumaijja, die sich selbst für den Geschlechtsakt nie vollständig auszog und sich nur die Scham enthaarte, weil ihr Mann an einer weiteren Berührung kein Interesse zeigte, liegt schließlich splitternackt im Zimmer, tot und die Scham mit beiden Händen bedeckt. Umm Jûssuf hingegen vergeht aus Liebe zu ihrem Mann. Zwölf Kinder hat sie ihm geboren, doch ihre tiefe Zuneigung zu ihm kann sie ihm aus Verlegenheit nicht zeigen.

    Für alle Figuren des Romans spielt die Sexualität eine überaus mächtige Rolle und ist verantwortlich für unzählige Niederlagen und Katastrophen, die der Frau und der Gesellschaft widerfahren. Doch auch unter überkommenen religiösen Bräuchen und Ritualen, die der jungen städtischen Generation häufig fremd anmuten, haben die libanesischen Frauen zu leiden.

    In einer freizügigen Sprache, die keine Tabus kennt und die von der Übersetzerin Leila Chammaa genauso direkt und unverschleiert übertragen wurde, erzählt Alawiyya Sobh von Hoffnungen und Sehnsüchten, von sexuellen Wünschen und Perversionen der patriarchalischen, von Bürgerkrieg und Konfessionalismus zerrütteten libanesischen Gesellschaft.

    Die Suche Marjams nach der verschwundenen Autorin zieht sich dabei wie ein roter Faden durch den Roman und endet in einem heillosen Verwirrspiel, bei dem die Grenzen zwischen Realität und Fantasie, zwischen klarem Verstand und Wahnsinn gänzlich verschwimmen und sich dem Leser unzählige Fragen auftun: Gibt es all jene Frauen mit Namen Ibtisâm, Jasmîn und Marjam eigentlich oder stellen sie nur unterschiedliche Aspekte der libanesischen Frau allgemein dar? Oder sind sie in Wirklichkeit allesamt ein Alter Ego der Autorin Alawiyya Sobh, die gleichwohl irgendwann auftaucht und behauptet, vor ihnen geflüchtet zu sein, um den Roman nicht schreiben zu müssen?

    Doch sie hat ihn geschrieben und den libanesischen Frauen damit eine Stimme verliehen. Die Lebenswelten der Frauen darstellen, ihre Erinnerungen in Sprache fassen und damit eine "oral history" des Libanon schreiben, das ist das Anliegen der Autorin Alawiyya Sobh. Es ist ihr grandios gelungen.

    Allerdings verlangt der Roman den Lesern ein gehöriges Maß an Geduld ab. Geschichte reiht sich an Geschichte und wird mitunter bis ins kleinste Detail ausgebreitet und mit immer neuen Rückgriffen erzählt.

    Wer jedoch die Ausdauer aufbringt, den mäandernden Geschichten über 470 Seiten zu folgen, der erhält ein intensives, facettenreiches und detailliertes Gemälde der libanesischen Gesellschaft und ihrer Entwicklung seit Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts.

    Ein wichtiges Buch, ein mutiges Buch, ein Buch, in dem die Autorin gegen das Vergessen anschreibt.

    Besprochen von Larissa Bender

    Alawiyya Sobh: Marjams Geschichten.
    Aus dem Arabischen von Leila Chammaa. Suhrkamp / Insel, 474 Seiten, 34 Euro