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"Schreiben ist wie Bergmannsarbeit"

Werner Bräunigs "Rummelplatz" war ein anspruchsvolles, ein ehrgeiziges Unternehmen. Geplant war ein Entwicklungs- und Gesellschaftsroman, der die Jahre 1949 bis 1959 umfassen sollte. Aber schon der erste Band ist Fragment geblieben, einen zweiten hat es nie gegeben. Bräunig dagegen greift weit aus, erzählt vom Osten, erzählt vom Westen, auch wenn sich alles um die Wismut dreht, das sagenumwobene Bergwerksunternehmen im Erzgebirge: der Wilde Westen weit im Osten.

Von Martin Lüdke | 01.04.2007
    Schon der aller erste Satz zeigt den langen Atem eines großen Erzählers.

    Die Nacht des zwölften zum dreizehnten Oktober schwieg in den deutschen Wäldern; ein müder Wind schlich über die Äcker, schlurfte durch die finsteren Städte des Jahres vier nach Hitler, kroch im Morgengrauen ostwärts über die Elbe, stieg über die Erzgebirgskämme, zupfte an den Transparenten, die schlaff in den Ruinen Magdeburgs hingen, ging behutsam durch die Buchenwälder des Ettersberges hinab zum Standbild der beiden großen Denker und den Häusern der noch größeren Vergesser, kräuselte den Staub der Braunkohlengruben, legte sich einen Augenblick in das riesige Fahnentuch vor der Berliner Universität Unter den Linden, rieselte über die märkischen Sandebenen und verlor sich schließlich in den Niederungen östlich der Oder.

    Am 7. Oktober 1949 war die Deutsche Demokratische Republik gegründet worden. Die provisorische Volkskammer nahm am 12. Oktober die provisorische Verfassung an und bestätigte die erste Regierung der DDR unter dem Ministerpräsidenten Otto Grotewohl. In dieser Nacht beginnt der Roman, der drei Jahre, das heißt Hunderte von Seiten später mit einer Frage enden wird:

    Was bleibt, wenn ein Arbeiter stirbt? Seine Arbeit? Das, was er geschaffen hat?

    Ein anspruchsvolles, ein ehrgeiziges Unternehmen. Geplant war ein Entwicklungs- und Gesellschaftsroman, der die Jahre 1949 bis 1959 umfassen sollte. Aber schon der erste Band ist Fragment geblieben, einen zweiten hat es nie gegeben.

    Ein wuchtiger, mehr noch ein wichtiger Roman, kein fertiger.

    Bräunig und sein "Rummelplatz" stehen in einer Reihe mit den Großen seiner Zeit, mit Böll, Walser, Grass. Er steht ganz nahe bei Uwe Johnson, und, natürlich, bei seinem Kollegen aus Meuselwitz an der sächsisch-thüringischen Grenze, Wolfgang Hilbig, Arbeiter wie er und ebenso sprachmächtig, aber stärker gebunden an die Verhältnisse, die er beschreibt. Bräunig dagegen greift weit aus, erzählt vom Osten, erzählt vom Westen, auch wenn sich alles um die Wismut dreht, das sagenumwobene Bergwerksunternehmen im Erzgebirge: der Wilde Westen weit im Osten.

    Werner Bräunig wurde 1934 in Chemnitz geboren. Sein Vater war Kraftfahrer, die Mutter Näherin. Nach der Schule begann er eine Schlosserlehre, die er abbrach. Er hat als Gelegenheitsarbeiter, auch als Heizer und Schweißer, als Papiermacher und als Bergmann gearbeitet. Er war, als Jugendlicher, in eine Erziehungsanstalt gesteckt worden und hat später sogar im Gefängnis gesessen. 1950 ist er für ein Jahr in den Westen gegangen, dann aber wieder nach Chemnitz zurückgekehrt.

    Von 1958 bis 1961 studierte er am Leipziger Literaturinstitut. Später wurde er dort Dozent. Er kannte die Verhältnisse, über die er schrieb. Kannte sie genau.

    Zum Schreiben war er als sogenannter "Volkskorrespondent" für die "Volksstimme" in Schneeberg, im Vogtland, gekommen. Ein schreibender Arbeiter. Vom Problemkind zum Musterschüler, das war, was sich die Genossen gewünscht hatten. Von Bräunig stammt folgerichtig auch der bekannte Aufruf zur 1. Bitterfelder Konferenz "Greif zur Feder, Kumpel!"

    Seine frühen Erzählungen strahlen, noch in - heute oft schwer verträglicher - Überdosis, solche Zuversicht aus. Er glaubte der Becher-Hymne: "Auferstanden aus Ruinen und der Zukunft zugewandt", glaubte allerdings auch, dass eine bessere Zukunft die Behebung gegenwärtiger Missstände, die Korrektur erkennbarer Fehler voraussetzte.

    Durch seine Person konnte Bräunig beglaubigen, was er in seinem Aufruf formulierte:

    Schreiben ist wie Bergmannsarbeit. Tief in die Stollen des Lebens eindringen muss der Schriftsteller ( ... ) Es ist noch nicht lange her, da ich noch täglich in die Grube einfuhr und mit dem Geigerzähler der Pechblende nachkroch. ( ... ) Aber verwirklicht die Arbeiterklasse nicht die kühnsten Träume der Menschheit? ( ... ) Im sozialistischen Staat werden die schöpferischen Kräfte des Volkes, die unter den Bedingungen der kapitalistischen Ausbeutung verkümmern mussten und von der herrschenden Klasse unterdrückt oder abgelenkt wurden, gepflegt und gefördert. ( ... ) Greif zur Feder, Kumpel! ( ... ) Schöpfe aus der Fülle deiner Umwelt, deines Lebens.

    In diesem Sinne machte er sich selbst an die Arbeit: an das ehrgeizige Unterfangen: ein Panorama der deutschen Nachkriegszeit zu entwerfen. Junge Menschen einer Generation, aber unterschiedlicher Herkunft, in ihrer Entwicklung zu beschreiben. Der Arbeitstitel lautete: "Der eiserne Vorhang" Zunächst auf einen Band angelegt, plante er im Zuge der Arbeit später drei Bände.

    Der Staatsratsvorsitzende und SED-Chef Walter Ulbricht höchstpersönlich sprach seinerzeit, auf dem 11. Plenum des ZK der SED, das Verdammungsurteil. Deshalb ist "Rummelplatz" ein Fragment geblieben. Deshalb hat sich Werner Bräunig zu Tode gesoffen. Am 14. August 1976, gerade mal 42 Jahre alt, ist er in Halle gestorben.

    Sozialismus und Freiheit geht nicht zusammen. Das haben besonders die schmerzlich erfahren müssen, die Freiheit forderten, weil sie den Sozialismus befördern wollten.

    In der Zeitschrift "Neue Deutsche Literatur" (NDL, Nr. 10, 1965) wurde das Kapitel "Rummelplatz" vorabgedruckt. Ein, wie sich sehr bald zeigen sollte, ausgesprochen ungünstiger Zeitpunkt. Christa Wolfs "Geteilter Himmel", Brigitte Reimanns "Geschwister" waren 1963 schon erschienen. Hermann Kants "Aula" und Erik Neutzschs "Spur der Steine" beide 1964, dazu Gedichte von Volker Braun, Sarah Kirsch, Karl Mickel. Nach dem Bau der Mauer, 1961, schien es, als wäre eine offene, kritische Diskussion der gesellschaftlichen Entwicklung, wenn nicht gerade erwünscht, so doch möglich geworden. Bald schon kam es aber zu Flügelkämpfen innerhalb der Partei. Honecker und seinen Leuten waren bereits diese zarten Anfänge offener Diskussion zu viel. Sie befürchteten, dass das Machtmonopol der SED in Frage gestellt werden könnte.

    So zogen sie die Zügel an.

    1965 war nicht mehr zu übersehen, dass Ulbrichts Wirtschaftsreform ins Stocken gekommen war. Sein Kurs wurde in Frage gestellt. Honecker tat alles, um seine Position durchzusetzen. Er initiierte eine Kampagne gegen Künstler wie Biermann, Heym und die subjektivistischen Lyriker, die, das war der Vorwurf, die Jugend verderben, zu antisozialistischen Verhalten anleiten würden.

    In dieser Situation kam der "Rummelplatz" von Werner Bräunig wie gerufen. Pünktlich zum 11. Plenum des ZK erschien Bräunigs Text, prominent platziert, in der "Neuen Deutschen Literatur". Er war zuvor ausführlich angekündigt und bereits mit viel Vorschußlorbeeren versehen worden. Pech für den Autor. Ulbricht wütete:

    Dort werden nun alle Schweinereien geschildert, die möglich sind und damals möglich waren: wie sie saufen, wie sie mit den Frauen umgehen, wie sie sich Krankheiten beschaffen usw. ( ... ) Wir geben uns Mühe (die Jugendlichen; A.D.) zu erziehen. Aber mit solchen Romanen wie 'Rummelplatz' kann man sie nicht erziehen.

    Die damals mutigen Versuche, Autor und Buch zu verteidigen, unter anderem von Anna Seghers und Christa Wolf, halfen nichts Die Reformgegner schossen sich auf Bräunig ein. Sie fanden gute Belege, versoffene Arbeiter, inkompetente Funktionäre, verhurte Frauen und die Russen, und das alles noch in der Wismut. Dieses riesige Uranbergbauunternehmen, unter sowjetischer Leitung, förderte 60 Prozent des sowjetischen Bedarfs an Uran. Bis zu zweihunderttausend Menschen waren dort zeitweise beschäftigt. Die Wismut war, aus vielen Gründen und darum mehrfach, mit Tabus belegt. An dem Arbeiterschriftsteller Werner Bräunig wurde das Exempel statuiert. Er ist daran zugrunde gegangen.

    Sein Roman durfte in der vorliegenden Form natürlich nicht erscheinen. Seine Versuche, ihn umzuarbeiten, scheiterten. Er flüchtete sich in den Alkohol - und starb 1976. Das Manuskript schien verschollen.

    1991, zur großen Verwunderung der Söhne von Werner Bräunig, tauchte in der Ausstellung "Zensur in der DDR" des Literaturhauses Berlin das Manuskript des Romans, das sie endgültig verloren glaubten, wieder auf. 1993 erhielten sie es zurück, seitdem bemühten sie sich um eine Publikation, die erst jetzt, mehr als dreißig Jahre nach Bräunigs Tod, zustande kam. Angela Drescher, die Herausgeberin, Lektorin im Berliner Aufbau Verlag, beschreibt in ihrem umfangreichen Nachwort nicht nur das Schicksal dieses Buches, sondern auch, ebenso spannend und bewegend wie der Roman, die Lebensgeschichte seines Autors.

    Die Debatten im ZK der SED, gesteuerte Leserbriefaktionen, eine breite öffentliche, natürlich stets kontrollierte und reglementierte Diskussion, hatten das Buch, das nie erscheinen durfte, berühmt machte. Jeder Leser der DDR wusste davon. Keiner kannte es. Jetzt - endlich - ist es erschienen.

    Bräunig erzählt von Menschen, die auf eine bessere Gesellschaft hofften und deshalb bereit waren, mit anzupacken, die sich geschunden haben und auch schinden ließen, weil sie an die Zukunft glaubten. Bräunig erzählt von den Schwierigkeiten, mit denen sie sich herumschlugen. Er beschönigt nichts. Schon gar nicht die harten, oft fast unmenschlichen Bedingungen, unter denen die Kumpel damals arbeiten mussten. Er beschreibt, was er sieht, ungeschminkt und schonungslos. Getragen, bis zum Ende, von der Hoffnung, dass nichts so bleibt, wie es ist. Vielleicht glaube er, weil er an die Zukunft seines Staates glauben wollte, auch an die offizielle Version der SED über den Verlauf des 17. Juni 1953. An dem Tag endet, mit dem Tod eines seiner Protagonisten, der "Rummelplatz". Doch schon die Frage, die sich der Erzähler beim Tod des Steigers Hermann Fischer stellt, der in Tumulten der Arbeiter umkommt, die (angeblich) von westlichen Agenten angezettelt worden waren, verweist auch schon auf Resignation:

    Was bleibt, wenn ein Arbeiter stirbt? Seine Arbeit?.

    Bräunig machte sich nichts vor. Und uns, seinen Lesern, auch nicht. Der Roman ist nur scheinbar nach dem Muster eines sozialistischen Entwicklungsromans gebaut. Nicht nur die Mehrzahl seiner gleichberechtigten Helden, vor allem ein gar nicht ins Schema passende Abenteurer, Peter Loose, führt ihn deutlich über den sozialistischen Realismus hinaus, mitten in die soziale Realität hinein.

    Im Oktober 1949 kommen zwei junge Männer bei der Wismut an. Der eine, Peter Loose, ohne abgeschlossene Berufsausbildung, gelockt von der außerordentlich guten Bezahlung, den Privilegien, die die Wismut-Arbeiter genossen, wird. Loose wird nicht nur nebenbei, auf dem Rummelplatz zum Rekordhalter im Schaukeln mit Überschlag.

    Machen wir eine Wette! Eine Flasche Wodka auf ex, dann zwei Mann in einen Kahn, dreißig Umdrehungen, Loose und ich!

    Das Ergebnis, einige Minuten später:

    Heidewitzka rutschte die Stufen herunter auf den Schlackeboden. ( ... )
    Loose brachte einen Eimer und ein schmieriges Handtuch. Heidewitzka lag mit dem Kopf in einer gelblichen Lache, die Augen geschlossen. Hinter den Ohren sickerte Blut. Es roch nach Schnaps und Schweiß und Erbrochenem.


    Als die Genossen Ulbricht und Honecker diese Episode gelesen haben, dürfte es ihnen, das möchte ich voller Schadenfreude behaupten, buchstäblich schwindlig geworden sein. Der andere, Christian Kleinschmidt, ein Professoren-Sohn, bekam trotz eines hervorragenden Abiturs, wegen seiner nicht-proletarischen Herkunft, keinen Studienplatz. Deshalb meldete er sich gezwungenermaßen freiwillig zu dieser Arbeit im Bergbau, um seine Bereitschaft zu beweisen, beim Aufbau des Sozialismus mit anzupacken. Hermann Fischer, ein Steiger, also eine Art Vorarbeiter, nahm die Neuen in Empfang.

    Christian Kleinschmidt dachte: Das ist also die Wismut. Baracken, Dreck, hölzerne Fördertürme, die wenig vertrauenerweckend aussahen, nochmals Dreck und dieses zerknitterte Männlein, das beim Sprechen kaum die Lippen auseinanderbrachte. Das Männlein nuschelte etwas von Einweisung, Essenstalons, Wolldecken und Küchenzeiten. Es stand erhaben wie der Evangelist Markus bei der Bekanntgabe der Abfütterung der fünftausend. Er aber, Christian Kleinschmidt, er pfiff auf Evangelien. Auf das von der guten und ausreichenden Ernährung - bei ausreichender Arbeit, versteht sich - besonders. Er dachte: hier stehst du, Abitur in der Tasche, und diesen Brief, der deine Immatrikulation auf unbestimmte Zeit verschiebt, zum Trost aber immerhin empfiehlt, dich vorläufig einem praktischen Beruf zuzuwenden. Hier stehst du, du kannst nicht anders, Gott hilft dir nicht, amen. Man hatte sich leider einen für diese Zeiten völlig untauglichen Vater ausgesucht.

    Nach der Einweisung geht eine kleine Gruppe von den Neuen hinunter ins Dorf, in eine Kneipe, in der einige ihrer künftigen Kollegen, die von der Nachtschicht gekommen waren, einen Teil ihres gerade erhaltenen Lohnes verspielen und versaufen. Männer unter sich. Nur hinter der Theke, die Bedienung, eine Frau.

    Die drei würfelten immer noch, und sie waren jetzt wirklich sehr betrunken. Der, den sie Emmes nannten, stieß mit dem Ellenbogen ein Bierglas und fluchte und sagte zu dem mit dem tätowierten Handrücken, dass er verdammt noch eins die schnauze voll habe und dass die Wismut der teufel heulen solle und diese gottverfluchte Arbeit und die Russen sowieso und überhaupt, und er brauche jetzt eine Frau.
    Aber außer dem Mädchen Ingrid war niemand in Reichweite. Er rief ihr also etwas zu und sie nahm die Schnapsflasche und ging zu ihm, aber er wollte jetzt keinen Schnaps. Er schlug ihr mit seiner brauenen Pranke auf die Schulter, er betastete sie, und als sie sich von ihm frei zu machen versuchte, lallte er vor sich hin und stieß ihr seinen Schnapsatem ins Gesicht. ( ... )
    Niemand fand etwas dabei. ( ... )
    Als Loose vor dem Mann stand und sagte: 'Laß sie in Ruhe!' - da war er selbst verblüfft. Der Mann ließ tatsächlich die Arme sinken. Es war nur eine kurze, ratlose Bewegung, aber sie genügte dem Mädchen, um hinter die sichere Barriere des Schanktischs zu gelangen; sie genügte auch, um Loose begreifen zu lassen, in was er da hineingeriet.
    Und plötzlich war auch das Interesse der anderen erwacht. Die Gespräche versickerten. Einige standen auf, kamen näher, bildeten einen Halbkreis, der Kellner verschwand mit seinem Biertablett hastig im Hintergrund, das Summen des Ventilators war jetzt sehr laut, und man hörte sogar das Scheppern der Luftbleche. Loose sah, dass auch Christian und der Hilfsplizist aufgestanden waren, aber in sechs, sieben Meter Entfernung stehen blieben. Er dachte: Mist, verdammter. Er wusste, dass es keiner hier mit den dreien aufnehmen würde. Er schwitzte und fühlte den Schweiß an den Handflächen, und dann nahm er die Arme hoch. Es war nicht die erste Schlägerei, und es war auch nicht die erste, bei der er von Anfang an wusste, wer verlieren würde. Angst spürte er kaum - nur diesen Anflug von Schwäche. Aber das ging weg, sobald es losging.


    Dann ging es richtig los. Aber Loose hatte Glück. Eine Streife der russischen Militärpolizei, die auf ihrem Rundgang durch die Kneipen zufällig in dem Moment hereinkommt, unterbricht den bis dahin nur mit Fäusten ausgetragenen Kampf.

    Diese Prügelei ist nicht die letzte, die Bräunig beschreibt. Die Gewalt, unterschwellig stets spürbar, kann jederzeit ausbrechen. Immer ist Alkohol im Spiel.

    Mit seinem Eingreifen, gleich am Ankunftstag, hatte sich Loose bei seinen Kumpels gehörigen Respekt verschafft. Auch bei der Arbeit findet er schnell Anerkennung.

    Der Steiger hatte das schnell herausgefunden. Dieser Loose war ein Bolzer, aber einer mit Verstand in den Händen, und das war selten.
    Und nur manchmal, wenn der Alkohol sein Blut schneller durch die Adern jagte und die Bilder ihn bedrängten in schroffem Wechsel, dann brach etwas auf in ihm, brach hervor aus dem Innersten und gab Ruhe erst dann, wenn er es mit immer schärferen Schnäpsen betäubte ( ... )
    Einst hatte er davon geträumt, ein kühner Forscher und Entdecker zu werden, Heldentaten zu vollbringen, Abenteuer zu bestehen ( ... )
    Aber nicht die Tage der Siege brachen an, sondern die Amis kamen, dann kamen die Russen
    ( ... ) zogen ein auf Panjewagen und in ausgefransten Mänteln, sie passten genau in die Landschaft, wie sie nun war: Hunger, Seuchen, Ruinen, Flüchtlingstrecks. Sanglos, klanglos traten da die Helden ab über Nacht, die Hakenkreuze stahlen sich aus den Fahnen, im Luftschutzkeller versteckte sich der Stiefvater, versteckten sich alle, die gestern noch stramm getönt hatten: links zwo drei vier ( ... ) verkrochen sich vor abgelumpten Muschiks, Ohnetrittmarschierern, winselten um Gnade, schworen ab, verleugneten. Übrig blieb eine Welt ohne Glanz und Schminke, und ohne Hoffnung auch.


    Das Buch, wie gesagt, ist unfertig, aber trotzdem spannend. Die Handlungsstränge, die nach Westdeutschland führen, sind verzichtbar, doch leicht zu verschmerzen. Einige Episoden verunglückt. Na und! Allein die Geschichte der Publikation entschädigt schon für diese Stolpersteine.

    "Rummelplatz" wäre ein großer Roman geworden. Jetzt können wir, zum Glück, immerhin noch eine große Entdeckung feiern.

    Wir tun gut daran, diesen Roman, der in den frühen fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts spielt, und in den sechziger Jahren geschrieben und anschließend verboten wurde, nicht als historisches Dokument abzutun. Zu viele Bezüge verbinden Bräunigs "Rummelplatz" auch heute noch mit unserer Gegenwart. Die Arbeitsbedingungen, die er beschreibt, können wir auch heute noch bzw. wieder finden. Die Gewalt, die er beschreibt, ist heute keineswegs überwunden. Nur die Hoffnung, von der er sich tragen lässt, die ist geschwunden. Eine Alternative zu der Gesellschaft, in der wir leben und an der wir leiden, ist nicht in Sicht.

    Werner Bräunig: Rummelplatz
    Roman. Aufbau Verlag, Berlin 2007
    768 S., 24,90 Euro